Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte;
Voraussetzung des Verzugs: Mahnung als geschäftsähnliche Handlung; keine
Mahnung durch vollmachtslosen Dritten; Verhältnis des Verspätungsschadens
(jetzt: §§ 280 I, II, 286 BGB) zur Nebenpflichtverletzung (§§ 280 I, 241 II
BGB)
BGH, Urteil vom 22.
November 2005 - VI ZR 126/04
Fundstelle:
NJW 2006, 687
Amtl. Leitsatz:
a) Ein Arzt kann haften,
wenn es aufgrund der verzögerten Erstellung eines ärztlichen Zeugnisses
nicht zum Abschluss einer Risikolebensversicherung kommt, weil der Patient
inzwischen gestorben ist.
b) Mahnt eine Versicherung an Stelle des Versicherungsnehmers die
Übersendung eines ärztlichen Attestes an, bedarf es einer Bevollmächtigung
durch diesen.
Zentrale Probleme:
Die sehr lehrreiche, noch unter altem Schuldrecht
ergangene Entscheidung hat grundsätzliche Fragen des Allgemeinen Teils und
des allgemeinen Schuldrechts zum Gegenstand. Es geht um die Frage, ob eine
Arzt dem Ehegatten des Patienten auf Schadensersatz haftet, wenn er ein
Gutachten für die Lebensversicherung nicht rechtzeitig absendet, so daß es
wegen des Todes des Patienten nicht mehr zum Abschluß eines Vertrages
(zugunsten des Ehegatten) kommt. Das ist nur dann denkbar, wenn das
Vertragsverhältnis zwischen Patient und Arzt insoweit Schutzwirkung
zugunsten des Ehegatten hat. Darauf kam es hier aber nicht mehr an, da es
sich um einen Verspätungsschaden handelte (jetzt: §§ 280 I, II, 286 BGB) und
die dafür erforderliche Mahnung nicht vorlag: Sie erfolgte nämlich nicht
durch den Ehemann, sondern durch die Versicherung. Hierfür ist der Charakter
der Mahnung als geschäftsähnliche Handlung von Bedeutung: Die Regeln
über die Vertretungsmacht finden entsprechende Anwendung, Vertretung ohne
Vertretungsmacht ist nur im Falle von § 180 S. 2 BGB möglich.
Auf pVV (jetzt: §§ 280 I, 241 II BGB) kann der Anspruch nicht gestützt
werden, weil es sich um einen Verspätungsschaden handelt und sonst das
Verzugserfordernis (jetzt: § 280 II BGB) umgangen würde.
©sl 2006
Tatbestand:
Die Klägerin verlangt vom Beklagten Schadensersatz, weil dieser wegen der
verspäteten Übersendung eines ärztlichen Zeugnisses dafür verantwortlich
sei, dass ein Lebensversicherungsvertrag mit der K. H. AG nicht mehr vor dem
Tod ihres Mannes abgeschlossen werden konnte.
Die Klägerin und ihr Ehemann beabsichtigten Anfang 2001, ein Einfamilienhaus
zu errichten. Zur Absicherung des erforderlichen Kredits verlangte die
finanzierende Bank den Abschluss einer Risikolebensversicherung über 400.000
DM, die der Ehemann der Klägerin am 27. April 2001 bei der K. H. AG
beantragte. Versicherungsbeginn sollte der 1. Mai 2001 sein; die Klägerin
war als Bezugsberechtigte der Versicherungsleistung genannt.
Nachdem die K. H. AG dem Ehemann ein entsprechendes Formular zugesandt
hatte, begab sich dieser am 16. Juli 2001 zu seinem Hausarzt, dem
Streithelfer der Klägerin, der eine Gemeinschaftspraxis mit dem Streithelfer
des Beklagten betreibt. Der Hausarzt übersandte der K. H. AG das mit Datum
16. Juli 2001 ausgefüllte "Ärztliche Zeugnis" und fügte unter "Bemerkungen"
hinzu: "Bei Rückfragen bezüglich der kardialen Befunde bitte an Kardiologen
Dr. L. (Beklagter) in H. wenden." Der Ehemann suchte am 17. Juli 2001 den
Beklagten auf, der ihn untersuchte und unter dem 27. Juli 2001 einen Bericht
an die Streithelfer übersandte.
Mit Schreiben vom 3. August 2001, dessen Zugang der Beklagte bestreitet, bat
der Gesellschaftsarzt der K. Versicherungen den Beklagten unter Hinweis auf
den Lebensversicherungsantrag und eine erfolgte Entbindung von der
Schweigepflicht um Beantwortung "beiliegender Fragen". Unstreitig erhielt
der Beklagte zwei Schreiben der K. H. AG vom 22. August und 13. September
2001, in denen er unter Hinweis auf das erbetene hausärztliche Zeugnis
gebeten wurde, den Bericht so schnell wie möglich zu übersenden, da die
Versicherung ohne das Zeugnis die Risikobeurteilung nicht abschließen
möchte. Der Beklagte fertigte am 20. Oktober 2001 einen ärztlichen Bericht,
der inhaltlich dem bereits an die Streithelfer übermittelten entsprach, und
übersandte ihn an die K. H. AG. Diese unterbreitete daraufhin am 31. Oktober
2001 ein gegenüber dem Normaltarif um einen Risikozuschlag von monatlich 140
DM erhöhtes Angebot. Zu einem Vertragsschluss kam es nicht, weil der Ehemann
am 30. Oktober 2001 verstorben war.
Die Klägerin hat zunächst die K. H. AG in Anspruch genommen. Der
Rechtsstreit endete mit einem Vergleich, in dem sich diese zur Zahlung von
102.000 € verpflichtete. Im vorliegenden Rechtsstreit begehrt die Klägerin
102.516,75 €. Das Landgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben.
Die Berufung des Beklagten blieb ohne Erfolg. Mit seiner vom erkennenden
Senat zugelassenen Revision begehrt er weiter die vollständige Abweisung der
Klage.
Entscheidungsgründe:
I. Das Berufungsgericht ist der
Auffassung, der Klägerin stehe gegen den Beklagten ein Anspruch aus § 286
BGB a.F. zu. Der Beklagte sei mit der Erfüllung einer Nebenpflicht aus dem
Behandlungsvertrag in Verzug geraten. Die Behandlung sei zwar nach der
Untersuchung und Übersendung der Diagnose an den Streithelfer der Klägerin
zunächst abgeschlossen gewesen. Auch nach Beendigung eines
Vertragsverhältnisses könnten sich aber weitere Pflichten aus der
Vertragsbeziehung ergeben. Dies sei hier der Fall gewesen, als die
Versicherungsgesellschaft den Beklagten um ein Gesundheitszeugnis ersucht
habe. Auch wenn durch dieses Ersuchen und die spätere Übersendung durch den
Beklagten ein vertragliches Verhältnis zwischen dem Beklagten und der K. H.
AG, zustande gekommen sei, sei der Beklagte zusätzlich aus dem früheren
Behandlungsvertrag mit dem Ehemann der Klägerin verpflichtet gewesen, das
Zeugnis auszustellen. Die Schreiben der Versicherung vom 22. August und 13.
September 2001 hätten nämlich nicht nur eine im eigenen Namen vorgebrachte
Aufforderung enthalten, sondern gleichzeitig den Wunsch des Verstorbenen
nach einem weiteren Zeugnis über die Untersuchung vom 17. Juli 2001 zum
Ausdruck gebracht. Infolge der gegebenen Dreieckskonstellation zwischen dem
Beklagten, dem Ehemann der Klägerin und der K. H. AG habe das Schreiben vom
13. September 2001 auch eine Mahnung im Interesse und im Namen des Ehemanns
zur Erfüllung der Nebenpflicht aus dem Behandlungsvertrag dargestellt. Daher
habe sich der Beklagte jedenfalls seit dem 20. September 2001 in Verzug
befunden.
Daneben lasse sich eine Haftung aus positiver Vertragsverletzung herleiten.
Der Beklagte habe nämlich die sich aus dem Behandlungsvertrag ergebende
Nebenpflicht verletzt, das Zeugnis in angemessener Zeit zu erstellen.
II. Das Berufungsurteil hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht
stand.
1. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Schadensersatz aus § 286 BGB a.F.
zu, weil der Beklagte nicht mit einer gegenüber ihrem Ehemann bestehenden
Leistungspflicht in Verzug geraten ist.
a) Entgegen der Auffassung der Revision ist allerdings nicht ausgeschlossen,
dass eine Haftung des Arztes besteht, wenn es aufgrund der verzögerten
Erstellung eines ärztlichen Zeugnisses nicht zum Abschluss einer
Lebensversicherung kommt, weil der Patient inzwischen gestorben ist und die
Angehörigen deshalb keine Versicherungsleistungen erhalten (vgl. BGH, Urteil
vom 19. Februar 1981 - IV a ZR 98/80 - VersR 1981, 452, 453; Rieger/Krieger
in Rieger, Lexikon des Arztrechts, 2. Aufl., 2270 Rdn. 12 und 20; Andreas,
ArztR 1998, 209, 216). Zwar meint die Revision, ein Arzt habe nur für solche
Schäden einzustehen, die dadurch entstanden seien, dass das ärztliche
Zeugnis nicht mehr aktuell gewesen sei bzw. den tatsächlichen aktuellen
Gesundheitszustand nicht mehr wiedergegeben habe. Diese Einschränkung
entspricht jedoch nicht der Interessenlage, wenn - wie hier - das Attest zum
Abschluss einer Risikolebensversicherung benötigt wird, die der Absicherung
eines Kredits oder eines anderen konkreten wirtschaftlichen Risikos dient.
In solchen Fällen erscheint es nahe liegend, die wirtschaftlichen
Interessen des Patienten in den Schutzbereich der vertraglichen
Verpflichtung des Arztes einzubeziehen, das ärztliche Zeugnis innerhalb
einer angemessenen Zeit zu erstellen. Eine solche Verpflichtung ergibt
sich aus § 25 der (Muster-) Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und
Ärzte (MBO-Ä 1997/2000). Danach sind Gutachten und Zeugnisse, zu deren
Ausstellung der Arzt verpflichtet ist oder die auszustellen er übernommen
hat, innerhalb einer angemessenen Frist abzugeben. Diese Standespflicht ist
zugleich eine Rechtspflicht (vgl. Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts,
3. Aufl., § 53 Rdn. 2; Rieger/Krieger, aaO, 2270 Rdn. 12). Welche Frist
angemessen ist, kann dabei nicht generell, sondern nur nach den jeweiligen
Umständen des Einzelfalls beantwortet werden (vgl. OVG NRW HeilBGE A 2.7 Nr.
36; VG Köln HeilBGE A 2.7 Nr. 39; Narr, Ärztliches Berufsrecht, 13.
Lieferung, Rdn. B 218).
b) Im Streitfall bedarf dies keiner Entscheidung. Denn der Beklagte hat
seine Vertragspflicht gegenüber dem verstorbenen Ehemann der Klägerin nach
den Feststellungen des Berufungsgerichts, welche die Revision als für sie
günstig hinnimmt, erfüllt, als er den Bericht mit Datum vom 27. Juli 2001,
also 10 Tage nach der Untersuchung des R. M. an den Streithelfer der
Klägerin übermittelte. Ob durch das Ersuchen der K. H. AG vom 22. August
2001 eine weitere oder erneute Vertragspflicht gegenüber R. M. begründet
wurde, ein ärztliches Zeugnis direkt an die K. H. AG zu übersenden, und ob
diese, was die Revision in Abrede stellt, im Zeitpunkt des Zugangs des
Schreibens der K. H. AG vom 13. September 2001 bereits fällig war, kann
dahinstehen. Weiter muss nicht entschieden werden, ob - wie die Revision
meint - das vorgenannte Schreiben bereits inhaltlich nicht den Anforderungen
genügt, die an eine Mahnung zu stellen sind (vgl. etwa BGH, Urteil vom 10.
März 1998 - X ZR 70/96 -NJW 1998, 2132, 2123). Ein Schadensersatzanspruch
der Klägerin aus § 286 BGB a.F. scheitert nämlich bereits daran, dass der
Beklagte jedenfalls nicht mit einer Leistungspflicht gegenüber dem Ehemann
der Klägerin in Verzug geraten ist. Ein solcher Verzug konnte schon
deshalb nicht eintreten, weil das Schreiben vom 13. September 2001, aus dem
das Berufungsgericht die den Verzug begründende Mahnung ableitet, nicht vom
Ehemann der Klägerin, sondern von der Versicherungsgesellschaft stammte.
Um Verzug auszulösen, bedarf es aber grundsätzlich einer Mahnung des
Gläubigers des konkreten Anspruchs.
Zwar handelt es sich bei der Mahnung um eine sogenannte geschäftsähnliche
Handlung, auf die die Vorschriften über Rechtsgeschäfte und
Willenserklärungen, also auch die Bestimmungen über die Stellvertretung
entsprechend anwendbar sind, so dass die Mahnung auch von einem
gesetzlichen oder bevollmächtigten Vertreter ausgehen kann (vgl. OLG
Koblenz, NJW-RR 1992, 1093, 1094; OLG Bremen, FamRZ 1995, 1515; OLG Hamm,
OLGR 1999, 302; MünchKommBGB/Thode, 4. Aufl., 2001, § 284 Rdn. 39;
Staudinger/Löwisch, BGB, Neubearbeitung 2004, § 286 Rdn. 48 m.w.N.). Die
Klägerin zeigt aber keine Umstände auf, aus denen sich eine Bevollmächtigung
der K. H. AG entnehmen ließe, einen dem Ehemann der Klägerin zustehenden
Anspruch gegen den Beklagten durchzusetzen. Eine solche liegt auch nicht in
der Erklärung zur Entbindung von der Schweigepflicht im Versicherungsantrag.
Dabei handelt es sich nämlich nur um eine Ermächtigung des Versicherers,
behandelnde Ärzte - wie den Beklagten - hinsichtlich des
Gesundheitszustandes des Versicherungsnehmers zu befragen. Damit soll ein
eigenes Recht des Versicherers begründet werden, erforderlichenfalls die vom
Versicherten gemachten Angaben durch Nachfrage bei den Ärzten zu überprüfen.
Allein daraus ergibt sich jedoch noch keine Bevollmächtigung zu einer
Mahnung im Namen des Versicherungsnehmers. Denn eine solche Überprüfung
dient allein dem Vertragsinteresse der Versicherung und kann im Einzelfall
sogar den Interessen des Ermächtigenden zuwider laufen.
Auch das Berufungsgericht stellt eine derartige Bevollmächtigung nicht fest,
sondern beschränkt sich darauf, die K. H. AG habe auch im Namen und
Interesse des Ehemanns der Klägerin gehandelt. Da die Schreiben vom 22.
August und vom 13. September 2001 indes keine ausdrückliche Erklärung
enthalten, in dessen Namen zu handeln, ist im Hinblick auf § 164 Abs. 2 BGB
schon zweifelhaft, ob sich aus den Schreiben überhaupt ein Handeln in
fremdem Namen entnehmen lässt. Jedenfalls fehlte es aber an der für eine
wirksame Stellvertretung erforderlichen Vertretungsmacht, so dass die
Mahnung der K. H. AG gemäß § 180 Satz 1 BGB grundsätzlich unwirksam ist
(vgl. OLG Bremen, FamRZ 1995, 1515; OLG Koblenz, NJW-RR 1992, 1093, 1094;
Münch-KommBGB/Schramm, 4. Aufl., 2001, § 180 Rdn. 1; Staudinger/Schilken,
BGB, Neubearbeitung 2004, § 180 Rdn. 12). Selbst wenn man im Hinblick auf
die Ausführungen des Berufungsgerichts aufgrund des Schreibens der
Versicherung vom 13. September 2001 nach §§ 180 S. 2, 177 Abs. 1 BGB von
einer zunächst schwebend unwirksamen Mahnung ausginge, ergibt sich aus den
getroffenen Feststellungen nichts dafür, dass die in diesem Fall
erforderliche Genehmigung der geschäftsähnlichen Handlung entsprechend § 177
BGB erteilt worden wäre (vgl. OLG Bremen, FamRZ 1995, 1515; Soergel/Leptien,
13. Aufl., 1999, § 180 Rdn. 9 und 10; Staudinger/Schilken, BGB,
Neubearbeitung 2004, § 180 Rdn. 4 und 6).
2. Das angefochtene Urteil wird auch nicht von der Hilfsbegründung
getragen, dass der Klägerin jedenfalls ein Anspruch aus positiver
Vertragsverletzung zustehe. Neben den §§ 284 ff. BGB a.F. bleibt für
die Grundsätze der positiven Vertragsverletzung kein Raum, soweit die
schuldhafte Verzögerung der Leistung zu beurteilen ist. Sonst könnten die
Verzugsvoraussetzungen, insbesondere das Erfordernis der Mahnung, umgangen
werden (vgl. BGHZ 11, 80, 83 f. sowie BGH, Urteile vom 19. Oktober 1977
- VIII ZR 42/76 - NJW 1978, 260 und vom 4. Juli 2001 - VIII ZR 279/00 - NJW
2001, 3114; Erman/Hager, BGB, 11. Aufl., § 286 Rdn. 12; MünchKommBGB/Thode,
4. Aufl., 2001, § 284 Rdn. 4; Staudinger/Löwisch, BGB, Neubearbeitung 2001,
Vorb. zu §§ 275-283 Rdn. 28, 36 und zu §§ 284-292 Rdn. 14; § 284 Rdn. 77).
III. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91, 101 ZPO.
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