Begriff der
"Dienstleistungen im Bereich Beförderung" i.S.d. Fernabsatzrichtlinie (s. §
312b III Nr. 6 BGB): Automietverträge
EuGH, Urt. v.
10.3.2005 - Rs. C-336/03 (easyCar Ltd gegen Office of Fair Trading)
Fundstelle:
noch nicht bekannt
Tenor:
Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 97/7/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den
Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz ist in dem Sinne
auszulegen, dass der Begriff „Verträge über die Erbringung von
Dienstleistungen [im Bereich] Beförderung“ Automietverträge umfasst.
Gründe:
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Artikel 3 Absatz 2
der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai
1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz (ABl.
L 144, S. 19, im Folgenden: Richtlinie).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gesellschaft
easyCar (UK) Ltd (im Folgenden: Gesellschaft easyCar) und dem Office of Fair
Trading (im Folgenden: OFT) über die Bestimmungen und Bedingungen der von der
Gesellschaft easyCar angebotenen und abgeschlossenen Automietverträge.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsregelung
3 Gegenstand der Richtlinie ist nach ihrem Artikel 1 die Harmonisierung der in
den Mitgliedstaaten anwendbaren Vorschriften über Vertragsabschlüsse im
Fernabsatz zwischen Verbrauchern und Lieferern.
4 Nach Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie gelten die Artikel 4, 5 und 6 sowie
Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie nicht für „Verträge über die Erbringung von
Dienstleistungen in den Bereichen Unterbringung, Beförderung, Lieferung von
Speisen und Getränken sowie Freizeitgestaltung, wenn sich der Lieferer bei
Vertragsabschluss verpflichtet, die Dienstleistungen zu einem bestimmten
Zeitpunkt oder innerhalb eines genau angegebenen Zeitraums zu erbringen …“.
5 Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie sieht für Vertragsabschlüsse im Fernabsatz
ein Widerrufsrecht für den Verbraucher vor. Nach Absatz 2 dieses Artikels hat
der Lieferer, wenn das Widerrufsrecht ausgeübt wird, die vom Verbraucher
geleisteten Zahlungen, abzüglich der Kosten der Rücksendung der Waren, kostenlos
zu erstatten.
Nationale Rechtsvorschriften
6 Die Richtlinie wurde durch die Consumer Protection (Distance Selling)
Regulations 2000 (im Folgenden: nationales Gesetz) in die Rechtsordnung des
Vereinigten Königreichs umgesetzt.
7 Die Ausnahme nach Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie wurde durch Regulation 6
Absatz 2 des nationalen Gesetzes umgesetzt.
8 Das Widerrufsrecht nach Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie wurde durch
Regulation 10 des nationalen Gesetzes umgesetzt, und die Erstattungspflicht nach
Artikel 6 Absatz 2 der Richtlinie wurde in Regulation 14 des nationalen Gesetzes
aufgenommen.
9 Nach Regulation 27 des nationalen Gesetzes kann das OFT den Erlass einer
Anordnung gegen jeden beantragen, der seiner Ansicht nach gegen dieses Gesetz
verstößt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
10 Die Gesellschaft easyCar vermietet Autos ohne Fahrer. Sie übt diese Tätigkeit
im Vereinigten Königreich und in mehreren anderen Mitgliedstaaten aus. Die
Kunden dieser Gesellschaft können die zur Vermietung angebotenen Autos nur über
das Internet buchen. Nach den Bestimmungen und Bedingungen des von der
Gesellschaft easyCar angebotenen und abgeschlossenen Automietvertrags kann der
Verbraucher geleistete Zahlungen nicht erstattet erhalten, wenn der Vertrag
aufgelöst wird, außer aufgrund von „von ihm nicht beeinflussbaren
außergewöhnlichen und unvorhersehbaren Ereignissen wie schwerer, zu
Fahruntüchtigkeit führender Erkrankung des Fahrers, von Naturkatastrophen …, von
Handlungen oder Beschränkungen durch Regierungen oder Behörden, Krieg, Aufruhr,
Bürgerkrieg oder terroristischen Handlungen“ oder „[nach dem Ermessen] unseres
Kundendienstleiters bei Vorliegen sonstiger extremer Umstände“.
11 Nach Ansicht des OFT, das mehrere Beschwerden von Verbrauchern über die
Mietverträge erhalten hatte, die diese mit der Gesellschaft easyCar
abgeschlossen hatten, verstoßen die Bestimmungen und Bedingungen dieser Verträge
gegen die Regulations 10 und 14 des nationalen Gesetzes, die zur Umsetzung der
Richtlinie ein Widerrufsrecht und die vollständige Erstattung der vom
Verbraucher geleisteten Zahlungen innerhalb einer bestimmten Frist nach
Vertragsschluss versähen.
12 Die Gesellschaft easyCar trägt vor, dass die von ihr angebotenen Mietverträge
unter die Ausnahme für „Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen [im
Bereich] Beförderung“ nach Regulation 6 Absatz 2 des nationalen Gesetzes und
Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie fielen und dass sie daher nicht den
Anforderungen der Regulations 10 und 14 des genannten Gesetzes unterlägen. Das
OFT dagegen ist der Ansicht, dass die Vermietung von Autos nicht als
„Dienstleistung [im Bereich] Beförderung“ qualifiziert werden könne.
13 Die Gesellschaft easyCar und das OFT erhoben Klagen beim High Court of
Justice (England & Wales), Chancery Division. Die Klage der Gesellschaft easyCar
ist auf die Feststellung gerichtet, dass die von ihr angebotenen Mietverträge
unter eine Ausnahme von dem im nationalen Gesetz vorgesehenen Widerrufsrecht
fallen, während das OFT beantragt, dass gegenüber der Gesellschaft easyCar
angeordnet wird, den in der Weigerung, ihren Kunden das Widerrufsrecht und das
Recht auf die Erstattung der geleisteten Zahlungen zu gewähren, liegenden
Verstoß gegen das nationale Gesetz zu beenden.
14 Unter diesen Umständen hat der High Court of Justice (England & Wales),
Chancery Division, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage
gestellt:
Sind Automietverträge „Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen [im
Bereich] Beförderung“ im Sinne von Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 97/7?
...
Zur Vorlagefrage
18 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass nicht bestritten wird, dass die
zwischen der Gesellschaft easyCar und ihren Kunden geschlossenen Verträge
Vertragsabschlüsse im Fernabsatz im Sinne des nationalen Gesetzes und der
Richtlinie sind und dass es sich um Verträge über die Erbringung von
Dienstleistungen handelt. Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im
Wesentlichen wissen, ob die Autovermietungsdienstleistungen Dienstleistungen im
Bereich Beförderung im Sinne von Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie sind.
19 Nach Ansicht der Gesellschaft easyCar ist diese Frage zu bejahen. Die
spanische und die französische Regierung, die Regierung des Vereinigten
Königreichs sowie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften sind
gegenteiliger Ansicht.
20 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass weder die Richtlinie noch die für
ihre Auslegung maßgebenden Dokumente, wie etwa die vorbereitenden Arbeiten,
Aufschluss über die genaue Bedeutung des in Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie
genannten Begriffes „Dienstleistungen [im Bereich] Beförderung“ geben. Auch die
allgemeine Zielsetzung der Richtlinie lässt nur erkennen, dass sie den
Verbrauchern einen weitreichenden Schutz zukommen lassen soll, indem sie ihnen
bestimmte Rechte, u. a. das Widerrufsrecht, gewährt, und dass dieser Artikel 3
Absatz 2 eine Ausnahme von diesen Rechten in vier nahe beieinander liegenden
Sektoren wirtschaftlicher Tätigkeit vorsieht, darunter den der Dienstleistungen
im Bereich Beförderung.
21 Nach ständiger Rechtsprechung sind Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die
das Gemeinschaftsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem Sinn nach dem
gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem
sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten
Ziele zu bestimmen (Urteile vom 19. Oktober 1995 in der Rechtssache C‑128/94,
Hönig, Slg. 1995, I‑3389, Randnr. 9, und vom 27. Januar 2000 in der Rechtssache
C‑164/98 P, DIR International Film u. a./Kommission, Slg. 2000, I‑447, Randnr.
26). Stehen diese Begriffe wie im Ausgangsverfahren in einer Bestimmung, die
eine Ausnahme von einem allgemeinen Grundsatz oder, spezifischer, von
gemeinschaftsrechtlichen Verbraucherschutzvorschriften darstellt, so sind sie
außerdem eng auszulegen (Urteile vom 18. Januar 2001 in der Rechtssache C‑83/99,
Kommission/Spanien, Slg. 2001, I‑445, Randnr. 19, und vom 13. Dezember 2001 in
der Rechtssache C‑481/99, Heininger, Slg. 2001, I‑9945, Randnr. 31).
22 Zum Ausdruck „Dienstleistungen [im Bereich] Beförderung“ ist festzustellen,
dass er, wie jede der übrigen aufgezählten Dienstleistungskategorien, einer
sektoriellen Ausnahme entspricht und daher allgemein die Dienstleistungen im
Bereich Beförderung bezeichnet.
23 Hierzu ist festzustellen, dass der Gesetzgeber bei der Abfassung der
Vorschriften über die im Ausgangsverfahren betroffene Ausnahme nicht den
Ausdruck „Beförderungsverträge“ gewählt hat, dessen Verwendung in den
Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten üblich ist und der nur die Beförderung von
Passagieren und Waren durch einen Beförderer umfasst, sondern den eindeutig
weiteren Ausdruck der „Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen [im
Bereich] Beförderung“, der die Gesamtheit der Verträge, die Dienstleistungen im
Bereich Beförderung regeln, umfassen kann, einschließlich derjenigen, die eine
Tätigkeit betreffen, die als solche nicht in der Beförderung des Kunden oder
seiner Waren besteht, sondern darauf gerichtet ist, dem Kunden die Durchführung
dieser Beförderung zu ermöglichen.
24 Somit ergibt sich aus dem Wortlaut des Artikels 3 Absatz 2 der Richtlinie,
dass der Gesetzgeber die Ausnahme, die diese Bestimmung vorsieht, nicht nach
Vertragstypen definieren wollte, sondern in der Weise, dass alle Verträge über
die Erbringung von Dienstleistungen in den Bereichen Unterbringung, Beförderung,
Lieferung von Speisen und Getränken sowie Freizeitgestaltung in den
Anwendungsbereich dieser Ausnahme fallen, ausgenommen diejenigen, die nicht zu
einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb eines genau angegebenen Zeitraums zu
erfüllen sind.
25 Diese Auslegung wird durch mehrere Sprachfassungen von Artikel 3 Absatz 2 der
Richtlinie ausdrücklich bekräftigt, nämlich die deutsche, die italienische und
die schwedische Fassung, in denen die Rede ist von „Dienstleistungen in den
Bereichen … Beförderung“, „servizi relativi … ai trasporti“ (Dienstleistungen
betreffend Beförderungen) und „tjänster som avser … transport“
(Dienstleistungen, die Beförderung betreffen).
26 Im gewöhnlichen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff „Beförderung(en)“ nicht
nur die Verbringung von Personen oder Waren von einem Ort zu einem anderen,
sondern auch die Arten des Transports und die für die Verbringung dieser
Personen und Waren eingesetzten Mittel. Dem Verbraucher ein Beförderungsmittel
zur Verfügung zu stellen, gehört demnach zu den Dienstleistungen, die in den
Bereich der Beförderung fallen.
27 Folglich ist, ohne dass damit der in Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie
vorgesehene enge Rahmen der sektoriellen Ausnahme für „Dienstleistungen [im
Bereich] Beförderung“ überschritten wird, festzustellen, dass diese Ausnahme
Autovermietungsdienstleistungen erfasst, die eben dadurch gekennzeichnet sind,
dass dem Verbraucher ein Beförderungsmittel zur Verfügung gestellt wird.
28 Außerdem steht, was den Zusammenhang, in dem der Begriff „Dienstleistungen
[im Bereich] Beförderung“ verwendet wird, und die mit der Richtlinie verfolgten
Ziele angeht, fest, wie die Generalanwältin in den Nummern 39 bis 41 der
Schlussanträge ausgeführt hat, dass der Gesetzgeber einen Schutz der Interessen
der Verbraucher, die Fernkommunikationsmittel verwenden, aber auch einen Schutz
der Interessen der Anbieter bestimmter Dienstleistungen einführen wollte, damit
diesen keine unverhältnismäßigen Nachteile durch die kostenlose und ohne Angabe
von Gründen erfolgende Stornierung von Bestellungen von Dienstleistungen
entstehen. Wie die Gesellschaft easyCar zu Recht ausführt, ohne dass ihr die
Regierungen, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, oder die
Kommission insoweit widersprochen hätten, ist Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie
darauf gerichtet, die Erbringer von Dienstleistungen in bestimmten
Tätigkeitssektoren deshalb auszunehmen, weil die Anforderungen der Richtlinie
diese Lieferer in unverhältnismäßiger Weise belasten könnten, insbesondere in
dem Fall, dass eine Dienstleistung bestellt worden ist und diese Bestellung kurz
vor dem für die Erbringung der Dienstleistung vorgesehenen Zeitpunkt vom
Verbraucher storniert wird.
29 Es ist festzustellen, dass die Autovermietungsunternehmen eine Tätigkeit
ausüben, die der Gesetzgeber durch die in Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie
vorgesehene Ausnahme vor solchen Nachteilen schützen wollte. Denn diese
Unternehmen müssen Vorkehrungen für die Erbringung der vereinbarten Leistung zu
dem bei der Bestellung festgelegten Zeitpunkt treffen und haben aus diesem Grund
im Fall einer Stornierung die gleichen Nachteile wie die anderen Unternehmen,
die im Beförderungssektor oder in den anderen im genannten Artikel 3 Absatz 2
aufgezählten Sektoren tätig sind.
30 Aus alledem ergibt sich, dass nur die Auslegung dahin gehend, dass
Autovermietungsdienstleistungen Dienstleistungen im Bereich Beförderung im Sinne
von Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie sind, sicherstellt, dass die in dieser
Bestimmung vorgesehene Ausnahme den Charakter einer sektoriellen Ausnahme hat,
und die Erreichung des von der genannten Bestimmung verfolgten Zieles erlaubt.
31 Daher ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Artikel 3 Absatz 2 der
Richtlinie in dem Sinne auszulegen ist, dass der Begriff „Verträge über die
Erbringung von Dienstleistungen [im Bereich] Beförderung“ Automietverträge
umfasst. |