Mitverschulden (§ 254 BGB): Voraussetzungen einer
Anspruchsreduzierung "auf Null"
BGH, Urteil vom 28. April 2015 - VI
ZR 206/14 - KG Berlin
Fundstelle:
noch nicht bekannt
Amtl. Leitsatz:
a) Eine vollständige Überbürdung des Schadens auf
den Geschädigten unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens ist nur
ausnahmsweise in Betracht zu ziehen.
b) Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer
Schadensverursachung haben bei der Abwägung der Verursachungs- und
Verschuldensanteile außer Betracht zu bleiben.
Zentrale Probleme:
Die Entscheidung zu § 254 BGB stellt klar, dass eine
Anspruchsreduzierung "auf Null" wegen Mitverschuldens zwar möglich ist, aber
nur in Ausnahmefällen angenommen werden kann.
©sl 2015
Tatbestand:
1 Der Kläger, ein niedergelassener
Zahnarzt, begehrt Ersatz materiellen und immateriellen Schadens aus einem
Unfall, der sich am 9. März 2009 in einem Skiort in Österreich ereignete.
2 Am Unfalltag gegen 14.00 Uhr querte der Kläger auf seinen Skiern vom
Skilift kommend die Zufahrt zur Jugendherberge "G. Alm", auf der Schüler mit
ihrem Sportlehrer, dem Beklagten, standen. Als der Kläger sich an der Gruppe
vorbeischieben wollte, trat der Beklagte, der einen ihm aus der Gruppe
zugeworfenen Gegenstand fangen wollte, nach hinten. Er warf den
Kläger um und fiel auf ihn. Der Kläger erlitt u.a. einen
Oberschenkelhalsbruch. Die Haftpflichtversicherung des Beklagten zahlte
vorgerichtlich auf den materiellen Schaden des Klägers 14.000 € und auf den
Schmerzensgeldanspruch 7.000 €. Mit der Klage begehrt der Kläger weiteren
materiellen und immateriellen Schadensersatz, die Erstattung
vorgerichtlicher Anwaltskosten und die Feststellung, dass der Beklagte
verpflichtet ist, ihm alle künftigen materiellen und immateriellen Schäden,
die auf dem Unfallereignis vom 9. März 2009 beruhen, zu ersetzen, soweit die
Ansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind.
3 Das Landgericht hat ein Verschulden des Beklagten verneint und die Klage
abgewiesen. Das Kammergericht hat die Berufung des Klägers durch
einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Mit der vom
erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren in
vollem Umfang weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
4 Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dem Beklagten sei zwar vorzuwerfen,
dass er auf einer öffentlichen Straße rückwärts getreten sei, ohne sich zu
vergewissern, dass der Weg hinter ihm frei sei. Jedoch entfalle die Haftung
wegen eines überwiegenden Mitverschuldens des Klägers an dem Unfall. Die
Beweisaufnahme habe ergeben, dass der Beklagte nur einen oder zwei Schritte
rückwärts gegangen sei. Dass der Beklagte rückwärts "gerannt" sei, habe der
Kläger nicht bewiesen. Ein Passant, der eine spielende Gruppe sehe, müsse
mit einer einfachen Rückwärtsbewegung einer Person rechnen und darauf
reagieren. Dass der Kläger sich schwer verletzt habe, sei allein auf das
Sturzgeschehen in festen Alpin-Skiern zurückzuführen, weil durch die starren
langen Skiblätter andere Schwerkräfte auf den Stürzenden einwirkten als auf
einen normalen Fußgänger. Mit starren Skiern sei die Ausweichfähigkeit
eingeschränkt. Der Skifahrer müsse deshalb Personen, die erkennbar mit dem
Rücken zu ihm stünden, verbal auf sich aufmerksam machen oder diese
weiträumig umfahren. Jedenfalls dürfe er sich nicht - wie der Kläger -
zwischen einem Bus und einer Menschengruppe "durchzwängen". Der
Mitverursachungs- und Mitverschuldensbeitrag des Klägers überwiege den
Verschuldens- und Verursachungsanteil des Beklagten angesichts der aufgrund
der Beweisaufnahme erwiesenen leicht fahrlässigen Rückwärtsbewegung des
Beklagten auf einer Straße, die nur (langsamen) Anliegerverkehr erwarten
lasse, in einem Maße, dass eine Haftung des Beklagten (jedenfalls über die
bereits geleistete Summe hinaus) ausgeschlossen sei.
II.
5 Die Revision hat Erfolg.
6 1. Der angefochtene Beschluss kann schon deshalb keinen Bestand haben,
weil die vom Berufungsgericht gegebene Begründung nicht die Zurückweisung
der Berufung gegen die Abweisung des Feststellungsantrags und des Antrags
auf Ersatz der vorgerichtlichen Kosten des Klägers trägt. Darauf weist die
Revision mit Recht hin.
7 a) Nach der Beurteilung des Berufungsgerichts ist eine Haftung des
Beklagten "(jedenfalls über die bereits geleistete Summe hinaus)" wegen
eines überwiegenden Mitverschuldens des Klägers ausgeschlossen. Das
Berufungsgericht hält demnach eine Haftung dem Grunde nach für gegeben, die
Ansprüche gegen den Beklagten aber aufgrund der vorgerichtlichen Zahlungen
für erfüllt. Ob und gegebenenfalls inwieweit die bereits erbrachten
Zahlungen des Haftpflichtversicherers des Beklagten die Ansprüche auf Ersatz
künftiger Schäden ausgeglichen haben, kann nur beurteilt werden, wenn die
Haftungsquote des Beklagten für die Schäden des Klägers festgestellt ist.
8 b) Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts durfte außerdem nicht
zurückgewiesen werden, weil nach Auffassung des Berufungsgerichts das
Begehren des Klägers zumindest in Höhe der vorprozessualen Zahlung des
Haftpflichtversicherers des Beklagten teilweise begründet gewesen ist,
das Landgericht den Anspruch des Klägers auf Erstattung der
vorgerichtlichen Kosten aber insgesamt abgewiesen hat.
9 2. Auf der Grundlage der vom Landgericht getroffenen
Feststellungen lässt sich die Haftung des Beklagten nicht wegen eines
überwiegenden Mitverursachungs- und Mitverschuldensbeitrages des Klägers
verneinen. Dies rügt die Revision mit Recht (§ 286 ZPO).
10 a) Die Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 BGB
ist allerdings grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren
nur darauf zu überprüfen, ob dieser alle in Betracht kommenden Umstände
vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige
Erwägungen zugrunde gelegt hat (vgl. Senatsurteile vom 12. Juli 1988 - VI ZR
283/87, VersR 1988, 1238, 1239; vom 5. März 2002 - VI ZR 398/00, VersR 2002,
613, 615 f.; vom 25. März 2003 - VI ZR 161/02, VersR 2003, 783, 785 f.; vom
28. Februar 2012 - VI ZR 10/11, VersR 2012, 772 Rn. 6 und vom 17. Juni 2014
- VI ZR 281/13, VersR 2014, 974 Rn. 6 jeweils mwN; BGH, Urteile vom 20. Juli
1999 - X ZR 139/96, NJW 2000, 217, 219 und vom 14. September 1999 - X ZR
89/97, NJW 2000, 280, 281 f.). Es darf nur schuldhaftes Verhalten
verwertet werden, von dem feststeht, dass es zu dem Schaden oder zu dem
Schadensumfang beigetragen hat (Senatsurteil vom 24. September 2013
- VI ZR 255/12, VersR 2014, 80 Rn. 7). Nach der ständigen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist außerdem in erster Linie das Maß
der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung
beigetragen haben (vgl. etwa Senatsurteil vom 20. September 2011 -
VI ZR 282/10, VersR 2011, 1540 Rn. 14 mwN). Die unter diesem
Gesichtspunkt vorzunehmende Abwägung kann zwar bei besonderen
Fallgestaltungen zu dem Ergebnis führen, dass einer der Beteiligten allein
für den Schaden aufkommen muss (vgl. Senatsurteil vom 20. Januar
1998 - VI ZR 59/97, VersR 1998, 474, 475), eine vollständige
Überbürdung des Schadens auf einen der Beteiligten ist aber unter dem
Gesichtspunkt der Mitverursachung nur ausnahmsweise in Betracht zu ziehen
(Senatsurteile vom 21. Februar 1995 - VI ZR 19/94, VersR 1995, 583,
584; vom 7. Februar 2006 - VI ZR 20/05, VersR 2006, 663 und vom 4. November
2008 - VI ZR 171/07, VersR 2009, 234 Rn. 15). Diesen Grundsätzen wird die
Entscheidung des Berufungsgerichts nicht gerecht.
11 b) Im Ansatz hat das Berufungsgericht das Verhalten des Beklagten
zutreffend als schuldhaft beurteilt. Der Beklagte durfte sich nicht auf
öffentlichem Straßengrund unaufmerksam rückwärts bewegen, ohne dort
anwesende andere Verkehrsteilnehmer zu beachten. Durch dieses Verhalten hat
er den in § 1 Abs. 2 StVO enthaltenen allgemein geltenden Grundsatz
verletzt, wonach sich jeder Verkehrsteilnehmer so zu verhalten hat, dass
kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen
unvermeidbar behindert oder belästigt wird. Da der Ursachenzusammenhang
zwischen dem Sturz des Klägers und dem unachtsamen Zurücktreten des
Beklagten nicht in Frage steht, hat der Beklagte grundsätzlich für die
Folgen seiner Unachtsamkeit einzustehen.
12 c) Das Berufungsgericht hat das Maß der Sorgfalt des Geschädigten gegen
sich selbst überspannt und dem Kläger angelastet, dass er auf Skiern an der
Gruppe vorbeifahren wollte und dabei den Beklagten nicht hinreichend
beachtete, der von ihm abgewandt, unaufmerksam und abgelenkt war.
13 Der Vorschrift des § 254 BGB liegt der allgemeine Rechtsgedanke
zugrunde, dass der Geschädigte für jeden Schaden mitverantwortlich ist, bei
dessen Entstehung er in zurechenbarer Weise mitgewirkt hat (vgl.
BGH, Urteil vom 18. April 1997 - V ZR 28/96, BGHZ 135, 235, 240 mwN).
§ 254 BGB ist eine Ausprägung des in § 242 BGB festgelegten
Grundsatzes von Treu und Glauben (Senatsurteile vom 14. März 1961 -
VI ZR 189/59, BGHZ 34, 355, 363 f. und vom 22. September 1981 - VI ZR
144/79, VersR 1981, 1178, 1179 mwN). Die vom Gesetz vorgesehene
Möglichkeit der Minderung des Anspruchs des Geschädigten beruht auf der
Überlegung, dass jemand, der diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die nach
Lage der Sache erforderlich erscheint, um sich selbst vor Schaden zu
bewahren, auch den Verlust oder die Kürzung seiner Ansprüche hinnehmen muss
(vgl. Senatsurteil vom 29. April 1953 - VI ZR 63/52, BGHZ 9, 316,
318 f.), weil es im Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem
unbillig erscheint, dass jemand für den von ihm erlittenen Schaden trotz
eigener Mitverantwortung vollen Ersatz fordert (vgl. Senatsurteile
vom 14. März 1961 - VI ZR 189/59, aaO, und vom 22. September 1981 - VI ZR
144/79, aaO; BGH, Urteil vom 14. Mai 1998 - I ZR 95/96, VersR 1998, 1443,
1445).
14 Um dem Beklagten ausweichen oder diesen warnen zu können, hätte der
Kläger die ihm drohende Gefahr rechtzeitig erkennen können müssen. Hierzu
ist bisher nichts festgestellt. Aus diesem Grund kann dem Kläger nicht
vorgeworfen werden, dass er nicht durch Zuruf auf sich aufmerksam gemacht
hat. Für die Abwägung der Verursachungsanteile im Rahmen des § 254 Abs. 1
BGB ist außerdem nur Verhalten maßgebend, das sich erwiesenermaßen als
Gefahrenmoment in dem Unfall ursächlich niedergeschlagen hat (vgl.
Senatsurteil vom 10. Januar 1995 - VI ZR 247/94, VersR 1995, 357, 358). Das
Berufungsgericht hätte danach klären müssen, ob der Beklagte, der
seinerseits durch die Gruppe abgelenkt war, auf einen Zuruf rechtzeitig
reagiert hätte.
15 d) Ohne Rückhalt in den tatsächlichen Feststellungen hat das
Berufungsgericht außerdem angenommen, der Kläger habe sich zwischen Bus und
Menschengruppe "durchgezwängt", anstatt die Gruppe weiträumig zu umfahren.
Abstrakt gefährliche Situationen können zwar eine besondere Pflicht
zur Rücksichtnahme dann begründen, wenn sich das abstrakte
Gefährdungspotential zu einer kritischen Situation verdichtet (vgl.
zu lediglich farbig getrennten Fußgänger- und Radfahrwegen: Senatsurteil vom
4. November 2008 - VI ZR 171/07, VersR 2009, 234 Rn. 11 ff.). Eine aufgrund
einer Ansammlung von Personen gegebene räumliche Enge auf einer
Zufahrtsstraße ohne Durchgangsverkehr begründet aber nicht von vornherein
eine kritische Situation und die Pflicht des Passanten, der Gruppe
weiträumig auszuweichen. Auch hier fehlen Feststellungen zu den dem Kläger
rechtzeitig erkennbaren gefahrerhöhenden Umständen. Zutreffend weist die
Revision darauf hin, dass vom insoweit darlegungspflichtigen Beklagten
hierzu nichts vorgetragen ist.
16 e) Rechtsfehlerhaft begründet das Berufungsgericht seine Abwägung
außerdem mit der Vermutung, dass der Kläger einem besonderen
Verletzungsrisiko wegen der Skiausrüstung und der Bewegung auf Skiern
ausgesetzt gewesen sei. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße
Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage
haben bei der Abwägung außer Betracht zu bleiben (vgl. Senatsurteil
vom 20. März 2012 - VI ZR 3/11, VersR 2012, 865 Rn. 12). Nur wenn das Maß
der Verantwortlichkeit beider Teile feststeht, ist eine sachgemäße Abwägung
möglich. Die vollumfängliche Anspruchskürzung gemäß § 254 Abs. 1 BGB
zu Lasten des Klägers lässt sich nicht damit begründen, dass objektiv eine
überwiegende Mitverursachung des Verletzungsausmaßes durch den Kläger
anzunehmen sei, weil dieser sich auf öffentlichem Straßengrund in voller
Skiausrüstung bewegt hat. Die Frage, ob ein zurechenbares Verschulden des
Geschädigten gegen sich selbst vorliegt, kann nicht verallgemeinernd für
alle Situationen, sondern nur im Hinblick auf die konkrete
Gefährdungssituation beantwortet werden (vgl. Senatsurteile vom 14.
März 1961 - VI ZR 189/59, BGHZ 34, 355, 363 ff. und vom 22. September 1981 -
VI ZR 144/79, VersR 1981, 1178, 1179; BGH, Urteil vom 14. Mai
1998 - I ZR 95/96, VersR 1998, 1443, 1445). Für die Frage des
Mitverschuldens ist danach maßgebend, ob für den Kläger das Zurücklegen des
Weges vom Skilift zur Unterkunft auf Skiern ein in seiner Person begründetes
besonderes Gefahrenpotential in sich barg, das sich im Unfall realisierte
und über das allgemeine Risiko eines Passanten hinausging, von einem
unaufmerksamen Verkehrsteilnehmer umgestoßen zu werden.
17 3. Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass ein Beschluss erst
"erlassen" ist, wenn er mit dem Willen des Gerichts aus dem inneren
Geschäftsbetrieb herausgetreten ist (BGH, Urteil vom 19. Oktober 2005 - VIII
ZR 217/04, BGHZ 164, 347, 354). Dies ist der Fall, wenn der Beschluss aus
dem gerichtsinternen Bereich zur Beförderung mit der Post hinausgegeben
wurde (vgl. BVerwGE 95, 64, 67). Der Schriftsatz, mit dem der Kläger am 31.
März 2014 zum Hinweisbeschluss vom 30. Januar 2014 Stellung genommen hat,
ist zwar nach Ablauf der gesetzten Frist von vier Wochen beim
Berufungsgericht eingegangen, jedoch vor Erlass des
Zurückweisungsbeschlusses, da die Zustellung des Zurückweisungsbeschlusses
am 1. April 2014 verfügt worden und die Zustellung am 4. April 2014 erfolgt
ist.
18 4. Nach alledem kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben. Die
Sache ist zur Verhandlung und neuen Entscheidung, auch über die Kosten des
Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
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