Existenz und Reichweite von
Verkehrssicherungspflichten
BGH, Urteil vom 15. Februar 2011 - VI
ZR 176/10
Fundstelle:
noch nicht bekannt
Amtl. Leitsatz:
Im Allgemeinen begründen Schussgeräusche einer
Jagd für sich noch keine potentielle Gefahr für Rechtsgüter Dritter.
Zentrale Probleme:
Es geht um die Reichweite von
Verkehrssicherungspflichten und ihre Konkretisierung durch
Unfallverhütungsvorschriften (s. dazu auch
BGH
NJW 2001, 2019 betr. DIN-Normen).
Die Entscheidung steht auf der Basis der bisherigen Rechtsprechung.
Zentraler Satz: "Kommt es in Fällen, in denen hiernach keine Schutzmaßnahmen
getroffen werden mussten, weil eine Gefährdung anderer zwar nicht völlig
ausgeschlossen, aber nur unter besonders eigenartigen und entfernter
liegenden Umständen zu befürchten war, ausnahmsweise doch einmal zu einem
Schaden, so muss der Geschädigte - so hart dies im Einzelfall sein mag - den
Schaden selbst tragen." Die Verkehrssicherungspflichten spielen bei der
deliktischen Haftung zwei unterschiedlichen Rollen: Sie werden herangezogen
bei der Verletzung durch Unterlassen, weil dieses dem Handeln nur
gleichsteht, wenn eine Pflicht zum Handeln bestand. Im Prüfungsaufbau des §
823 BGB sind sie damit bereits bei der Frage eine Handlung des
Schadensersatzverpflichteten zu prüfen. Darauf kam es hier nicht an. Bei
bloß mittelbaren Verletzungshandlungen wird - anders als bei einer
unmittelbaren Verletzung - die Rechtswidrigkeit nicht indiziert (so die
Lehre vom Erfolgsunrecht), sondern muss positiv festgestellt werden (Lehre
vom Handlungsunrecht). Darum geht es hier. Im Klausuraufbau wären die hier
diskutierten Fragen also unter dem Prüfungspunkt "Rechtswidrigkeit" zu
behandeln.
©sl 2011
Tatbestand:
1 Die Klägerin nimmt den Beklagten wegen eines Reitunfalls
auf Zahlung von Schmerzensgeld in Anspruch.
2 Am 15. November 2008 führte der Beklagte als Jagdleiter eine Treibjagd
durch. Die Klägerin und ihre Freundin ritten auf einem Waldweg in der Nähe
des Jagdgebietes. Nachdem sie etwa die Hälfte der geplanten Reitroute
zurückgelegt hatten, hörten sie einen Schuss. Sie entschlossen sich, den
Ausritt fortzusetzen. Kurze Zeit später scheute das Pferd, wodurch die
Klägerin stürzte und sich dabei verletzte. Sie nimmt den Beklagten wegen
Verletzung der Verkehrssicherungspflicht in Anspruch und behauptet, Hinweis-
oder Warnschilder an den Wegen zum Jagdgebiet hätten gefehlt. Ihr Pferd habe
aufgrund eines weiteren Schusses gescheut, der von einem Teilnehmer der
Treibjagd des Beklagten abgegeben worden sei.
3 Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb
erfolglos. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen zur Klärung der
Frage des Umfangs der Verkehrssicherungspflicht eines Verantwortlichen einer
Treibjagd im Zusammenhang mit Schussgeräuschen. Mit der Revision verfolgt
die Klägerin ihr Zahlungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
4 Das Berufungsgericht hat Ansprüche der Klägerin gegen den Beklagten
verneint. Eine Verkehrssicherungspflicht, die dem Zweck diene, andere vor
den von Schussgeräuschen bei einer Treibjagd ausgehenden Gefahren zu
schützen, bestehe nicht. Zwar treffe den Veranstalter einer Treibjagd die
Pflicht, Verkehrsunfälle durch fliehendes Wild beim Überqueren von Straßen
zu vermeiden. Auch müsse der grundsätzlichen Gefahr von Schussverletzungen
dadurch begegnet werden, dass Standort bzw. Laufrichtung der Schützen und
Treiber genau bestimmt und den Jagdteilnehmern die Standorte ihrer Nachbarn
mitgeteilt würden. Hingegen müsse sich ein Geländereiter im Wald selbst
darauf einstellen, dass dort Schussgeräusche möglich und deutlich hörbar
seien und ein Pferd darauf schreckhaft und unberechenbar reagiere. Es liege
in der Sphäre und im Risikobereich des Reiters, ein Pferd, das nicht an
solche waldtypischen Geräusche gewohnt sei, im Gelände zu bewegen. Der
Jagdleiter sei nicht verpflichtet, solche - mittelbaren - Gefahren
auszuschließen.
II.
5 Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält revisionsrechtlicher
Überprüfung stand.
6 1. Erfolglos rügt die Revision, das Berufungsgericht habe überraschend
ohne Beweisaufnahme die Berufung zurückgewiesen, obwohl es Zeugen geladen
und das persönliche Erscheinen der Parteien mit Verfügung vom 17. März 2010
angeordnet habe. Es habe dadurch das rechtliche Gehör der Klägerin verletzt.
Nach der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, auf die die Klägerin im
Rahmen der Erörterung der Sach- und Rechtslage hingewiesen worden ist, war
die Aussage der Zeugen für die Entscheidung nicht erheblich und mithin eine
Beweisaufnahme nicht erforderlich. Mit Recht weist die Revisionserwiderung
darauf hin, dass ein Überraschungsurteil des Berufungsgerichts schon deshalb
nicht gegeben sei, weil bereits das Amtsgericht eine
Verkehrssicherungspflicht des Beklagten verneint hatte.
7 2. Das Berufungsgericht hat im Streitfall eine Verkehrssicherungspflicht
als Grundlage der Haftung des Beklagten mit Recht verneint.
8 a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist derjenige,
der eine Gefahrenlage - gleich welcher Art - schafft, grundsätzlich
verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um
eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern (vgl. etwa Senat,
Urteile vom 4. Dezember 2001 - VI ZR 447/00, VersR 2002, 247, 248; vom 15.
Juli 2003 - VI ZR 155/02, VersR 2003, 1319; vom 5. Oktober 2004 - VI ZR
294/03, VersR 2005, 279, 280; vom 8. November 2005 - VI ZR 332/04, VersR
2006, 233, 234; vom 6. Februar 2007 - VI ZR 274/05, VersR 2007, 659 Rn. 14
und vom 2. März 2010 - VI ZR 223/09, VersR 2010, 544 Rn. 5 ff.; vgl. auch
BGH, Urteil vom 25. Februar 1993 - III ZR 9/92, BGHZ 121, 367, 375 und
Urteil vom 13. Juni 1996 - III ZR 40/95, VersR 1997, 109, 111). Die
rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein
umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch
für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren.
9 Zu berücksichtigen ist jedoch, dass nicht jeder abstrakten Gefahr
vorbeugend begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu
gefährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung
ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar.
Haftungsbegründend wird eine Gefahr daher erst dann, wenn sich für ein
sachkundiges Urteil die nahe liegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter
anderer verletzt werden (vgl. Senatsurteil vom 6. Februar 2007 - VI ZR
274/05, aaO Rn. 15 mwN). Deshalb muss nicht für alle denkbaren
Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind
vielmehr nur die Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung
anderer tunlichst abzuwenden (vgl. Senat, Urteile vom 10. Oktober 1978 -
VI ZR 98/77 und - VI ZR 99/77, VersR 1978, 1163, 1165; vom 15. Juli 2003 -
VI ZR 155/02, aaO und vom 8. November 2005 - VI ZR 332/04, aaO). Der im
Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige
Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich
herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält (vgl. Senat,
Urteile vom 15. Juli 2003 - VI ZR 155/02, aaO und vom 8. November 2005 - VI
ZR 332/04, aaO). Daher reicht es anerkanntermaßen aus, diejenigen
Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger,
vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise -
hier: der Jagdveranstalter und -leiter - für ausreichend halten darf, um
andere Personen - hier: Jagdbeteiligte, Reiter, Spaziergänger und Teilnehmer
am allgemeinen Straßenverkehr - vor Schäden zu bewahren, und die den
Umständen nach zuzumuten sind (vgl. Senat, Urteil vom 6. Februar 2007 -
VI ZR 274/05, aaO, Rn. 15 mwN).
10 Kommt es in Fällen, in denen hiernach keine Schutzmaßnahmen getroffen
werden mussten, weil eine Gefährdung anderer zwar nicht völlig
ausgeschlossen, aber nur unter besonders eigenartigen und entfernter
liegenden Umständen zu befürchten war, ausnahmsweise doch einmal zu einem
Schaden, so muss der Geschädigte - so hart dies im Einzelfall sein mag - den
Schaden selbst tragen (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa Senat, Urteil
vom 6. Februar 2007 - VI ZR 274/05, aaO, Rn. 16). So liegt der Fall hier.
11 b) Der Beklagte war nicht verpflichtet, die Klägerin vor den
unkontrollierbaren Reaktionen des Pferdes auf ein Schussgeräusch zu
schützen.
12 aa) Dass der Beklagte berechtigt war, die Treibjagd zu veranstalten, wird
auch von der Klägerin nicht in Zweifel gezogen. Die bei der Treibjagd zu
beachtenden Sorgfaltspflichten konkretisieren u.a. die
Unfallverhütungsvorschriften Jagd (UVV Jagd). Zutreffend sieht das
Berufungsgericht den Regelungsgehalt der UVV Jagd darin, dass der
Veranstalter einer Treibjagd zu vermeiden hat, dass es zu Verkehrsunfällen
durch fliehendes Wild beim Überqueren von Straßen kommt sowie dass
Jagdteilnehmer und dritte Personen durch Schüsse verletzt werden.
Insoweit präzisieren die Unfallverhütungsvorschriften das jagdgerechte
Verhalten (vgl. MünchKomm/Wagner, BGB, 5. Aufl., § 823 Rn. 557, 558;
Staudinger/J. Hager (2009), BGB, § 823 Rn. E 367, 368 und E 372). Sie regeln
dazu jagdliche Verhaltenspflichten, die dem Schutz von Leben und Gesundheit
dienen und sind auch außerhalb ihres unmittelbaren Geltungsbereiches Maßstab
für verkehrsgerechtes Verhalten.
13 bb) Eine allgemeine Verkehrssicherungspflicht des Beklagten, sich in der
Nähe des Jagdgebiets aufhaltende Reiter vor Schussgeräuschen, auf die deren
Pferde schreckhaft reagieren, zu schützen, ergibt sich daraus nicht. Zwar
darf nach der Regelung in § 3 Abs. 4 UVV Jagd ein Schuss erst abgegeben
werden, wenn sich der Schütze vergewissert hat, dass niemand gefährdet wird.
Die Durchführungsanweisung zu dieser Regelung konkretisiert aber den Begriff
der Gefährdung dahingehend, dass eine solche z.B. dann gegeben ist, "wenn
Personen durch Geschosse oder Geschossteile verletzt werden können, die an
Steinen, gefrorenem Boden, Ästen, Wasserflächen oder am Wildkörper abprallen
oder beim Durchschlagen des Wildkörpers abgelenkt werden oder beim Schießen
mit Einzelgeschossen kein ausreichender Kugelfang vorhanden ist". Die
Vorschrift will mithin erkennbaren Risiken für Rechtsgüter Dritter durch die
direkte Schusseinwirkung vorbeugen. Ihr Zweck ist nicht, Dritte schon vor
dem Geräusch eines Schusses zu schützen.
14 cc) Allerdings enthalten Unfallverhütungsvorschriften ebenso wie
DIN-Normen im Allgemeinen keine abschließenden Verhaltensanforderungen
(vgl. Senat, Urteil vom 15. Juli 2003 - VI ZR 155/02, aaO, 1319 f., mwN).
Gebietet die Verkehrssicherungspflicht den Schutz vor anderen Gefahren als
denen, die Gegenstand der Unfallverhütungsvorschrift sind, so kann sich der
Verkehrssicherungspflichtige nicht darauf berufen, in Ansehung dieser
Gefahren seiner Verkehrssicherungspflicht dadurch genügt zu haben, dass er
die Unfallverhütungsvorschrift eingehalten hat. Vielmehr hat er die insoweit
zur Schadensabwehr erforderlichen Maßnahmen eigenverantwortlich zu treffen
(vgl. Senatsurteile vom 30. April 1985 - VI ZR 162/83, VersR 1985, 781
und vom 12. November 1996 - VI ZR 270/95, VersR 1997, 249, 250 jeweils mwN).
15 Besondere Maßnahmen zur Warnung vor Schussgeräuschen mussten danach vom
Beklagten nicht getroffen werden. Im Allgemeinen begründen Schussgeräusche
für sich keine potentielle Gefahr für Rechtsgüter Dritter. Es handelt sich
um Lärmbeeinträchtigungen, mit denen allgemein in Waldgebieten gerechnet
wird und die hinzunehmen sind. Die Warnpflicht vor solchen Geräuschen, die
individuell sehr unterschiedlich aufgenommen werden, wäre mit einem
vernünftigen praktischen Aufwand auch nicht erfüllbar. Die Wirkung von
Schussgeräuschen auf Menschen und Tiere ist von vornherein kaum abschätzbar.
Sie ist jedenfalls nur unter besonders eigenartigen und entfernter liegenden
Umständen schadensträchtig, so wenn etwa der Schuss in unmittelbarer Nähe
des Reiters abgegeben wird. Ein solcher Fall liegt dem von der Klägerin in
Bezug genommenen Urteil des Oberlandesgerichts Saarbrücken vom 30. März 1990
(4 U 63/89) zugrunde.
16 Hingegen ist im Streitfall nicht festgestellt, dass der Schuss in
unmittelbarer Nähe der Klägerin abgegeben worden sei. Dies wird von der
Klägerin auch nicht behauptet. Nach ihrem eigenen Vortrag stürzte sie,
nachdem sie nach dem ersten Schuss weiter geritten war und ihr Pferd
aufgrund des zweiten Schussgeräusches scheute. Zum Unfall kam es, weil die
Klägerin das Pferd nicht beherrschte. |