Definition der "groben
Fahrlässigkeit"
BGH, Urteil vom 11. Juli
2007 - XII ZR 197/05
Fundstelle:
NJW 2007, 2988
Amtl. Leitsatz:
Ein Kraftfahrer, der mit
seinem Fahrzeug einem die Fahrbahn überquerenden Fuchs ausweicht, handelt
nicht grundsätzlich grob fahrlässig.
Zentrale Probleme:
Es geht um den Begriff der groben Fahrlässigkeit. Der BGH
wiederholt die gebräuchliche Definition, daß derjenige grobfahrlässig
handelt, der die im Verkehr
erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maß
verletzt und unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem einleuchten
müsse. Im Gegensatz zur einfachen Fahrlässigkeit muss es sich bei einem grob
fahrlässigen Verhalten um ein auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbares
Fehlverhalten handeln, das ein gewöhnliches Maß erheblich übersteigt. Er
betont weiter, daß trotz dieser einheitlich geltenden Begriffsdefinition die
jeweilige Ausfüllung eine Frage des Einzelfalls ist.
©sl 2007
Tatbestand:
1 Die Klägerin, eine Autovermieterin, macht gegen den
Beklagten Schadensersatzansprüche geltend, weil dieser den bei ihr
gemieteten Pkw grob fahrlässig beschädigt habe.
2 Am 8. Juni 2004 mietete der Beklagte bei der Klägerin einen BMW 318, wobei
eine Haftungsbefreiung mit Selbstbehalt in Höhe von 550 € für
selbstverschuldete Unfälle vereinbart wurde. Bei Übergabe des Fahrzeugs
erhielt der Beklagte von der Klägerin ein mit "Mietvertrag" überschriebenes
Blatt Papier, aus dem sich u.a. die Bezeichnung des gemieteten Fahrzeugs,
die Höhe der Miete sowie die Haftungsbefreiung mit Selbstbehalt ergab.
3 Ferner heißt es dort:
"Ich akzeptiere für diese und zukünftige Anmietungen die allgemeinen S.
-Vermietbedingungen, die Bedingungen des S. -Expressmasteragreement sowie
die Geschäftsbedingungen der Kreditkarteninstitute....
Die allgemeinen S. -Vermietbedingungen und die Bedingungen des S.
-Expressmasteragreement liegen im Vermietbüro aus."
4 In den Geschäftsbedingungen der Klägerin heißt es unter "J: Haftung des
Mieters Nr. 2.":
"Dem Mieter steht es frei, die Haftung aus Unfällen für Schäden der
Vermieterin durch Zahlung eines besonderen Entgeltes auszuschließen =
vertragliche Haftungsfreistellung. In diesem Fall haftet er für Schäden,
abgesehen von der vereinbarten Selbstbeteiligung nur dann, wenn ... er oder
seine Erfüllungsgehilfen den Schaden durch Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit
herbeigeführt haben ..."
5 Am 13. Juni 2004 verursachte der Beklagte gegen 4.00 Uhr morgens auf der
Bundesautobahn A 8 zwischen Stuttgart und Pforzheim mit dem gemieteten BMW
einen Unfall. Hierzu heißt es im Schadensbericht des Beklagten vom 13. Juni
2004:
"Leichtes Ausweichmanöver beim Befahren der A 8 von Stuttgart nach
Pforzheim. Ausweichen aufgrund eines Wildwechsel (vermutlich Fuchs) nach
rechts, wobei die etwas in den Seitenstreifen gebaute Leitplanke touchiert
wurde."
6 An der Unfallstelle ist die Leitplanke verstärkt und ragt deshalb etwas in
den Seitenstreifen hinein. Der Beklagte fuhr zum Unfallzeitpunkt mit einer
Geschwindigkeit von 120 km/h. Durch den Unfall entstand der Klägerin ein
Schaden von insgesamt 8.892,69 €.
7 Das Landgericht hat der Klage auf Ausgleich dieses Schadens in vollem
Umfang stattgegeben. Der Beklagte habe den Unfall grob fahrlässig
herbeigeführt. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht ihn
lediglich zur Zahlung des Selbstbehalts in Höhe von 550 € verurteilt. Die
Geschäftsbedingungen der Klägerin seien Vertragsbestandteil geworden. Der
Beklagte habe jedoch nicht grob fahrlässig gehandelt. Mit der vom
Berufungsgericht zugelassenen Revision sucht die Klägerin, die
Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils zu erreichen.
Entscheidungsgründe:
8 Die Revision hat keinen Erfolg.
I.
9 Das Oberlandesgericht hat ausgeführt, die Klägerin habe gegen den
Beklagten gemäß §§ 535, 280 Abs. 1 BGB i.V.m. dem Mietvertrag lediglich
einen Anspruch auf Leistung des Selbstbehalts von 550 €. Die Allgemeinen
Geschäftsbedingungen der Klägerin, wonach der Beklagte auch bei
vertraglicher Haftungsfreistellung dann voll hafte, wenn er den Schaden
vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt habe, seien
Vertragsbestandteil geworden. Der Beklagte habe mit der Übergabe des
Fahrzeugs den schriftlichen Mietvertrag mit dem Hinweis auf die AGB der
Klägerin erhalten. Der Hinweis sei daher entsprechend § 305 Abs. 2 BGB bei
und nicht erst nach Vertragsschluss erfolgt. Auch sei der Hinweis
ausdrücklich im Sinne der genannten Vorschrift gewesen. Er sei nämlich so
angeordnet gewesen, dass er von einem Durchschnittskunden auch bei
flüchtiger Betrachtung nicht habe übersehen werden können. Schließlich habe
sich der Beklagte - jedenfalls durch schlüssiges Verhalten - mit der Geltung
der AGB einverstanden erklärt, da er nach Übergabe des schriftlichen
Vertragstextes, der den Hinweis auf die AGB enthalten habe, das Fahrzeug in
Empfang genommen habe und es so zum Vertragsschluss gekommen sei. Inhaltlich
sei die Klausel nicht zu beanstanden. Danach hafte der Beklagte aber für den
eingetretenen Schaden nicht über den Selbstbehalt von 550 € hinaus. Denn der
Klägerin sei der Nachweis nicht gelungen, der Beklagte habe den Unfall grob
fahrlässig verschuldet. In tatsächlicher Hinsicht sei davon auszugehen, dass
der Beklagte, als zum Unfallzeitpunkt ein Fuchs die vom Beklagten nachts um
ca. 4.00 Uhr mit einer Geschwindigkeit von ca. 120 km/h befahrene Autobahn A
8 gekreuzt habe, reflexartig leicht nach rechts ausgewichen sei und dabei
mit dem Fahrzeug der Klägerin die Leitplanke gestreift habe. Aufgrund dieses
Sachverhalts liege jedenfalls ein in subjektiver Hinsicht unentschuldbares
Fehlverhalten, das ein gewöhnliches Maß erheblich übersteige, nicht vor.
Zwar habe der Bundesgerichtshof (Urteil vom 18. Dezember 1996 - IV ZR 321/95
- NJW 1997, 1012) im Rahmen einer Teilkaskoversicherung entschieden, dass
ein Kraftfahrer, der mit einem Mittelklasse-Pkw bei einer Geschwindigkeit
von etwa 90 km/h einem Hasen ausweiche, grob fahrlässig handele. In jenem
Fall sei es jedoch um die Frage gegangen, ob ein Versicherungsnehmer im
Rahmen einer Teilkaskoversicherung es nach §§ 62, 63 VVG für geboten halten
dürfe, zur Abwendung und Minderung des (drohenden) Schadens einem Kleintier
auszuweichen. Im Rahmen einer solchen Konstellation habe der
Bundesgerichtshof ausgeführt, der Versicherungsnehmer habe sich grob
fahrlässig über die Erforderlichkeit der Aufwendungen zur Vermeidung des
versicherten Schadens geirrt und könne deswegen nach §§ 62, 63 VVG seine
Aufwendungen (Rettungskosten) nicht ersetzt verlangen. Im vorliegenden Fall
gehe es jedoch nicht um den Ersatz von Aufwendungen für Rettungsmaßnahmen,
sondern darum, ob der Versicherungsfall als solcher durch grobe
Fahrlässigkeit herbeigeführt worden sei. Im Rahmen dieser Prüfung dürfe ein
reflexartiges Ausweichen nicht bereits als subjektiv völlig unentschuldbar
und somit grob fahrlässig eingestuft werden. Denn es entspreche der
natürlichen Reaktion eines Menschen, einem plötzlich auftauchenden Hindernis
auszuweichen und einen Zusammenstoß zu vermeiden und nicht auf das Hindernis
zuzufahren. Eine solche "natürliche", wenn auch u.U. nicht sinnvolle oder
zweckmäßige Reaktion bei unvermitteltem Auftauchen eines Fuchses auf der
Fahrbahn könne als fahrlässig angesehen werden, nicht aber als subjektiv
völlig unentschuldbares Fehlverhalten, das ein gewöhnliches Maß erheblich
übersteige.
II.
10 Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Nachprüfung im
Ergebnis stand.
11 1. Zu Recht geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Allgemeinen
Geschäftsbedingungen der Klägerin nach § 305 Abs. 2 BGB Vertragsbestandteil
geworden sind.
12 a) Dem hält die Revisionserwiderung zwar entgegen, der Beklagte habe im
Einzelnen vorgetragen, dass der Mietvertrag mündlich und damit ohne Hinweis
auf Allgemeine Geschäftsbedingungen der Klägerin geschlossen worden sei.
Dies habe die Klägerin auch nicht bestritten.
13 Dem kann jedoch nicht gefolgt werden. Die Klägerin hat bestritten, dass
zwischen den Parteien zunächst ein mündlicher Vertrag über das Fahrzeug
abgeschlossen worden sei und erst dann der Beklagte auf ihre Allgemeinen
Geschäftsbedingungen hingewiesen worden sei. Des weiteren ist
revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht die
mündlichen Abreden der Parteien über die Anmietung des Fahrzeuges, die
Übergabe des schriftlichen Mietvertrages und die Übergabe des Fahrzeugs als
einen einheitlichen Vorgang gesehen hat, die als ganzes den Vertragsschluss
bildeten.
14 b) Das Berufungsgericht konnte auch - entgegen der Auffassung der
Revisionserwiderung - im Rahmen des ihm zukommenden Beurteilungsspielraums
ohne Rechtsfehler davon ausgehen, dass der Hinweis auf die Allgemeinen
Geschäftsbedingungen für einen Kunden mit durchschnittlicher Aufmerksamkeit
nicht zu übersehen und damit im Sinne von § 305 Abs. 2 BGB ausdrücklich sei.
Diese Bewertung hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei darauf gestützt,
dass der gesamte Vertragstext nur eine Seite umfasst und der Hinweis auf die
Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu Beginn eines neuen Absatzes und somit
drucktechnisch etwas abgehoben erscheint.
15 2. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass nach ständiger
Rechtsprechung der Zivilsenate des Bundesgerichtshofs grob fahrlässig
derjenige handelt, der die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den
gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maß verletzt und unbeachtet lässt,
was im gegebenen Fall jedem einleuchten müsse. Im Gegensatz zur einfachen
Fahrlässigkeit muss es sich bei einem grob fahrlässigen Verhalten um ein
auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbares Fehlverhalten handeln, das ein
gewöhnliches Maß erheblich übersteigt (vgl. BGH Urteil vom 29. Januar
2003 - IV ZR 173/01 - NJW 2003, 1118, 1119 m.w.N.).
16 Ob die Fahrlässigkeit im Einzelfall als einfach oder grob zu bewerten
ist, ist Sache der tatrichterlichen Würdigung. Sie erfordert eine Abwägung
aller objektiven und subjektiven Tatumstände und entzieht sich deshalb
weitgehend einer Anwendung fester Regeln. Diese tatrichterliche
Würdigung ist mit der Revision nur beschränkt angreifbar. Nachgeprüft werden
kann nur, ob in der Tatsacheninstanz der Rechtsbegriff der groben
Fahrlässigkeit verkannt worden ist oder ob beim Bewerten des Grads der
Fahrlässigkeit wesentliche Umstände außer Betracht geblieben sind. Haben die
Tatsachengerichte hiergegen nicht verstoßen, sind etwaige unterschiedliche
Beurteilungen ähnlich liegender Sachverhalte hinzunehmen (vgl. BGH Urteil
vom 25. Juni 2003 - IV ZR 276/02 - NJW 2003, 2903, 2904).
17 Im vorliegenden Fall lässt die Wertung des Oberlandesgerichts, der
Beklagte habe nicht grob fahrlässig gehandelt, im Ergebnis keinen
Rechtsfehler erkennen, der zur Aufhebung des Berufungsurteils führte.
18 Unzutreffend ist allerdings die Ansicht des Berufungsgerichts, der
Begriff der groben Fahrlässigkeit sei jeweils nach der konkreten
Versicherungssituation unterschiedlich zu definieren. Vielmehr wird, worauf
die Revision zu Recht hinweist, der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit
nach ständiger Rechtsprechung der Zivilsenate des Bundesgerichtshofs
grundsätzlich einheitlich bestimmt (vgl. BGH Urteil vom 29. Januar 2003
- IV ZR 173/01 - NJW 2003, 1118 m.w.N.). An diesem Grundsatz ist schon
aus Gründen der Rechtssicherheit festzuhalten. Die vom Berufungsgericht
befürwortete unterschiedliche Definition des Begriffs führte im
Versicherungsrecht wegen der zahlreichen verschiedenen Arten von
Versicherungen zu einer kaum noch überschaubaren Aufsplitterung des Begriffs
der groben Fahrlässigkeit und damit zu einer nicht hinnehmbaren
Rechtsunsicherheit. Die gegenteiligen Ausführungen des Berufungsgerichts
lassen jedoch seine Bewertung unberührt, der Beklagte habe im konkreten Fall
nicht grob fahrlässig gehandelt.
19 Auch die Ausführungen des Oberlandesgerichts, das reflexartige Ausweichen
des Beklagten als Reaktion auf das plötzliche Auftauchen eines Fuchses
stelle grundsätzlich kein grob fahrlässiges Fehlverhalten dar, nötigt - im
Gegensatz zur Meinung der Revision - im Ergebnis nicht zur Aufhebung des
Berufungsurteils. Zwar mag die Aussage des Berufungsgerichts, eine
Reflexhandlung stelle grundsätzlich kein grob fahrlässiges Fehlverhalten
dar, zu weit gehen und zu allgemein sein. So wäre in der Situation des
Beklagten ein reflexartiges abruptes und unkontrolliertes Ausweichmanöver
verbunden mit einer scharfen Abbremsung, aufgrund dessen der Fahrer die
Herrschaft über sein Fahrzeug verliert, in der Regel auch subjektiv als grob
fahrlässig begangener Fahrfehler zu bewerten.
20 Dies ändert jedoch nichts daran, dass im konkreten Fall die Würdigung des
Berufungsgerichts Bestand hat, wonach dem Beklagten subjektiv grobe
Fahrlässigkeit nicht anzulasten ist. Nach den Feststellungen des
Oberlandesgerichts ist davon auszugehen, dass der Beklagte, als zum
Unfallzeitpunkt ein Fuchs die von ihm nachts mit einer Geschwindigkeit von
ca. 120 km/h befahrene Autobahn kreuzte, reflexartig leicht nach rechts
ausgewichen ist und dabei mit dem Fahrzeug der Klägerin die Leitplanke
gestreift hat. Dass das Berufungsgericht dies nicht als ein in subjektiver
Hinsicht unentschuldbares Fehlverhalten bewertet hat, liegt im Rahmen seines
tatrichterlichen Beurteilungsspielraums und ist rechtlich nicht zu
beanstanden. |