Kostentragung bei Klagerücknahme vor
Rechtshängigkeit (§ 269 Abs. 3 S. 3 ZPO)
BGH, Beschluß vom 18. November 2003 - VIII ZB
72/03 -
Fundstelle:
noch nicht bekannt
Amtl. Leitsatz:
Eine Kostenentscheidung nach § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO ist auch dann möglich,
wenn der Kläger wegen des Wegfalls des Klageanlasses die Klage zu einem
Zeitpunkt zurückgenommen hat, in dem die Klage noch nicht zugestellt war,
und wenn die Zustellung auch danach nicht mehr erfolgt ist.
Gründe:
I. Am 22. November 2002 hat der Kläger beim
Amtsgericht eine Räumungsklage gegen den Beklagten eingereicht. Zwei
Versuche, die Klage dem Beklagten unter der angegebenen Anschrift
zuzustellen, blieben erfolglos, da der Beklagte, wie sich erst nachträglich
herausstellte, die Wohnung inzwischen - allerdings ohne Ummeldung beim
Einwohnermeldeamt - geräumt hatte. Nachdem der Kläger hiervon Kenntnis
erlangt hatte, hat er die Klage mit Schriftsatz vom 19. Februar 2003
zurückgenommen und zugleich beantragt, gemäß § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO dem
Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.
Das Amtsgericht hat den Antrag abgelehnt, das Landgericht hat die hiergegen
gerichtete sofortige Beschwerde des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom
Landgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Kläger seinen
erstinstanzlichen Antrag weiter.
II. Das Landgericht ist der Auffassung, eine Klagerücknahme im Sinne des §
269 ZPO liege nur vor, wenn die Klage zuvor durch Zustellung rechtshängig
geworden und ein Prozeßrechtsverhältnis zwischen den Parteien begründet
worden sei. Für die Kostenvorschrift des § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO gelte
nichts anderes. Nach dieser Bestimmung könnten deshalb die Kosten nur dann
dem Beklagten auferlegt werden, wenn die Klage nach Eingang der
Rücknahmeerklärung noch zugestellt worden sei, etwa weil die Zustellung
bereits verfügt gewesen sei. Jedoch komme eine Zustellung allein zu dem
Zweck, die Rechtshängigkeit zu begründen und hierdurch den Anwendungsbereich
des § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO zu eröffnen, nicht in Betracht.
Diese Ausführungen des Landgerichts halten der rechtlichen Prüfung nicht
stand.
1. Die Vorschrift des § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO ist durch das Gesetz zur
Reform des Zivilprozesses vom 27. Juli 2001 (BGBl. I 1887) neu eingeführt
worden. Sie stellt eine Ausnahme von dem - unverändert gebliebenen -
Grundsatz
dar, daß der Kläger, der seine Klage zurückgenommen hat, die Kosten des
Rechtsstreits zu tragen hat, soweit nicht bereits rechtskräftig über sie
erkannt ist oder sie dem Beklagten aus einem anderen Grund aufzuerlegen sind
(§ 269
Abs. 3 Satz 2 ZPO). Diese "Kostenautomatik" galt nach bisheriger Rechtslage
selbst dann, wenn der Beklagte Anlaß zur Erhebung der Klage gegeben hatte,
der Anlaß - etwa durch Leistung des Beklagten - vor Zustellung der Klage
weggefallen war und der Kläger daraufhin die Klage zurückgenommen hatte. In
derartigen Fällen war dem Kläger auch der Weg über eine Erledigungserklärung
mit dem Ziel einer Kostenentscheidung nach § 91a ZPO verschlossen, da diese
Möglichkeit eine Erledigung des Rechtsstreits nach Rechtshängigkeit
voraussetzt. Es blieb ihm deshalb lediglich die Geltendmachung eines
materiellen Kostenerstattungsanspruchs in einem neuen Prozeß.
2. a) Diese unbefriedigende und mit dem Gedanken der Prozeßökonomie nicht zu
vereinbarende Rechtslage hat den Gesetzgeber veranlaßt, durch die Einfügung
des neuen Satzes 3 in § 269 Abs. 3 ZPO dem Gericht einen Weg zu eröffnen,
einem materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruch Rechnung zu tragen,
ohne daß ein neues Verfahren erforderlich wird (vgl. dazu im einzelnen die
Begründung des Regierungsentwurfs zu § 269 Abs. 3 ZPO, BT-Drucks. 14/4722,
S. 80 f). Dieses Ziel würde in all den Fällen verfehlt, in denen der Kläger
von dem Wegfall des Klageanlasses nach Einreichung, aber noch vor Zustellung
der Klage Kenntnis erlangt und daraufhin, wie es das Gesetz verlangt,
unverzüglich die Klage zurücknimmt. Anwendbar bliebe die Vorschrift nur noch
in den Fällen, in denen die Zustellung entweder trotz einer bereits
vorliegenden Rücknahmeerklärung des Klägers oder in der Zeit zwischen dem
"erledigenden" Ereignis und dem Eingang der Rücknahmeerklärung des Klägers
bei Gericht noch bewirkt worden ist. Dieses Ergebnis widerspräche dem Gebot
der Prozeßökonomie, weil - was der Gesetzgeber verhindern wollte - die
klagende Partei auf ein neues Verfahren verwiesen würde, um ihre Kosten
wegen des ursprünglich angestrengten Verfahrens durchsetzen zu können.
b) Auch der Wortlaut der Vorschrift spricht für die Anwendung des § 269 Abs.
3 Satz 3 ZPO auf Fallgestaltungen der vorliegenden Art. Er macht die
Möglichkeit einer Kostenentscheidung nach billigem Ermessen lediglich von
zwei Voraussetzungen abhängig, nämlich dem Wegfall des Anlasses zur Erhebung
der Klage vor Rechtshängigkeit und der anschließenden unverzüglichen
Klagerücknahme. Das Tatbestandsmerkmal "vor Rechtshängigkeit" ist nach
allgemeinem Sprachgebrauch auch dann erfüllt, wenn die Rechtshängigkeit
später nicht mehr eintritt, weil eine Zustellung der Klage unterbleibt; es
verlangt nur, daß die Zustellung im Zeitpunkt des Wegfalls des Klageanlasses
noch nicht erfolgt war. Es ist nichts dafür ersichtlich, daß der Gesetzgeber
die prozeßökonomisch und materiell-rechtlich sinnvolle Kostenentscheidung
darüber hinaus auch von dem - gegenstandslos gewordenen - Eintritt der
Rechtshängigkeit abhängig machen wollte (so aber im Ergebnis Zöller/Greger,
ZPO, 24. Aufl., § 269 Rdnr. 8b).
c) Der systematische Zusammenhang der Norm mit den sonstigen Bestimmungen
des § 269 ZPO steht der hier vertretenen Auffassung nicht entgegen. Es
handelt sich um einen Ausnahmetatbestand (vgl. BT-Drucks. 14/4722 S. 81 li.
Sp. oben) für eine besondere Fallgestaltung, dessen Ziel es ist, eine
materiell gerechte ("billige") Kostenentscheidung ohne einen weiteren, neue
Kosten und zusätzlichen Arbeitsaufwand verursachenden Prozeß zu ermöglichen.
Unter diesen Umständen wäre eine rein dogmatische, allein am Begriff der
Klagerücknahme im streng prozessualen Sinn - nämlich der Rücknahme einer
durch Zustellung "erhobenen" Klage - orientierte Auslegung der Vorschrift
verfehlt (ebenso Lüke in MünchKomm-ZPO, Aktualisierungsband, 2. Aufl., § 269
Rdnr. 4; Musielak/Foerste, ZPO, 3. Aufl., § 269 Rdnr. 13; offen gelassen bei
Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 25. Aufl., § 269 Rdnr. 5; a.A. Zöller/Greger
aaO).
Nach alledem steht der Umstand, daß die Klage vor der Rücknahme dem
Beklagten noch nicht zugestellt war und auch später nicht mehr zugestellt
worden ist, der Anwendung des § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO nicht entgegen.
III. Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers ist daher der angefochtene
Beschluß aufzuheben, und die Sache ist an das Beschwerdegericht
zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Das Landgericht wird nunmehr
über die Kostentragungspflicht unter Berücksichtigung des bisherigen Sach-
und Streitstandes zu entscheiden haben. |