Schutz des postmortalen Persönlichkeitsrechts
(Art. 1 I GG): Schutzbereich; Recht zur Kenntnis der eigenen Abstammung aus
Art. 1 I, 2 I GG; gerichtliche Vaterschaftsfeststellung; Duldungspflicht des
Totensorgeberechtigten in Analogie zu § 178 I FamFG
BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2014 -
XII ZB 20/14
Fundstelle:
noch nicht bekannt
Amtl. Leitsatz:
Das postmortale
Persönlichkeitsrecht tritt im Falle einer für die Feststellung der
Vaterschaft erforderlichen Untersuchung und damit einhergehenden Exhumierung
des Verstorbenen regelmäßig hinter das Recht des Kindes auf Kenntnis der
eigenen Abstammung zurück.
Zentrale Probleme:
Die Entscheidung ist insbesondere im Hinblick auf die
verfassungsrechtliche Verankerung des postmortalen Persönlichkeitsrechts und
dessen Schutzbereich von Interesse.
©sl 2014
Gründe:
A.
1 Die im Jahr 1944 geborene Antragstellerin begehrt die Feststellung, dass
der 2011 verstorbene S. ihr Vater sei.
2 Das Amtsgericht hat ihre Anträge, die Leiche von S. zu exhumieren, eine
Gewebeprobe zu entnehmen und die Vaterschaft festzustellen, zurückgewiesen.
Auf ihre Beschwerde hat das Oberlandesgericht im Rahmen eines
Beweisbeschlusses zur Einholung eines DNA-Gutachtens die Exhumierung der
Leiche zum Zwecke der Erstellung eines DNA-Abstammungsgutachtens angeordnet.
3 Der Beteiligte, der eheliche Sohn von S., hat die Einwilligung in die
Exhumierung und Gewebeprobenentnahme verweigert. Mit einem Zwischenbeschluss
hat das Oberlandesgericht diese Weigerung für unberechtigt erklärt.
Hiergegen wendet sich der Beteiligte mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde.
B.
4 Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet.
I.
5 Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
6 Dem Beteiligten stehe als nächstem Angehörigen das Recht der Totenfürsorge
zu. Seine Weigerung sei jedoch nicht rechtmäßig. Die Antragstellerin habe
die Voraussetzungen für eine gerichtliche Vaterschaftsfeststellung gemäß §
1600 d BGB dargelegt. Sie habe behauptet, dass S. in der gesetzlichen
Empfängniszeit Geschlechtsverkehr mit ihrer Mutter gehabt habe. Diese
Behauptung habe sie nicht ins Blaue hinein aufgestellt. Sie habe glaubhaft
berichtet, dass ihre Mutter ihr am 18. Geburtstag offenbart habe, dass der
Ehemann der Mutter nicht ihr leiblicher Vater sei, sondern dass sie von S.
abstamme. Ferner habe die Antragstellerin berichtet, dass ihre Mutter sie in
den Nachkriegsjahren zu der Familie S. in Westdeutschland, das heißt zu der
Mutter und der Schwester des potentiellen leiblichen Vaters habe reisen
lassen. Sie habe anschaulich geschildert, wie sie bei diesen Besuchen von
ihrer "S.-Oma" sehr verwöhnt worden sei. Entscheidend für eine
Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft spreche ein erstes Treffen mit S. in
einem Hotel, bei welchem dieser selbstverständlich davon ausgegangen sei,
ihr Vater zu sein. Ihre Schilderung hiervon habe eine ganze Reihe
atmosphärisch stimmiger Einzelheiten enthalten, bei denen es als fernliegend
anzusehen sei, sie als in Gänze erfunden zu erachten. Dies belege, dass die
Antragstellerin bei dem Treffen sicher von dieser Vaterschaft ausgegangen
und von S. darin bestärkt worden sei. Das reiche aus, um hinreichende
Anhaltspunkte für eine gutachterliche Vaterschaftsfeststellung anzunehmen.
7 Die DNA-Untersuchung sei notwendig, weil die sonstigen zur Verfügung
stehenden Beweismittel zur Feststellung der Vaterschaft nicht ausreichten.
Vorrangig vor der Exhumierung sei nur die Untersuchung von dem Verstorbenen
zu Lebzeiten entnommenen und asservierten Gewebeproben. Solches Material
stünde nach Angaben des Beteiligten aber nicht zur Verfügung. Der Beteiligte
sei als Sohn auch nicht bereit, eigenes DNA-Material für eine Untersuchung
bereit zu stellen. Daher sei die Exhumierung zur Feststellung der
Vaterschaft erforderlich.
8 Im Rahmen der Zumutbarkeitsabwägung habe das Interesse des Einzelnen an
der Kenntnis seiner Abstammung im Grundsatz Vorrang vor der Achtung der
Totenruhe. Es mache die Untersuchung nicht unzumutbar, dass die
Antragstellerin erst nach dessen Tod das Vaterschaftsfeststellungsverfahren
eingeleitet habe. Eine Verwirkung wegen Zeitablaufs komme nicht in Betracht.
Außerdem habe die Antragstellerin nachvollziehbare Gründe für das Zuwarten
mit der Antragstellung vorgetragen. Eine Unzumutbarkeit lasse sich auch
nicht daraus herleiten, dass die Antragstellerin wiederholt zum Ausdruck
gebracht habe, keine Zweifel an der Vaterschaft zu haben. Für die
grundsätzlich als übergeordnet zu bewertende Klärung der Abstammung komme es
nicht auf subjektive Vorstellungen, sondern auf die objektive Feststellung
der Vaterschaft an. Dass es der Antragstellerin vorwiegend um
vermögensrechtliche Interessen gehe, nämlich die Durchsetzung ihrer
Erbansprüche, mache die Exhumierung ebenfalls nicht unzumutbar. Die Teilhabe
am väterlichen Erbe sei ein legitimes Interesse, das hinter der Totenruhe
nicht grundsätzlich zurückzutreten habe. Der von dem Beteiligten
eingewandten Störung der Totenruhe seiner Mutter, die gemeinsam mit seinem
Vater in einer Grabstätte bestattet sei, komme im Verhältnis zum
Feststellungsinteresse der Antragstellerin keine eigenständige Bedeutung zu,
weil diese Störung nur geringfügig sei.
II.
9 Die Entscheidung des Beschwerdegerichts hält rechtlicher Überprüfung
stand.
10 1. Die von der Rechtsbeschwerde geltend gemachten Verfahrensrügen
hinsichtlich der Anhörung der Antragstellerin erachtet der Senat nicht für
durchgreifend.
11 a) Die Rüge der Rechtsbeschwerde, die seitens des Beschwerdegerichts
vorgenommene Anhörung der Antragstellerin und die nachfolgende
Protokollierung genüge den Anforderungen einer förmlichen Beweisaufnahme
nicht, verfängt nicht. Zwar verweist die Rechtsbeschwerde zutreffend auf §
177 Abs. 2 Satz 1 FamFG, wonach über die Abstammung in einem
Vaterschaftsfeststellungsverfahren eine förmliche Beweisaufnahme
stattzufinden hat. Zu beachten ist aber, dass die Anhörung der
Antragstellerin nicht dem Beweis ihrer Abstammung, sondern allein der
Beantwortung der Frage diente, ob die Voraussetzungen für eine gerichtliche
Vaterschaftsfeststellung vorliegen, die wiederum erst den Eintritt in die
Beweisaufnahme rechtfertigen können.
12 Gemäß § 171 Abs. 2 Satz 1 FamFG sollen in dem Antrag das Verfahrensziel
und die betroffenen Personen bezeichnet werden. Während Satz 2 und Satz 3
für den Fall der Vaterschaftsanfechtung weitere Anforderungen an den Antrag
stellen, ist dies für den Fall der Vaterschaftsfeststellung nicht der Fall.
Das bedeutet indes nicht, dass im Vaterschaftsfeststellungsverfahren ohne
Weiteres in die Beweisaufnahme einzutreten ist. Es müssen Anhaltspunkte
dargetan sein, die eine Vaterschaft als möglich erscheinen lassen (vgl. OLG
Hamm FamRZ 1993, 76, 77). Enthält der Antrag keine entsprechenden Angaben,
ist er unzulässig (vgl. Borth/Grandel in Musielak/Borth FamFG 4. Aufl. § 178
Rn. 5). Das Gericht soll gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 FamFG allerdings vor
einer Beweisaufnahme über die Abstammung die Angelegenheit in einem Termin
erörtern. Auf diese Weise kann insbesondere geklärt werden, ob es auf die
mit einem Grundrechtseingriff verbundene Beweiserhebung durch
Sachverständigengutachten überhaupt ankommt (Wellenhofer NZFam 2014, 117,
118). Entsprechende Feststellungen unterliegen indes nicht dem § 177 Abs. 2
Satz 1 FamFG. Vielmehr entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen,
auf welche Art und Weise es die entscheidungserheblichen Tatsachen
feststellt (Haußleiter/Fest FamFG § 177 Rn. 12).
13 b) Ebenso wenig ist die Dokumentation der Anhörung zu beanstanden.
14 Gemäß § 28 Abs. 4 Satz 1 und 2 FamFG hat das Gericht über einen Termin
einen Vermerk zu fertigen und hierin die wesentlichen Vorgänge des Termins
und einer persönlichen Anhörung festzuhalten. Weitere Regelungen über den
notwendigen Inhalt des Vermerks enthält das Gesetz nicht. Der Gesetzgeber
hat bewusst hiervon abgesehen und die Dokumentation in das Ermessen des
Gerichts gestellt, damit dieses flexibel nach den Anforderungen des
Einzelfalls den Vermerk ausgestalten kann (BT-Drucks. 16/6308 S. 187). Eine
umfassende Protokollierung der Anhörung ist nicht erforderlich, nur das
wesentliche Ergebnis muss festgehalten werden (OLG Celle, FamRZ 2014, 413,
414 zur Kindesanhörung).
15 Diesen Anforderungen wird die vom Oberlandesgericht durchgeführte
Dokumentation gerecht. Es hat im Vermerk über den Termin vom 7. Mai 2013
festgehalten, dass die Antragstellerin angehört wurde und zu welchen Themen
sie sich erklärt hat. Die Aufnahme der im Einzelnen berichteten Tatsachen
war schon deshalb nicht erforderlich, weil die Antragstellerin in Bezug auf
die entscheidungsrelevanten Vorgänge nur ihren bereits schriftsätzlich
ausführlich vorgebrachten Vortrag wiederholt und diesbezüglich keine neuen
Tatsachen vorgebracht hat. Hinzu kommt, dass der Beteiligte im Termin
ebenfalls anwesend war und zu deren Inhalt im Termin bzw. danach Stellung
nehmen und sich ein eigenes Bild machen konnte.
16 2. Es ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden, dass das
Beschwerdegericht aufgrund der von ihm in verfahrensfehlerfreier Weise
getroffenen Feststellungen von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit für
die Vaterschaft und damit von der Zulässigkeit des Antrages gemäß § 171
FamFG ausgegangen ist. Folgerichtig hat das Oberlandesgericht die
Voraussetzungen für den Eintritt in die Beweisaufnahme bejaht.
17 Die Rechtsbeschwerde dringt nicht mit der Rüge durch, der Vortrag der
Antragstellerin beschränke sich auf reine "Sekundärtatsachen", es fehle aber
Vortrag, wonach zwischen S. und der Mutter in der Empfängniszeit ein
Geschlechtsverkehr stattgefunden habe. Es genügt, dass eine gewisse
Wahrscheinlichkeit für die vorgetragene Beiwohnung in der Empfängniszeit
spricht (vgl. OLG Hamm FamRZ 1993, 76, 77 ["geringe Anhaltspunkte"]). Ein
Beweis über die Abstammung ist lediglich dann nicht einzuholen, wenn die
Angabe, dass die betreffende Person der leibliche Vater sei bzw. mit der
Mutter in der Empfängniszeit geschlechtlich verkehrt habe, eine ohne
Anhaltspunkte ausgesprochene Vermutung ist bzw. diese ersichtlich ins Blaue
hinein erfolgt (OLG Karlsruhe, Justiz 1972, 357), so dass die Beweiserhebung
auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis hinausliefe (Saenger/Eichele ZPO
5. Aufl. § 372 a Rn. 5). Dies ist hier ersichtlich nicht der Fall.
18 3. Schließlich ist nichts dagegen zu erinnern, dass das
Beschwerdegericht die Weigerung des Beteiligten, die Beweisaufnahme als
Totenfürsorgeberechtigter zu ermöglichen, am Maßstab des § 178 FamFG als
unrechtmäßig erachtet hat.
19 Gemäß § 178 Abs. 1 FamFG hat jede Person, soweit es zur
Feststellung der Abstammung erforderlich ist, Untersuchungen, insbesondere
die Entnahme von Blutproben, zu dulden, es sei denn, dass ihr die
Untersuchung nicht zugemutet werden kann.
20 Die Voraussetzungen für die Untersuchung eines Verstorbenen und
seine damit einhergehende Exhumierung zur Feststellung seiner Vaterschaft
sind gesetzlich allerdings nicht ausdrücklich geregelt. Insoweit ist § 178
Abs. 1 FamFG jedoch entsprechend anzuwenden. Der Gesetzgeber hat mit dieser
Norm den Eingriff in das Grundrecht der körperlichen Integrität zum Zwecke
der Feststellung der Abstammung unter bestimmten Voraussetzungen
ausdrücklich zugelassen, was zeigt, welche große Bedeutung er der Klärung
des Personenstandes beimisst. Da nach dieser Vorschrift jede (lebende)
Person Untersuchungen, insbesondere die Entnahme von Blutproben zu dem
genannten Zweck zu dulden hat, kann kein Zweifel daran bestehen, dass erst
recht die Entnahme als solche von Gewebeproben aus den sterblichen
Überresten einer Person zu diesem Zweck grundsätzlich hingenommen werden
muss (OLG München FamRZ 2001, 126, 127; OLG Dresden FPR 2002, 570,
571 - jeweils zu § 372 a ZPO; Keidel/Engelhardt FamFG 18. Aufl. § 178 Rn.
11; BeckOK FamFG/Nickel [Stand: 1. Mai 2014] § 178 Rn. 4;
Staudinger/Rauscher BGB [2011] Vorbem. zu §§ 1591 ff. Rn. 78).
Demgemäß hat der totenfürsorgeberechtigte Angehörige die Exhumierung und
Probenentnahme zu dulden, wenn die Abstammungsuntersuchung erforderlich und
zumutbar ist.
21 a) Das Oberlandesgericht ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die
DNA-Untersuchung und die damit einhergehende Exhumierung von S. für die
Feststellung der Vaterschaft erforderlich sind. Dieser Schluss ist frei von
Rechtsfehlern.
22 Die Erforderlichkeit fehlt im Vaterschaftsfeststellungsverfahren, wenn
die Sache unabhängig von der Abstammungsuntersuchung entscheidungsreif ist
oder wenn andere Beweismittel zur Verfügung stehen, die eine Beantwortung
der Beweisfrage mit einer vergleichbaren Sicherheit versprechen und eine
geringere Rechtsbeeinträchtigung bedeuten.
23 Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des
Beschwerdegerichts stehen weder Gewebeproben des Verstorbenen zur Verfügung,
noch ist der Beteiligte als Sohn bereit, eigenes DNA-Material für eine
Untersuchung bereit zu stellen. Auch die Rechtsbeschwerde räumt die
Erforderlichkeit der Untersuchung des Verstorbenen ein.
24 b) Ebenso wenig ist etwas dagegen zu erinnern, dass das Beschwerdegericht
die Begutachtung und die damit einhergehende Exhumierung iSd § 178 Abs. 1
FamFG für zumutbar erachtet hat. Vor allem ist es nicht zu
beanstanden, dass das Gericht vorliegend dem Recht der Antragstellerin auf
Kenntnis der eigenen Abstammung gegenüber dem Recht auf Totenruhe des
Verstorbenen den Vorrang eingeräumt hat.
25 aa) Allerdings ist streitig, nach welchen Maßstäben die
Zumutbarkeitsprüfung nach § 178 Abs. 1 FamFG in Fällen einer notwendigen
Exhumierung zu erfolgen hat.
26 (1) Die überwiegende Auffassung räumt grundsätzlich dem Recht des
Kindes an der Kenntnis seiner Abstammung den Vorrang vor der Achtung der
Totenruhe ein (OLG München FamRZ 2001, 126, 127; OLG Dresden FPR
2002, 570, 571; Keidel/Engelhardt FamFG 18. Aufl. § 178 Rn. 11; Kieninger
in: Helms/Kieninger/Rittner Abstammungsrecht in der Praxis Rn. 256; BeckOK
FamFG/Nickel [Stand: 1. Mai 2014] § 178 Rn. 4; Kirchmeier FPR 2002, 370,
375).
27 (2) Nach anderer Ansicht ist stets eine umfassende Abwägung aller
Interessen im Einzelfall erforderlich (Staudinger/Rauscher BGB [2011] Vorbem.
zu §§ 1591 ff. Rn. 78; Lakkis FamRZ 2006, 454, 460).
28 (3) Der Senat hält die erstgenannte Auffassung für zutreffend.
29 Das postmortale Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen tritt
regelmäßig hinter das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung
zurück. Dieser Grundsatz folgt daraus, dass der Schutzbereich des durch Art.
1 Abs. 1 GG geschützten postmortalen Persönlichkeitsrechts in Fällen der
vorliegenden Art im Regelfall nicht betroffen ist. Dem steht
entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde die Europäische
Menschenrechtskonvention - in der Auslegung durch den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte - nicht entgegen.
30 (a) Das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung folgt
unmittelbar aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, weil die Kenntnis und
Zuordnung des Vaters von wesentlicher Bedeutung für die Entfaltung der
Persönlich keit ist (BVerfGE 90, 263 = FamRZ 1994, 881, 882;
BVerfGE 79, 256 = FamRZ 1989, 255, 258). Art. 2 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 1 Abs. 1 GG sichert dem Einzelnen einen autonomen Bereich privater
Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann.
Zu den Elementen, die für die Entfaltung der Persönlichkeit von
entscheidender Bedeutung sein können, gehört die Kenntnis der eigenen
Abstammung. Der Bezug zu den Vorfahren kann im Bewusstsein des
Einzelnen eine Schlüsselstellung für sein Selbstverständnis und seine
Stellung in der Gemeinschaft einnehmen. Die Kenntnis der Herkunft kann
wichtige Anknüpfungspunkte für das Verständnis des familiären Zusammenhangs
und für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit geben. Die Unmöglichkeit,
die eigene Abstammung zu klären, kann den Einzelnen erheblich belasten und
verunsichern (BVerfGE 90, 263 = FamRZ 1994, 881, 882; BVerfGE 79, 256 =
FamRZ 1989, 255, 258).
31 (b) Demgegenüber ist das postmortale Persönlichkeitsrecht des
Verstorbenen in den Blick zu nehmen. Es folgt aus dem Gebot der
Unverletzlichkeit der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG.
Hingegen besteht kein Schutz des Verstorbenen durch das allgemeine
Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG,
weil Träger dieses Grundrechts nur die lebende Person ist.
Der aus Art. 1 Abs. 1 GG resultierende Schutz des postmortalen
Persönlichkeitsrechts ist demgemäß nicht identisch mit den Schutzwirkungen
des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (BVerfG NJW 2001, 2957, 2958
f. mwN). Geschützt ist bei Verstorbenen zum einen der allgemeine
Achtungsanspruch, der dem Menschen kraft seines Personseins zusteht. Dieser
Schutz bewahrt den Verstorbenen insbesondere davor, herabgewürdigt oder
erniedrigt zu werden. Schutz genießt aber auch der sittliche, personale und
soziale Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung
erworben hat. Steht fest, dass eine Maßnahme in den Schutzbereich
des postmortalen Persönlichkeitsrechts eingreift, ist zugleich ihre
Rechtswidrigkeit geklärt. Der Schutz kann nicht etwa im Zuge einer
Güterabwägung relativiert werden. Beeinträchtigungen können
dementsprechend nicht durch die grundrechtliche Gewährleistung
kollidierender Freiheitsrechte gerechtfertigt werden. Da aber nicht
nur einzelne, sondern sämtliche Grundrechte Konkretisierungen des Prinzips
der Menschenwürde sind, hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass
es stets einer sorgfältigen Begründung bedarf, wenn angenommen werden soll,
dass der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde
durchschlägt. Dafür genügt ein Berühren der Menschenwürde nicht.
Vorausgesetzt ist eine sie treffende Verletzung. Bei Angriffen auf
den durch die Lebensstellung erworbenen Geltungsanspruch genügt
beispielsweise nicht dessen Infragestellung, wohl aber deren grobe
Entstellung (BVerfG NJW 2001, 2957, 2959).
32 (c) Der Rechtsposition des Totenfürsorgeberechtigten, der - wie
hier der Beteiligte - die Rechte des Verstorbenen gleichsam als Treuhänder
wahrnimmt, kommt im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung des § 178 Abs. 1 FamFG
regelmäßig keine eigenständige Bedeutung zu. Zwar kann er etwa ein
eigenes Recht auf ein ungestörtes Andenken des Verstorbenen
haben, was regelmäßig bei dessen Verunglimpfung zum Tragen kommt. Im Rahmen
einer Vaterschaftsfeststellung bzw. -anfechtung ist dieses Recht indes
regelmäßig nicht berührt (Lakkis FamRZ 2006, 454, 457). Denn das Recht der
Angehörigen auf Totenfürsorge findet eine Grenze in den zur
verfassungsmäßigen Ordnung gehörenden Vorschriften, wozu auch § 178 FamFG
gehört (vgl. BVerfG NJW 1994, 783, 784).
33 (d) Unter Beachtung der besonderen Bedeutung des verfassungsrechtlich
geschützten Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung führt eine im
legitimen Interesse des Kindes entsprechend § 178 FamFG durchgeführte
Untersuchung des Verstorbenen und dessen damit einhergehende Exhumierung
nicht zu einem Eingriff in den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG
und damit auch nicht zu einer hierdurch indizierten Verletzung der auch
postmortal geschützten Menschenwürde. Deshalb gebührt dem Recht des
Kindes grundsätzlich der Vorrang.
34 Sofern im Einzelfall durch die Untersuchung eine Verletzung des
postmortalen Persönlichkeitsrechts des Verstorbenen droht und damit das
Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung zurückzutreten hat,
kann dem im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung des § 178 Abs. 1 FamFG
hinreichend Rechnung getragen werden.
35 (e) Diesem Ergebnis steht die Europäische Menschenrechtskonvention - in
der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht
entgegen.
36 Die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer
Zusatzprotokolle stehen in der deutschen Rechtsordnung im Rang eines
Bundesgesetzes und sind damit in der Normenhierarchie kein unmittelbarer
verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab. Allerdings dienen der
Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für
die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten (BVerfGE 111, 307
= FamRZ 2004, 1857, 1859).
37 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden,
dass die widerstreitenden Interessen des Kindes und des Verstorbenen im
Einzelfall sorgfältig gegeneinander abzuwägen seien (EGMR Urteil
vom 13. Juli 2006
- Jäggi ./. Schweiz - Individualbeschwerde Nr. 58757/00 - Rn. 39 = FamRZ
2006, 1354). Dabei hat er jedoch betont, dass das - von Art. 8 Abs. 1 EMRK
geschützte - Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung für ein Kind von
besonderer Bedeutung ist (EGMR Urteil vom 13. Juli 2006 - Jäggi ./. Schweiz
- Individualbeschwerde Nr. 58757/00 - Rn. 39 = FamRZ 2006, 1354; Urteil vom
7. Februar 2002 - Mikulic gg. Kroatien - Rs. 53176/99 - Rn. 64 "vital
interest"). Hinzu kommt, dass der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte in einer anderen Entscheidung ausgeführt hat, dass eine
Exhumierung des Verstorbenen zum Zwecke der Probenentnahme keinen Eingriff
in das Recht auf Achtung des Privatlebens iSd Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellt
(EGMR Entscheidung vom 15. Mai 2006 - Nachlass des Kresten
Filtenborg Mortensen ./. Dänemark Individualbeschwerde Nr. 1338/03 Umdruck
S. 9).
38 Dieser Rechtsprechung steht der nach den oben stehenden Ausführungen
anzuwendende Prüfungsmaßstab - jedenfalls im Ergebnis - nicht entgegen. Denn
sowohl nach der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch nach dem
Grundgesetz kommt dem Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung
besondere Bedeutung zu. Andererseits wird auch bei dem von der Verfassung
vorgegebenen Ansatz der Rechtssphäre des Verstorbenen hinreichend Rechnung
getragen, indem bei erheblichen Beeinträchtigungen der Schutzbereich des
Art. 1 Abs. 1 GG eröffnet ist.
39 bb) Gemessen an den oben stehenden Anforderungen ist die Entscheidung des
Oberlandesgerichts von Rechts wegen nicht zu beanstanden.
40 Das Oberlandesgericht ist frei von Rechtsfehlern zu dem Ergebnis gelangt,
dass das Interesse der Antragstellerin auf Kenntnis ihrer Abstammung Vorrang
vor der Achtung der Totenruhe des S. hat. Die vom Oberlandesgericht
getroffenen Feststellungen lassen einen Eingriff in das postmortale
Persönlichkeitsrecht des S. durch die Beweisanordnung nicht erkennen.
Da sich der Schutz Verstorbener auf Art. 1 Abs. 1 GG beschränkt,
kann sich der Beteiligte für den Verstorbenen entgegen der Auffassung der
Rechtsbeschwerde auch nicht auf eine Verletzung des Rechts auf
informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG
berufen.
41 Zutreffend hat das Oberlandesgericht darauf verwiesen, das Interesse der
Antragstellerin an der Feststellung der Vaterschaft werde nicht dadurch
geschmälert, dass die Antragstellerin bereits seit langer Zeit über die
mögliche Vaterschaft des S. informiert gewesen sei bzw. sie keine Zweifel
mehr an seiner Vaterschaft habe. Der Gesetzgeber hat von einer Frist für die
Vaterschaftsfeststellung abgesehen. Im Lichte der Bedeutung des
verfassungsrechtlich geschützten Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung
scheidet zudem eine Verwirkung des Anspruchs aus (OLG München FamRZ 2001,
126, 128). Nicht zu beanstanden ist in diesem Zusammenhang schließlich der
Verweis des Oberlandesgerichts darauf, dass die Antragstellerin
nachvollziehbare Gründe für ihr spätes Tätigwerden genannt hat.
42 Es ist auch nichts gegen die Erwägungen des Oberlandesgerichts zu
erinnern, wonach es die Exhumierung nicht unzumutbar macht, dass es der
Antragstellerin vorwiegend um eine Erbschaft und damit um
vermögensrechtliche Interessen geht. Mit dem Zweiten
Erbrechtsgleichstellungsgesetz (Zweites Gesetz zur erbrechtlichen
Gleichstellung nichtehelicher Kinder, zur Änderung der Zivilprozessordnung
und der Abgabenordnung vom 12. April 2011 BGBl. I S. 615) wurde es der 1944
geborenen Antragstellerin erstmals ermöglicht, im Falle der Feststellung der
Vaterschaft in die Erbenstellung einzurücken, da S. erst im Jahr 2011
verstorben war. Das Interesse der Antragstellerin an der Feststellung der
Vaterschaft ist jedoch nicht deswegen geringer zu bewerten, weil sie damit
vor allem die Geltendmachung eines Erbrechts verfolgt. Das Wissen um die
eigene Herkunft ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis und die
Entfaltung der eigenen Individualität. Daran ändert nichts, dass im
Einzelfall bei der Klärung der Abstammungsfrage vermögensrechtliche
Interessen im Vordergrund stehen können (OLG München FamRZ 2001, 126, 127).
Zudem hat das Beschwerdegericht zu Recht ausgeführt, dass auch die Teilhabe
an dem väterlichen Erbe ein legitimes Interesse darstellt.
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