Verletzung von
Verkehrssicherungspflichten: Entstehen und Umfang von
Verkehrssicherungspflichten
BGH, Urteil vom 31. Oktober
2006 - VI ZR 223/05
Fundstelle:
NJW 2007, 762
Amtl. Leitsatz:
Keine Haftung des
Einzelhändlers bei der Explosion einer Limonadenflasche.
Zentrale Probleme:
Eine Entscheidung die mit sehr viel Augenmaß
und in sehr lehrreicher Weise das Entstehen und die Reichweite bzw. die
Grenzen von Verkehrssicherungspflichten darlegt: Zwar ist derjenige, der
eine Gefahrenlage schafft, grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und
zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu
verhindern. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist
aber im praktischen Leben nicht erreichbar. Haftungsbegründend wird eine
Gefahr deshalb erst dann, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die nahe
liegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden
können. Auch dann sind jedoch nur solche Sicherheitsvorkehrungen
erforderlich, die dem Verkehrssicherungspflichtigen den Umständen nach
zuzumuten sind. s. dazu die fett markierten Passagen. Zur Haftung des
Herstellers s.
BGH NJW
1993, 528 sowie BGHZ 129,
353.
©sl 2006
Tatbestand:
1 Der Kläger hielt sich am 23. Juni 2001 gegen 12.00 Uhr in dem von der
Beklagten betriebenen Verbrauchermarkt in S. auf, um dort einzukaufen. Als
er sich im Bereich der offen gelagerten Erfrischungsgetränke orientieren
wollte, explodierte eine Limonadenflasche (Mehrwegflasche, sog. Brunnen -
Einheitsflasche), wodurch er erheblich verletzt wurde.
2 Der Hersteller der Limonadenflasche wurde aufgrund einer Klage des
Arbeitgebers des Klägers verurteilt, dem Arbeitgeber den durch die
Lohnfortzahlung entstandenen Schaden gemäß § 1 Abs. 1 ProdHaftG i. V. m. §
115 SGB X zu ersetzen. Mit der jetzigen Klage macht der Kläger seinen
Eigenbeteiligungsbetrag sowie einen Anspruch auf Schmerzensgeld geltend.
3 Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit der vom
Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Anspruch
weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
4 Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist der Beklagten keine
Verkehrssicherungspflichtverletzung vorzuwerfen. Zwar sei die Beklagte beim
Verkauf kohlensäurehaltiger Getränke verpflichtet gewesen, in den Grenzen
des technisch Möglichen und ihr wirtschaftlich Zumutbaren dafür zu sorgen,
dass der Verbraucher keine Gesundheitsschäden erleide. Deshalb habe sie die
mit dem Vertrieb von Glasflaschen verbundene Gefahr einer spontanen
Explosion nach Möglichkeit gering halten müssen. Eine durch Klimatisierung
herbeigeführte künstliche Kühlung sei aber unzumutbar gewesen, weil sich
dadurch bei den hier zu erörternden Temperaturen das Risiko nur minimal
verringert hätte.
5 Nach den Ausführungen des Sachverständigen sei das Explosionsrisiko
temperaturabhängig. Neben der Temperatur seien jedoch deren Bruchfestigkeit
sowie der CO2-Gehalt des Getränks Bestimmungsfaktoren für die
Wahrscheinlichkeit eines spontanen Bruchs der Flasche. Bei einer Temperatur
von 15°C entstehe ein Überdruck von 2,59 bar. Dieser steige bei 24,4°C auf
3,75 und bei 30°C auf 4,57 bar. Dieser Gleichgewichtsdruck werde allerdings
bei CO2-haltigen Getränken üblicherweise weder im Handel noch beim
Verbraucher erreicht. Die Gleichgewichtseinstellung dauere nämlich in einer
ruhig gelagerten Flasche mehrere Monate.
5 Eine spontane Explosion bei den hier diskutierten Temperaturen setze eine
Schädigung der Flasche in Form von nicht erkennbaren Mikrorissen voraus, die
sich unter dem Einfluss des sich aufbauenden Überdrucks vergrößerten und
schließlich explosionsartig zur Zerstörung der Flasche führten. Trotz eines
Mittelwerts der Innendruckfestigkeit von noch über 12 bar bei alten und
stark verschlissenen Mineralwasserflaschen komme es immer wieder vor, dass
einzelne Flaschen beim Verbraucher bzw. im Handel bei einem Überdruck von
weniger als 4 bar explodierten. Die Geschwindigkeit des Risswachstums sei
nicht berechenbar. Sie liege zwischen praktisch unendlich langsam und etwa 1
mm/sek.
7 Aussagen zu dem Zeitpunkt, wann und unter welchen Bedingungen eine
bestimmte vorgeschädigte Flasche explodieren werde, seien nicht möglich.
Vorliegend hätte aber eine geringere Temperatur die
Explosionswahrscheinlichkeit nur geringfügig gesenkt. Selbst im Kühlschrank
könne eine Flasche platzen, wenn die feinen Risse die Druckfestigkeit
vermindert hätten.
8 In Deutschland sei es unüblich, Sprudelkästen in Kühlräumen zu lagern.
Weil das Risiko von Explosionen dadurch auch nicht wesentlich abgesenkt
würde, sei die Beklagte nicht gehalten gewesen, das Getränk gekühlt zum
Verkauf anzubieten. Dem lediglich geringen Sicherheitsgewinn hätte nämlich
ein erheblicher Aufwand für eine kühle Lagerung gegenüber gestanden. Der
Aufwand beziehe sich nicht nur auf den Raum, in welchem die Flaschen
verkauft würden, sondern auch auf Lagerräume und den Transport, weil die
Anpassung der Flaschentemperatur an die Umgebungstemperatur eine gewisse
Zeit benötige. Zudem sei das Explosionsrisiko gekühlter Flaschen zu
bedenken, das aus dem Temperaturunterschied von menschlicher Hand und
Glasflasche herrühre. Wenn sich ein bereits fortgeschrittener Mikroriss in
dem Bereich befinde, in dem das Glas durch die Hand erwärmt werde, könne
nämlich allein dadurch eine Explosion hervorgerufen werden.
9 Im vorliegenden Fall hätten die Verkaufsräume allenfalls eine Temperatur
von 24,4°C gehabt. Soweit der Kläger in seiner Stellungnahme zu der in der
zweiten Instanz eingeholten Auskunft des Wetterdienstes vortrage, der
einstöckige Verkaufsraum sei nicht isoliert und das Flachdach sei mit
schwarzer Teerpappe bedeckt gewesen, so dass sich das Gebäude ganz erheblich
aufgeheizt habe, sei sein Vortrag neu und nach § 531 Abs. 2 ZPO
unbeachtlich. Erst-instanzlich habe der Kläger nämlich vorgetragen, Außen-
und Innentemperatur seien "praktisch identisch" gewesen. Im Übrigen habe der
Sachverständige bereits die räumliche Lage von S. berücksichtigt. Zu Gunsten
des Klägers sei bei der angenommenen Maximaltemperatur wegen der
Innenstadtlage der Verkaufsräume ein Zuschlag vorgenommen worden. Es sei
deshalb nicht gerechtfertigt, die von der Beklagten eingeräumte
Maximaltemperatur von 24,4°C zu überschreiten.
II.
10 Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten einer revisionsrechtlichen
Überprüfung im Ergebnis stand.
11 1. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Beklagte
aufgrund ihrer Verkehrssicherungspflicht nach § 823 Abs. 1 BGB verpflichtet
war, in den Grenzen des technisch Möglichen und ihr wirtschaftlich
Zumutbaren dafür zu sorgen, dass Verbraucher durch die von ihr angebotene
Ware keine Gesundheitsschäden erleiden. Nach der ständigen Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs ist derjenige, der eine Gefahrenlage - gleich welcher
Art -schafft, grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren
Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern
(vgl. Senatsurteile vom 16. Mai 2006 - VI ZR 189/05 - VersR 2006, 1083,
1084; vom 8. November 2005 - VI ZR 332/04 - VersR 2006, 233, 234 und vom 15.
Juli 2003 - VI ZR 155/02 - VersR 2003, 1319, jeweils m. w. N.). Die
rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein
umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch
für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Dabei
ist zu berücksichtigen, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend
begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden,
wäre unrealistisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung
ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar.
Haftungsbegründend wird eine Gefahr deshalb erst dann, wenn sich für ein
sachkundiges Urteil die nahe liegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter
anderer verletzt werden können. Auch dann reicht es jedoch anerkanntermaßen
aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger,
umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen
Verkehrskreise für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden
zu bewahren, und die ihm den Umständen nach zuzumuten sind (vgl.
Senatsurteile vom 16. Mai 2006 - VI ZR 189/05; vom 8. November 2005 - VI ZR
332/04 - und vom 15. Juli 2003 - VI ZR 155/02 -, jeweils aaO m. w. N.).
Dabei sind Sicherungsmaßnahmen umso eher zumutbar, je größer die Gefahr und
die Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung sind (vgl. Senatsurteil vom 5.
Oktober 2004 - VI ZR 294/03 - VersR 2005, 279, 280 f.).
12 2. Nach diesen Grundsätzen ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden,
dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten verneint hat.
13 Nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen, die auf den von
der Revision nicht angegriffenen Ausführungen des Sachverständigen beruhen,
ist das Explosionsrisiko zwar temperaturabhängig; weitere Faktoren sind aber
der CO2-Gehalt des Getränks sowie die Bruchfestigkeit der Flasche. Eine
spontane Explosion setzt eine Schädigung der Flasche in Form von nicht
erkennbaren Mikrorissen voraus, die sich unter dem Einfluss des sich
aufbauenden Überdrucks vergrößern und schließlich explosionsartig zur
Zerstörung der Flasche führen. Weiter hat der Sachverständige ausgeführt,
die Geschwindigkeit des Risswachstums sei nicht berechenbar. Sie liege
zwischen praktisch unendlich langsam und etwa 1 mm/s. Aussagen zu dem
Zeitpunkt, wann und unter welchen Bedingungen eine bestimmte vorgeschädigte
Flasche explodieren werde, seien nicht möglich. Selbst im Kühlschrank könne
eine Flasche platzen, wenn die feinen Risse die Druckfestigkeit vermindert
hätten. Eine geringere Temperatur hätte deshalb vorliegend die
Explosionswahrscheinlichkeit nur geringfügig gesenkt. Andererseits hat der
Sachverständige auf das Explosionsrisiko gekühlter Flaschen hingewiesen, das
aus dem Temperaturunterschied von menschlicher Hand und Glasflasche
herrühre. Er hat dargelegt, dass dann, wenn sich ein bereits
fortgeschrittener Mikroriss in dem Bereich befinde, in dem das Glas durch
die Hand erwärmt werde, alleine dadurch eine Explosion hervorgerufen werden
könne.
14 Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass die wesentliche Ursache für die
Explosion im Zustand der Flasche zu sehen ist, insbesondere in den für den
Einzelhändler nicht erkennbaren Haarrissen. Beim Zustand der Flasche handelt
es sich aber um ein Risiko, das in den Verantwortungsbereich des Herstellers
fällt, dem der Gesetzgeber die Haftung für fehlerhafte Produkte zugewiesen
hat. Aufgrund der für ihn bestehenden Gefährdungshaftung haftet der
Hersteller deshalb in solchen Fällen grundsätzlich nach § 1 des
Produkthaftungsgesetzes, wobei im Falle der Verletzung des Körpers oder der
Gesundheit jetzt auch für den immateriellen Schaden eine billige
Entschädigung in Geld verlangt werden kann.
15 Soweit darüber hinaus die Temperatur eine Rolle spielen kann, erscheint
es nicht gerechtfertigt, entgegen der bisherigen Praxis in Verkaufsräumen
bei üblichen, auch sommerlichen Temperaturen eine Verpflichtung des
Einzelhändlers zur Kühlung zu statuieren. Im Hinblick auf die geringe
Wahrscheinlichkeit, dass ein Verbraucher durch eine im Verkaufsraum
explodierende Flasche verletzt wird, ist der dafür erforderliche Aufwand im
Verhältnis zu dem bestehenden Risiko nicht zumutbar. Mit einer Kühlung
könnte der Händler das Risiko nur für einen kurzen Zeitraum geringfügig
verringern. Er würde aber zugleich neue Gefahren schaffen, die durch die
Kühlung entstehen können, wenn der Kunde etwa die gekühlte Flasche mit einer
wesentlich wärmeren Hand berührt oder sie nach dem Einkauf in ein warmes
Fahrzeug verbringt und es dann wegen des erheblichen Temperaturunterschieds
zur Explosion der Flasche kommt. Bei dieser Sachlage ist es unabhängig
davon, ob die vom Berufungsgericht festgestellte Temperatur von 24,4°C oder
die vom Kläger behauptete Temperatur von 30°C bestanden hat, nicht
gerechtfertigt, dem Einzelhändler den für eine Kühlung erforderlichen
Aufwand aufzuerlegen.
16 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
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