IPR: Kein fakultatives
Kollisionsrecht; Vorrang des europäischen Kollisionsrechts, Qualifikation
sozialversicherungsrechtlicher Haftungsfreistellung; Revisibilität des IPR
(§ 293 ZPO)
BGH, Urteil vom 15. Juli
2008 - VI ZR 105/07
Fundstelle:
NJW 2009, 916
Amtl. Leitsatz:
a) Die Regelungen des
internationalen Privatrechts, wozu auch die einschlägigen Normen des
europäischen Gemeinschaftsrechts sowie die von Deutschland ratifizierten
kollisionsrechtlichen Staatsverträge gehören, beanspruchen allgemeine
Verbindlichkeit, ohne dass es darauf ankäme, ob sich eine der Parteien auf
die Anwendung ausländischen Rechts beruft.
b) Für die Frage der Haftungsbefreiung bei Arbeitsunfällen gelten nach Art.
93 Abs. 2 EWG-VO 1408/71 die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, dessen
Sozialversicherungsträger die Unfallfürsorge zu gewähren haben.
c) Die Vorschriften der EWG-VO 1408/71 lassen grundsätzlich
sozialversicherungsrechtliche Leistungsansprüche unberührt, die nach dem
nationalen Recht eines anderen Mitgliedstaats als demjenigen des
Beschäftigungsstaates bereits begründet sind, dessen Rechtsvorschriften der
Versicherte nach Art. 13 ff. der Verordnung unterliegt.
Zentrale Probleme:
Über die sehr speziellen (aber praktisch wichtigen!)
Fragen des internationalen und europäischen Sozialversicherungsrecht enthält
das Urteil grundsätzliche Aussagen zur Anwendung von Kollisionsrecht, d.h.
die deutliche Absage an ein sog. "fakultatives" Kollisionsrecht: Das IPR ist
von Amts wegen anzuwenden, es ist nicht erforderlich, daß sich die Parteien
darauf berufen.
©sl 2008
Tatbestand:
1 Die Klägerinnen machen auf sie übergegangene Schadensersatzansprüche aus
einem Verkehrsunfall gegen die Beklagten geltend.
2 Am 24. Januar 2003 fuhren der Beklagte zu 1, sein Arbeitskollege P. sowie
drei weitere Personen von ihrem gemeinsamen Arbeitsort in den Niederlanden
zu ihren Wohnorten in Sachsen-Anhalt. Das Fahrzeug hatte der niederländische
Arbeitgeber den Beschäftigten u. a. für die Fahrten zwischen Arbeitsort und
Schlafstätte in den Niederlanden sowie für Wochenendheimfahrten überlassen.
Es war in den Niederlanden zugelassen und bei einem niederländischen
Versicherer haftpflichtversichert. Daneben hat der Beklagte zu 2 die
Pflichten eines Kraftfahrzeughaftpflichtversicherers nach dem AuslPflVersG
übernommen. Der Beklagte zu 1, der das Fahrzeug lenkte, verursachte im
Inland auf der BAB 14 einen Verkehrsunfall, bei dem P. schwer verletzt
wurde.
3 Die Klägerin zu 1 gewährt dem Geschädigten P. seit dem 27. Januar 2004
eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Die Klägerin zu 2 übernahm teilweise die
Kosten einer stationären Rehabilitationsbehandlung, in der sich P. vom 17.
Februar bis zum 2. Oktober 2003 befand. Unter Berufung auf den
Anspruchsübergang nach § 116 SGB X machen die Klägerinnen
Schadensersatzansprüche des P. wegen des Unfalls gegen die Beklagten
geltend. Die Klägerin zu 1 begehrt Ersatz für die von ihr bis zum 31. Juli
2005 erbrachten Rentenleistungen sowie die Feststellung der Ersatzpflicht
hinsichtlich künftiger Leistungen an den Geschädigten. Die Klägerin zu 2
verlangt Ersatz der ihr entstandenen Aufwendungen für
Rehabilitationsmaßnahmen.
4 Die Klage blieb in beiden Vorinstanzen ohne Erfolg. Mit ihrer vom
erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgen die Klägerinnen ihre
Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
5 Das Berufungsgericht verneint die Aktivlegitimation der Klägerinnen. Es
könne offen bleiben, ob Schadensersatzansprüche des Geschädigten P. gegen
die Beklagten entstanden seien, jedenfalls seien etwaige Ansprüche wegen der
Haftungsprivilegierung gemäß §§ 105 Abs. 1 Satz 3, 104 Abs. 1 Satz 2 SGB VII
nicht nach § 116 SGB X auf die Klägerinnen übergegangen. Es handle sich um
einen Arbeitsunfall auf einem Betriebsweg im Sinne von §§ 105 Abs. 1 Satz 1,
8 Abs. 1 SGB VII und nicht um einen Unfall nach § 8 Abs. 2 SGB VII. Die
gemeinsamen Wochenendheimfahrten seien Teil des innerbetrieblichen
Organisa-tions- und Funktionsbereichs, weil das Fahrzeug den Arbeitskollegen
von ihrem Arbeitgeber dauerhaft dafür zur Verfügung gestellt worden sei. Ob
nach deutschen oder niederländischen Rechtsvorschriften
Unfallversicherungsleistungen tatsächlich erbracht würden, sei ebenso
unerheblich wie die Ausgestaltung des Versicherungssystems in den
Niederlanden. Die Haftungsbeschränkungen der §§ 104, 105 SGB VII seien trotz
der Beschäftigung in den Niederlanden im Streitfall anzuwenden, weil sich
deutsche Staatsangehörige sonst daran gehindert sehen könnten, in einem
anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft zu arbeiten, wenn sie befürchten
müssten, in ihrem Heimatstaat infolge des Verlusts des Haftungsprivilegs bei
Ansprüchen aus Arbeitsunfällen weniger geschützt zu sein. Außerdem hätten
die Klägerinnen selbst jeglichen Auslandsbezug des Streitfalls und
insbesondere die Anwendbarkeit der EWG-VO Nr. 1408/71 mit der Begründung
verneint, es handle sich bei dem Geschädigten um einen deutschen
Staatsangehörigen, der Unfall habe sich in Deutschland ereignet und es seien
die Rentenleistungen durch einen deutschen Versicherer auf Grund früherer
Beitragszeiten nach deutschem Recht erbracht worden.
II.
6 Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Das Berufungsgericht durfte Ansprüche der Klägerinnen nicht schon deshalb
verneinen, weil der Beklagte zu 1 nach den Vorschriften der §§ 104 ff. SGB
VII haftungsprivilegiert sei. Ob sozialversicherungsrechtliche
Haftungsfreistellungen zu Gunsten von Arbeitgebern oder Arbeitnehmern
eingreifen, beurteilt sich im Streitfall nach niederländischem Recht.
7 1. Die Revision rügt mit Recht, dass das Berufungsgericht seine Pflicht
nach § 293 ZPO verletzt hat, zur Vorbereitung seiner Entscheidung das
einschlägige niederländische Recht von Amts wegen zu ermitteln (vgl. BGH,
BGHZ 118, 151, 162 ff.; Urteil vom 25. Januar 2005 - XI ZR 78/04 - NJW-RR
2005, 1071, 1072; Zöller/Geimer, ZPO, 26. Aufl., § 293 Rn. 14 ff.).
8 a) Kommt bei der Beurteilung eines Sachverhalts die Anwendung
ausländischen Rechts in Betracht, hat das Gericht von Amts wegen zu prüfen,
ob das deutsche internationale Privatrecht die Anwendung des deutschen oder
des ausländischen Rechts vorschreibt. Die Regelungen des internationalen
Privatrechts, wozu auch die einschlägigen Normen des europäischen
Gemeinschaftsrechts sowie die von Deutschland ratifizierten
kollisionsrechtlichen Staatsverträge gehören, beanspruchen allgemeine
Verbindlichkeit, ohne dass es darauf ankäme, ob sich eine der Parteien auf
die Anwendung ausländischen Rechts beruft (vgl. BGH, Urteile vom 7.
April 1993 - XII ZR 266/91 - NJW 1993, 2305, 2306; vom 6. März 1995 - II ZR
84/94 - NJW 1995, 2097; vom 21. September 1995 - VII ZR 248/94 - NJW 1996,
54; vom 25. September 1997 - II ZR 113/96 -RIW 1998, 318, 319; Zöller/Geimer
aaO, § 293 Rn. 9 ff.). Die richtige Anwendung des deutschen internationalen
Privatrechts ist in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfen (vgl. BGHZ
136, 380, 386 m.w.N.).
9 b) Gegen diese Vorgaben verstößt das Berufungsgericht, indem es die
Anwendbarkeit der §§ 104 ff. SGB VII damit begründet, die Klägerinnen hätten
jeglichen Auslandsbezug des Streitfalls verneint und müssten sich daran auch
im Hinblick auf die Anwendung der §§ 104 ff. SGB VII festhalten lassen. Da
der Beklagte zu 1 und der Geschädigte P. bei demselben Arbeitgeber in den
Niederlanden beschäftigt waren und der Unfall sich auf der Fahrt vom
Arbeitsort in den Niederlanden zum inländischen Wohnort ereignet hat, musste
sich dem Berufungsgericht die Frage der Anwendung niederländischen
Sozialversicherungsrechts aufdrängen. Hingegen konnte der Vortrag der
Klägerinnen, der Fall sei nach deutschem Recht zu beurteilen, das
Berufungsgericht seiner Pflicht zur Prüfung des anzuwendenden Rechts nicht
entheben, zumal die Klägerinnen in der Sache stets vorgetragen haben, dass
im Streitfall die Haftungsbeschränkungen des deutschen
Unfallversicherungsrechts nicht anwendbar seien.
10 2. Die Vorschriften des deutschen Rechts über Haftungsfreistellungen für
Arbeitgeber und von ihnen beschäftigte Arbeitnehmer sind nach den
tatsächlichen Umständen im Streitfall nicht anwendbar. Vielmehr ist gemäß
Art. 93 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaften vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme
der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren
Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, niederländisches
Sozialrecht maßgebend.
11 a) Gemäß Art. 249 Abs. 2 EGV ist die EWG-VO 1408/71 unmittelbar
anzuwendendes Recht und genießt Vorrang vor den entsprechenden nationalen
Vorschriften der Mitgliedstaaten (Senatsurteil vom 7. November 2006 - VI ZR
211/05 - VersR 2007, 64, 65 m.w.N.). Nach Art. 93 Abs. 2 EWG-VO 1408/71 sind
die sozialrechtlichen Vorschriften zur Haftungsfreistellung von Arbeitgebern
und den von ihnen beschäftigten Arbeitnehmern bei Arbeitsunfällen dem
Sozialversicherungsrecht zu entnehmen, das auf den Geschädigten anzuwenden
ist. Nach gefestigter Rechtsmeinung sind sozialrechtliche
Haftungsprivilegien nicht dem materiellen Deliktsrecht zuzuordnen, welches
die EWG-VO 1408/71 unberührt lässt (vgl. EuGH, Urteile vom 2. Juni 1994 -
C-428/92 Slg. 1994, I-2259 Rn. 21 - DAK; vom 21. September 1999 - C-397/96
Slg. 1999, I-5959 Rn. 15 - Kordel), sondern dem Recht der Systeme der
sozialen Sicherheit (Senatsurteil vom 7. November 2006 - VI ZR 211/05 - aaO,
S. 66 m.w.N.). Für die Frage der Haftungsbefreiung bei Arbeitsunfällen
gelten nach Art. 93 Abs. 2 EWG-VO 1408/71 die Rechtsvorschriften des
Mitgliedstaates, nach denen für den Arbeitsunfall Leistungen zu erbringen
sind, dessen Sozialversicherungsträger die Unfallfürsorge also zu gewähren
haben; diese Rechtsvorschriften gelten auch dann, wenn das
zivilrechtliche Haftungsrecht und das Sozialversicherungsrecht für
Arbeitsunfälle dem Recht verschiedener Mitgliedstaaten zu entnehmen sind
(vgl. Senatsurteil vom 7. November 2006 - VI ZR 211/05 -aaO; Palandt/Heldrich,
BGB, 67. Aufl., Art. 3 EGBGB Rn. 12; Eichenhofer, IPRax 2003, 525, 526 f.;
Fuchs/Eichenhofer, Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl., Art. 93 Rn. 7;
Wannagat/Waltermann, Sozialgesetzbuch, Stand: 15. Lieferg. 2007, § 104 SGB
VII Rn. 27; Lauterbach/Raschke, Unfallversicherung, 4. Aufl., Stand: 35.
Lieferg. 2007, § 97 SGB VII Rn. 10.9; Daum, Der Sozialversicherungsregress
nach § 116 SGB X im Internationalen Privatrecht, 1995, S. 37 ff.; Birk, in:
Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht, 2. Aufl., § 20 Rn. 150; Haas, ZZP 108
[1995], 219, 236, 238; Staudinger/Hausmann, BGB, Bearb. 2002, Art. 33 EGBGB
Rn. 92). Für Arbeitnehmer, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates
der Europäischen Gemeinschaft besitzen und für die die EWG-VO 1408/71 nach
Art. 2 Abs. 1 gilt, ist nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 lit. a EWG-VO
1408/71 allein das Sozialrecht des Mitgliedstaats anzuwenden, in dem der
Arbeitnehmer abhängig beschäftigt ist, selbst wenn er in einem anderen
Mitgliedstaat wohnt (vgl. Senatsurteil vom 7. November 2006 - VI ZR 211/05 -
aaO).
12 b) Im Streitfall waren sowohl der Geschädigte P. als auch der Beklagte zu
1 bei einem niederländischen Arbeitgeber in den Niederlanden abhängig
beschäftigt. Folglich ist nach Art. 13 Abs. 2 lit. a EWG-VO 1408/71 das zum
Zeitpunkt des Unfalls geltende niederländische Sozialrecht anzuwenden.
Demzufolge waren die niederländischen Träger nach den Regelungen der EWG-VO
1408/71 für die Leistungsgewährung wegen des Unfallereignisses zuständig,
obwohl sich der Unfall in Deutschland und damit im Gebiet eines anderen
Mitgliedstaates ereignet hat. Nach Art. 93 Abs. 2 EWG-VO 1408/71 ist somit
den für die Erbringung der Unfallfürsorge maßgeblichen Rechtsvorschriften
der Niederlande zu entnehmen, ob im Streitfall eine Haftungsfreistellung für
Arbeitgeber und von ihnen beschäftigte Arbeitnehmer bei Arbeitsunfällen zu
Gunsten des Beklagten zu 1 eingreift.
13 Demnach hat das Berufungsgericht die Haftungsausschlüsse des deutschen
Unfallversicherungsrechts rechtsfehlerhaft angewendet, ohne das hier
maßgebliche Kollisionsrecht, zu dem Art. 93 Abs. 2 EWG-VO 1408/71 gehört, zu
beachten (vgl. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 EGBGB; Palandt/Heldrich aaO, Art. 3
EGBGB Rn. 12). Schon deswegen ist das Berufungsurteil aufzuheben. Die Sache
ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (vgl. § 563 Abs. 1 Satz 1
ZPO). Der erkennende Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden (vgl.
§ 563 Abs. 3 ZPO), da weitere Feststellungen zum Inhalt des anzuwendenden
niederländischen Sozialversicherungsrechts (§ 293 ZPO), den näheren
Umständen der Leistungserbringung durch die Klägerinnen und
erforderlichenfalls zum Unfallhergang zu treffen sind.
14 3. Obwohl nämlich der Geschädigte im Streitfall nach Art. 13 Abs. 2 lit.
a EWG-VO 1408/71 zum Zeitpunkt des Unfalls nur den sozialrechtlichen
Rechtsvorschriften der Niederlande unterlag, kann die für einen
Anspruchsübergang nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X erforderliche Verpflichtung
der Klägerinnen, auf Grund des Schadensereignisses an den Geschädigten P.
Sozialleistungen zu erbringen, nicht schon deswegen verneint werden, weil es
sich bei den Klägerinnen nicht um die zuständigen Sozialleistungsträger im
Sinne der kollisionsrechtlichen Regelungen der EWG-VO 1408/71 handele.
15 a) Den Bestimmungen der EWG-VO 1408/71 kann nicht entnommen werden, dass
die Klägerinnen infolge des anzuwendenden niederländischen
Sozialversicherungsrechts keine Leistungen an den Geschädigten P. auf Grund
des deutschen Sozialversicherungsrechts zu erbringen hätten. Auch regeln die
Vorschriften der EWG-VO 1408/71 den Rückgriff der Sozialversicherungsträger
nicht in der Weise abschließend, dass dadurch Regressmöglichkeiten eines
nach nationalen Vorschriften leistungspflichtigen Trägers, die sich aus dem
nationalen Sozialversicherungsrecht ergeben, das der inländische
Sozialversicherungsträger bei Erbringung seiner Leistungen anwendet, gegen
den haftenden Schädiger ausgeschlossen würden. Dies ergibt sich schon
daraus, dass die Regelungen des europäischen Sozialrechts keine originären
Ansprüche auf die Erbringung von Sozialleistungen gewähren. Die EWG-VO
1408/71 enthält weder anspruchsbegründende Normen noch bestimmt sie einen
europäischen Sozialleistungsträger. Welche Sozialleistungen unter welchen
Voraussetzungen und in welcher Höhe gewährt werden, regeln die nationalen
Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten vielmehr nach wie vor autonom (vgl. etwa
EuGH, Urteile vom 28. April 1994 - C-305/92, Slg. 1994, I-1525 Rn. 13, 16 -
Hoorn; vom 20. September 1994 - C-12/93, Slg. 1994, I-4347 Rn. 26 ff. -
Drake; von der Groeben/Schwarze-Langer, Vertrag über die Europäische Union
und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl., Art. 42 EG
Rn. 10). Ansprüche auf Sozialleistungen und die dafür zuständigen Stellen
bestimmen sich allein nach den jeweiligen Rechtsordnungen der
Mitgliedstaaten, wobei die mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen
Sicherheit durch die EWG-VO 1408/71 koordiniert werden, soweit es deren
Zielsetzung erfordert. Die Ansprüche auf Sozialleistungen sind demnach im
Zusammenspiel des koordinierenden europäischen Sozialrechts mit den
nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten begründet (vgl. etwa EuGH,
Urteile vom 5. Juli 1988 - 21/87, Slg. 1988, 3731 Rn. 23 m.w.N. - Borowitz;
vom 20. Juni 1991 - C-356/89, Slg. 1991, I-3017 Rn. 18 - Stanton Newton; vom
28. November 1991 - C-186/90, Slg. 1991, I-5773 Rn. 14 m.w.N. - Durighello;
vom 7. Juli 1994 - C-146/93, Slg. 1994, I-3229 Rn. 29, 37 f. - McLachlan;
Hanau/Steinmeyer/Wank-Steinmeyer, Handbuch des europäischen Arbeits- und
Sozialrechts, 2002, § 21 Rn. 10; von der Groeben/Schwarze-Langer aaO).
16 b) Auch kann die Anwendung der Regelungen der EWG-VO 1408/71 regelmäßig
nicht zum Verlust von Leistungsansprüchen führen, die nach dem nationalen
Recht eines der Mitgliedstaaten ohne Rückgriff auf die
Gemeinschaftsvorschriften bereits erworben worden sind (vgl. etwa EuGH,
Urteile vom 21. Oktober 1975 - 24/75, Slg. 1975, 1149 Rn. 11 ff. - Petroni;
vom 10. Januar 1980 - 69/79, Slg. 1980, 75 Rn. 11 ff. - Jordens-Vosters; vom
12. Juni 1986 - 302/84, Slg. 1986, 1821 Rn. 22 - Ten Holder; vom 5. Juli
1988 - 21/87, Slg. 1988, 3731 Rn. 24 - Borowitz; vom 28. November 1991 -
C-186/90, Slg. 1991, I-5773 Rn. 15 ff. m.w.N. - Durighello; Fuchs/Schuler,
Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl., Art. 12 Rn. 3; Schulte, EuR 1982, 357,
367; Schuler, EuR 1985, 113, 132; von der Groeben/Schwarze-Langer aaO, Art.
42 EG Rn. 13; Schulte in: von Maydell/Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch,
4. Aufl., § 33 Rn. 38), denn europäisches koordinierendes Sozialrecht soll
grundsätzlich nicht rechtsverkürzend, sondern nur rechtserweiternd wirken
(vgl. Eichenhofer, Sozialrecht, 6. Aufl., § 4 Rn. 94; dens., JZ 1992, 269,
273; Kasseler Kommentar/Seewald, Stand: 57. Erg. Lieferg. 2008, § 6 SGB IV
Rn. 4 h). Somit werden Leistungsverpflichtungen deutscher
Sozialversicherungsträger, die allein nach nationalem Sozialrecht begründet
sind, durch das koordinierende europäische Sozialrecht im Allgemeinen weder
vermindert noch beseitigt. Die Vorschriften der EWG-VO 1408/71 lassen
vielmehr grundsätzlich sozialversicherungsrechtliche Leistungsansprüche
unberührt, die nach dem nationalen Recht eines anderen Mitgliedstaats als
demjenigen des Beschäftigungsstaates bereits begründet sind, dessen
Rechtsvorschriften der Versicherte nach Art. 13 ff. der Verordnung
unterliegt.
17 c) Sie schließen die Anwendung der Rechtsordnung eines anderen
Mitgliedstaates als des Beschäftigungsstaates nur insoweit aus, als der
Betroffene andernfalls verpflichtet wäre, Beiträge an einen
Sozialversicherungsträger zu entrichten, ohne dass dieser ihm für das
gleiche Risiko und den gleichen Zeitraum einen zusätzlichen Vorteil gewähren
würde. Hingegen können Staaten, die nicht Beschäftigungsstaaten sind, dem
Versicherten ebenfalls Leistungsansprüche geben, obwohl diesem nach dem
Recht des Beschäftigungsstaates für dasselbe Risiko und denselben Zeitraum
ein gleichartiger Anspruch zusteht, sofern dies nicht mit einer doppelten
Beitragspflicht verbunden ist (vgl. EuGH, Urteile vom 9. Juni 1964 - 92/63,
Slg. 1964, 611, 629 f. - Nonnenmacher; vom 5. Dezember 1967 - 19/67, Slg.
1967, 461, 473 f. - van der Vecht; vom 5. Mai 1977 - 102/76, Slg. 1977, 815
Rn. 10 ff. - Perenboom; vom 3. Mai 1990 - C-2/89, Slg. 1990, I-1755, Rn. 12
ff. - Kits van Heijningen; Fuchs/Steinmeyer, Europäisches Sozialrecht, 4.
Aufl., Art. 13 Rn. 2; Waldhoff, in: Becker/Schön, Steuer- und Sozialstaat im
europäischen Systemwettbewerb, 2005, S. 193, 202 in Fn. 53; vgl. auch EuGH,
Urteil vom 12. Juni 1986 - 302/84, Slg. 1986, 1821 Rn. 19, 22 - Ten Holder).
Die in Art. 13 ff. EWG-VO 1408/71 bestimmte alleinige Geltung der
Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates soll zwar sicherstellen, dass
der soziale Schutz eines Wanderarbeitnehmers lückenlos ist (vgl. EuGH,
Urteil vom 3. Mai 1990 - C-2/89, Slg. 1990, I-1755, Rn. 12 - Kits van
Heijningen) und insbesondere eine doppelte Beitragsbelastung verhindern
(vgl. EuGH, Urteil vom 5. Mai 1977 - 102/76, Slg. 1977, 815 Rn. 10 ff. -
Perenboom; Fuchs/Steinmeyer aaO, Art. 13 Rn. 4; Devetzi, Die
Kollisionsnormen des Europäischen Sozialrechts, 2000, S. 91), sie schließt
aber nicht generell aus, dass Wanderarbeitnehmern nach den
Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten Ansprüche auf Leistungen
zustehen und folglich mehrere Leistungsträger nebeneinander
leistungsverpflichtet sein können.
18 Für die Gewährung von Leistungen bei Invalidität im Sinne der Art. 37 ff.
EWG-VO 1408/71, für die nach Art. 40 Abs. 1 EWG-VO 1408/71 die Vorschriften
der Art. 44 ff. EWG-VO 1408/71 gelten, wenn der Versicherte auch
Versicherungszeiten nach deutschem Sozialversicherungsrecht zurückgelegt hat
(vgl. Fuchs/Schuler aaO, Art. 39 Rn. 1; Schulte in: von Maydell/Ruland aaO,
D. 32 Rn. 136; Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht, 1999, Rn. 223),
verdeutlichen dies schon die Regelungen der Art. 44 ff. EWG-VO 1408/71. Sie
lassen nicht etwa einen einheitlichen europäischen Rentenanspruch entstehen
oder konzentrieren die Ansprüche des Wanderarbeitnehmers auf einen der
Mitgliedstaaten, sondern sehen vor, dass dieser seine Ansprüche jeweils
gegen die Leistungsträger in den Mitgliedstaaten geltend machen kann, denen
gegenüber er eine Leistungsberechtigung erworben hat (vgl. etwa Haverkate/Huster
aaO, Rn. 220; Schulte in: von Maydell/Ruland aaO, D. 32 Rn. 137 ff.;
Fuchs/Schuler aaO, Art. 46 Rn. 2; Devetzi aaO, S. 98 f.).
19 d) Im Streitfall bewirkt somit die Unterstellung des Geschädigten P.
unter die Rechtsvorschriften der Niederlande als dem nach Art. 13 Abs. 2
lit. a EWG-VO 1408/71 maßgeblichen Beschäftigungsstaat zum Zeitpunkt des
Unfallereignisses zwar, dass der Geschädigte lediglich in den Niederlanden
sozialversi-cherungspflichtig war und eine gleichzeitige
Versicherungspflicht in der deutschen Sozialversicherung nicht bestand.
Schon deshalb ist die Anwendung der §§ 104 ff. SGB VII zu Lasten des
Geschädigten P. ausgeschlossen, da P. zum Zeitpunkt des Unfallereignisses
nicht Versicherter der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung war. Indes
wären etwaige Leistungsansprüche des Geschädigten, die nach deutschem
Rentenversicherungsrecht unabhängig von einer Versicherungspflicht zum
Zeitpunkt des Unfalls bestanden haben könnten, durch die Regelungen des
koordinierenden europäischen Sozialrechts nicht geschmälert worden.
Ansprüche des Geschädigten P. gegen die Klägerinnen nach nationalem Recht
sind jedenfalls nicht auszuschließen, weil das Ende der Versicherungs- und
Beitragspflicht des Geschädigten in der deutschen Rentenversicherung den
Fortbestand eines Versicherungsverhältnisses nicht hindert, sofern dieses
auf Grund einer früheren Versicherungspflicht des Geschädigten in
Deutschland einmal begründet worden war. Insoweit gilt der Grundsatz, dass
früher erworbene Anwartschaften grundsätzlich durch das Ende der
Versicherungs- und Beitragspflicht nicht berührt werden.
20 e) Demnach wird sich das Berufungsgericht mit dem Vortrag der Klägerinnen
zu befassen haben, wonach sich ihre jeweilige Leistungspflicht gegenüber dem
Geschädigten P. aus den Vorschriften des SGB VI ergebe. Dabei wird es
gegebenenfalls eine Bindung an eine unanfechtbare Entscheidung des
Sozialversicherungsträgers nach § 118 SGB X zu beachten haben. § 118 SGB X
greift unabhängig davon ein, ob der Schädiger am Verfahren beteiligt worden
ist (vgl. OLG Hamm, r+s 1999, 418, 419; LPK-SGB X/Breitkreuz, 2. Aufl., §
118 Rn. 1). Fehlt eine entsprechende Entscheidung des
Sozialversicherungsträgers oder des Sozialgerichts, wird das
Berufungsgericht die Aussetzung der Verhandlung gemäß § 148 ZPO bis zu einer
rechtskräftigen Entscheidung des Sozialversicherungsträgers oder des
Sozialgerichts zu prüfen haben (vgl. Kasseler Kommentar/Kater aaO, § 118 SGB
X Rn. 1; Geigel/Plagemann, Der Haftpflichtprozess, 25. Aufl., Kap. 30 Rn.
130; Wannagat/Eichenhofer, Sozialgesetzbuch, Stand: 3. Lieferg. 2001, § 118
SGB X Rn. 2). Sollte eine Leistungspflicht der Klägerinnen bestehen, läge
die für einen Anspruchsübergang auf die Klägerinnen nach § 116 SGB X
erforderliche Verpflichtung zur Erbringung von Sozialleistungen auf Grund
des Schadensereignisses vor, weil sich der Forderungsübergang nach dem Recht
richtet, das für die Erbringung der Sozialleistungen durch die Klägerinnen
zuständig ist. Dies ergibt sich sowohl aus Art. 93 Abs. 1 EWG-VO 1408/71
(vgl. Senatsurteil BGHZ 57, 265, 269; EuGH, Urteile vom 2. Juni 1994 -
C-428/92 Slg. 1994, I-2259 Rn. 16 ff. - DAK; vom 21. September 1999 -
C-397/96 Slg. 1999, I-5959 Rn. 15 ff. - Kordel; Dahm, VersR 2004, 1242 f.;
Fuchs/Eichenhofer aaO, Art. 93 Rn. 4; Staudinger/Hausmann aaO, Art. 33 EGBGB
Rn. 92) als auch aus Art. 33 Abs. 3 Satz 1 EGBGB (vgl. Plagemann in: von
Maydell/Ruland/Becker aaO, § 9 Rn. 20; Wannagat/Eichenhofer aaO, § 116 SGB X
Rn. 72; Münchener Kommentar/Martiny, BGB, 4. Aufl., Art. 33 EGBGB Rn. 35;
Staudinger/Hausmann aaO, Art. 33 EGBGB Rn. 80; Staudinger/von Hoffmann BGB,
Bearb. 2001, Art. 40 EGBGB Rn. 454; von Bar, RabelsZ 53, 462, 479 f.; Wandt,
ZVglRWiss 86, 272, 278).
21 Eine den Anspruchsübergang nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X auslösende
Leistungsverpflichtung könnte sich für die Klägerin zu 1 insbesondere in
Form einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach § 43 SGB VI
ergeben. Für die Klägerin zu 2 käme eine Leistungsverpflichtung aus § 15 SGB
VI in Betracht. Diese würde nicht davon berührt, dass Leistungen der
medizinischen Rehabilitation den Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft
im Sinne der Art. 18 ff. EWG-VO 1408/71 zuzurechnen sind (EuGH, Urteil vom
10. Januar 1980 - 69/79, Slg. 1980, 75 Rn. 6 ff. - Jordens-Vosters; BSG,
SozR 3-2200 § 1241 RVO Nr. 3) und deshalb unter gewissen Voraussetzungen
auch eine Leistungsgewährung durch die Klägerin zu 2 als Träger des Wohnorts
für Rechnung des zuständigen Trägers nach den genannten Vorschriften in
Betracht gekommen wäre. Da dafür vom Berufungsgericht nichts festgestellt
und derzeit auch nichts ersichtlich ist, bedarf jedenfalls gegenwärtig die
Frage keiner Entscheidung, ob in einem solchen Fall Art. 93 Abs. 3 EWG-VO
1408/71 eine nach den nationalen Vorschriften des leistenden Trägers
bestehende Rückgriffsmöglichkeit gegen den haftenden Schädiger ausschließen
und diesen Träger auf die Erstattung der Kosten durch den zuständigen Träger
verweisen würde, solange keine Vereinbarung über den Verzicht auf Erstattung
geschlossen ist (vgl. Börner, ZIAS 1995, 369, 409 f.; Lauterbach/Raschke aaO,
§ 97 SGB VII Rn. 10.9).
III.
22 Ob Schadensersatzansprüche des Geschädigten P. auf die Klägerinnen
übergegangen sind, hängt somit zunächst davon ab, ob nach dem
Sozialversicherungsrecht der Niederlande zu Gunsten des Beklagten zu 1 eine
umfassende sozialrechtliche Haftungsfreistellung und nicht nur eine
Beschränkung der Regressmöglichkeit für Arbeitgeber und von ihnen
beschäftigte Arbeitnehmer eingreift. Das Berufungsgericht wird zur
Vorbereitung seiner Entscheidung darüber in dem von § 293 ZPO
vorgeschriebenen Verfahren (vgl. etwa BGH, BGHZ 118, 151, 162 ff.; Urteil
vom 25. Januar 2005 - XI ZR 78/04 - NJW-RR 2005, 1071, 1072; Zöller/Geimer
aaO, § 293 Rn. 14 ff.) das einschlägige niederländische Recht von Amts wegen
zu ermitteln haben. In diesem Zusammenhang ist insbesondere dem Vortrag der
Klägerinnen nachzugehen, wonach das Sozialversicherungsrecht der Niederlande
weder eine gesetzliche Unfallversicherung (vgl. Pabst, Die BG 2002, 580 ff.)
noch Haftungsfreistellungen kenne, die den §§ 104 ff. SGB VII entsprechen
(vgl. von Hippel, in: Fleming/Hellner/von Hippel, Haftungsersetzung durch
Versicherungsschutz, 1980, S. 40, 45; Stal-fort, Der Schutz von Unfallopfern
durch die Sozialversicherung in Deutschland und in den Niederlanden, Diss.
1993, S. 157, 285; Adelmann, IPRax 2007, 538, 540), sondern in den
Niederlanden die Leistungen, die in der Bundesrepublik Deutschland die
gesetzliche Unfallversicherung erbringt, aus Steuermitteln finanziert
würden.
23 Kommt hiernach eine Haftungsfreistellung nicht in Betracht, ist zu
prüfen, ob auf die Klägerinnen übergegangene zivilrechtliche
Schadensersatzansprüche des Geschädigten P. gegen den Beklagten zu 1
bestehen, für die auch der Beklagte zu 2 einzustehen hat. Das wäre gemäß
Art. 40 Abs. 2 Satz 1 EGBGB nach deutschem Deliktsrecht zu beurteilen,
sofern der Beklagte zu 1 und der Geschädigte P. zum Zeitpunkt des Unfalls
ihren gewöhnlichen Aufenthalt jeweils in Deutschland hatten, wovon auf der
Grundlage der bisherigen tatsächlichen Feststellungen auszugehen ist. |