Voraussetzungen der Verwirkung; Verwirkung
titulierter Ansprüche
BGH, Urteil vom 9. Oktober 2013 - XII
ZR 59/12 - OLG Hamburg
Fundstelle:
noch nicht bekannt
Amtl. Leitsatz:
a) Der Gläubiger verwirkt einen rechtskräftig
ausgeurteilten Zahlungsanspruch nicht allein dadurch, dass er über einen
Zeitraum von 13 Jahren keinen Vollstreckungsversuch unternimmt.
b) Zur Herausgabe eines Vollstreckungstitels bei mehreren Titelschuldnern.
Zentrale Probleme:
Im Zentrum der Entscheidung
steht das Rechtsinstitut der Verwirkung. Als Unterfall des Einwands
widersprüchlichen Verhaltens (§ 242 BGB) setzt dies neben dem Zeitablauf
auch voraus, dass der Schuldner darauf vertraut hat und darauf vertrauen
durfte, der Gläubiger werde eine Forderung nicht mehr geltend machen.
Notwendig ist also neben einer Vertrauensdisposition berechtigtes Vertrauen
des Schuldners. Zeitablauf alleine genügt dafür nicht, denn den Einfluss des
bloßen Zeitablaufs regelt allein das Verjährungsrecht. Ist die Forderung
bereits tituliert (30-jährige Verjährung nach § 197 Nr. 3 - 5 BGB), sind die
Voraussetzungen an ein berechtigtes Vertrauen besonders streng: "Lässt ein
Gläubiger seinen Anspruch durch Gerichtsurteil titulieren, gibt er bereits
dadurch zu erkennen, dass er die Forderung durchsetzen will und sich dazu
eines Weges bedient, der ihm dies grundsätzlich für die Dauer von 30 Jahren
ermöglicht. Bei dieser Ausgangslage liegt die Annahme, ein anschließendes
Ruhen der Angelegenheit könne bedeuten, der Gläubiger wolle den Anspruch
endgültig nicht mehr durchsetzen, umso ferner."
©sl 2013
Tatbestand:
1 Die Beklagte (im Folgenden:
Gläubigerin) erwirkte als gewerbliche Vermieterin in den Jahren 1993 und
1994 insgesamt fünf Vollstreckungstitel (Urteile und
Kostenfestsetzungsbeschlüsse) gegen den Kläger (im Folgenden: Schuldner) und
seinen Mitmieter. Die Forderungen sind teilweise befriedigt; weitere
Zahlungen sind streitig. Der Schuldner hat die vollständige Tilgung aller
Schuldtitel behauptet, er verfüge jedoch über keine Unterlagen und Belege
aus dem fraglichen Zeitraum mehr, da diese bereits vernichtet seien und auch
von der Bank nicht mehr reproduziert werden könnten.
2 Der letzte Vollstreckungsversuch hatte in Form einer Wohnungsdurchsuchung
im April 1995 stattgefunden. Danach ruhte die Angelegenheit, bis die
Gläubigerin im Jahr 2008 ein Inkassounternehmen mit der Einziehung der
Forderung beauftragte.
3 Mit seiner Klage hat der Schuldner die Unzulässigerklärung der
Zwangsvollstreckung und die Herausgabe der Titel verlangt. Das Landgericht
hat der Klage stattgegeben, weil die titulierten Ansprüche verwirkt seien.
Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Gläubigerin zurückgewiesen.
Hiergegen richtet sich deren vom Senat zugelassene Revision.
Entscheidungsgründe:
4 Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht.
I.
5 Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im
Wesentlichen ausgeführt: Die titulierten Ansprüche seien verwirkt.
Die Gläubigerin habe die Forderung über einen langen Zeitraum von 13 Jahren
nicht geltend gemacht. Das außerdem erforderliche Umstandsmoment
sei darin verwirklicht, dass der Schuldner sich darauf eingerichtet habe und
nach den gesamten Umständen auch darauf habe einrichten dürfen, dass die
Gläubigerin ihre Rechte aus den Titeln nicht mehr geltend machen werde. Der
Schuldner sei nach dem Ablauf von etwa 13 Jahren von 1995 bis zu dem
Zeitpunkt, als sich das Inkassobüro im Jahr 2008 bei ihm gemeldet habe,
nicht mehr in der Lage, die von ihm behauptete Erfüllung der
streitgegenständlichen Forderung zu beweisen. Sämtliche schriftlichen
Beweismittel stünden nicht mehr zur Verfügung, nachdem die zehnjährigen
Aufbewahrungsfristen abgelaufen seien. Die fehlende Sicherung von Belegen
zum Nachweis der Erfüllung stelle eine berechtigte Vertrauensdisposition des
Schuldners dar, wenn der letzte Vollstreckungsversuch mehr als zehn Jahre
zurückliege. Jedenfalls habe die Gläubigerin den Schuldner innerhalb der
zehn Jahre darauf hinweisen müssen, dass ihrer Auffassung nach die
titulierten Ansprüche noch nicht vollständig erfüllt seien und er daher
weiter mit Vollstreckungsmaßnahmen rechnen müsse.
II.
6 Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
7 1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der
Rechtsgedanke der Verwirkung, der auch im Miet- und Pachtrecht
gilt, ein Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung aufgrund
widersprüchlichen Verhaltens. Danach ist ein Recht
verwirkt, wenn der Berechtigte es längere Zeit hindurch nicht geltend
gemacht und der Verpflichtete sich darauf eingerichtet hat und nach dem
gesamten Verhalten des Berechtigten darauf einrichten durfte, dass dieser
das Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde. Die Annahme einer
Verwirkung setzt somit neben dem Zeitablauf das Vorliegen besonderer, ein
solches Vertrauen des Verpflichteten begründender Umstände voraus.
Ob eine Verwirkung vorliegt, richtet sich letztlich nach den vom Tatrichter
festzustellenden und zu würdigenden Umständen des Einzelfalles
(Senatsurteile vom 17. November 2010 - XII ZR 124/09 - NJW 2011, 445 und vom
27. Januar 2010 - XII ZR 22/07 - NZM 2010, 240 Rn. 32 mwN).
8 2. Ob der Ablauf von 13 Jahren, während derer die Titel nicht vollstreckt
wurden, eine ausreichend lange Zeitspanne darstellt, bei der eine
Anspruchsverwirkung grundsätzlich in Betracht kommt, kann im Ergebnis ebenso
dahinstehen wie die Frage, ob der Schuldner eine Vertrauensdisposition
getroffen hat, indem er die Belege, die nach seinem Vorbringen bereits im
Jahr 1997 durch seinen Steuerberater vernichtet worden waren, nicht von der
Bank reproduzieren ließ, bevor sie dort gelöscht wurden.
9 Denn jedenfalls kann dem Oberlandesgericht nicht in der Annahme
gefolgt werden, der Schuldner habe sich nach den gesamten Umständen darauf
einrichten dürfen, dass die Gläubigerin ihre Rechte aus den Titeln nicht
mehr geltend machen werde.
10 a) Bei dem Rechtsgedanken der Verwirkung kommt es in erster Linie
auf das Verhalten des Berechtigten an. Mit der Verwirkung soll die
illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten gegenüber dem Verpflichteten
ausgeschlossen werden. Dabei ist das Verhalten des Berechtigten nach
objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen. Maßgebend ist insoweit, ob
bei objektiver Beurteilung der Verpflichtete dem Verhalten des Berechtigten
entnehmen durfte, dass dieser sein Recht nicht mehr geltend machen wolle, ob
er sich also darauf einrichten durfte, dass er mit einer Rechtsausübung
durch den Berechtigten nicht mehr zu rechnen brauche (BGHZ 25, 47,
52 = NJW 1957, 1358; RGZ 155, 152).
11 Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen
daher zu dem reinen Zeitablauf besondere, auf dem Verhalten des Berechtigten
beruhende Umstände hinzutreten, die das Vertrauen des Verpflichteten
rechtfertigen, der Berechtigte werde seinen Anspruch nicht mehr geltend
machen (BGHZ 105, 290, 298 = NJW 1989, 836; BGH Urteile vom 18.
Januar 2001 - VII ZR 416/99 - NJW 2001, 1649; vom 14. November 2002 - VII ZR
23/02 - NJW 2003, 824 und vom 30. Oktober 2009 - V ZR 42/09 - NJW 2010,
1074). Der Vertrauenstatbestand kann nicht durch bloßen Zeitablauf
geschaffen werden (BGH Urteile BGHZ 43, 289, 292 = NJW 1965, 1532;
vom 20. Dezember 1968 - V ZR 97/65 - WM 1969, 182; vom 29. Februar 1984 -
VIII ZR 310/82 - NJW 1984, 1684 vom 27. März 2001 - VI ZR 12/00 - NZV 2001,
464, 466 und vom 14. November 2002 - VII ZR 23/02 - NJW 2003, 824 juris Rn.
9).
12 Hinzu kommt, dass es sich hier um titulierte Ansprüche handelt.
Lässt ein Gläubiger seinen Anspruch durch Gerichtsurteil titulieren,
gibt er bereits dadurch zu erkennen, dass er die Forderung durchsetzen will
und sich dazu eines Weges bedient, der ihm dies grundsätzlich für die Dauer
von 30 Jahren ermöglicht. Bei dieser Ausgangslage liegt die Annahme, ein
anschließendes Ruhen der Angelegenheit könne bedeuten, der Gläubiger wolle
den Anspruch endgültig nicht mehr durchsetzen, umso ferner.
13 Abgesehen davon ist der Schuldner nach etwaiger Erfüllung der Schuld
keineswegs schutzlos. Er kann nicht nur eine Quittung beanspruchen (§ 368
BGB), sondern auch den Titel selbst vom Gläubiger heraus verlangen (§ 371
BGB analog).
14 b) Nach den von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen liegt ein
vertrauensbegründendes Verhalten der Gläubigerin nicht vor. Nach den
Annahmen des Oberlandesgerichts war die Angelegenheit bei der Gläubigerin
außer Kontrolle geraten und deshalb 13 Jahre lang unbeachtet geblieben. Das
ist kein Umstand, aus dem ein Schuldner das Vertrauen gründen darf, ein
titulierter Rechtsanspruch solle nicht mehr durchgesetzt werden.
15 Im Übrigen ist das Oberlandesgericht davon ausgegangen, dass der
Schuldner seine Belege mit der Erwägung vernichtete bzw. die vom
Steuerberater vorzeitig vernichteten Belege nicht reproduzieren ließ, dass
diese wegen Ablauf der steuerlichen Aufbewahrungsfristen nicht mehr benötigt
würden. Mithin beruht seine Vertrauensdisposition nicht auf Umständen aus
der Sphäre der Gläubigerin.
16 Damit fehlt es insgesamt an einem für die Verwirkung erforderlichen
Umstandsmoment.
17 3. a) Wegen des aufgezeigten Rechtsfehlers kann die angefochtene
Entscheidung keinen Bestand haben. Der Senat kann nicht abschließend in der
Sache entscheiden, weil das Oberlandesgericht - von seinem Standpunkt aus
folgerichtig - keine Feststellungen zu der behaupteten Erfüllung der Schuld
getroffen hat.
18 b) Die Sache ist auch nicht teilweise insoweit entscheidungsreif, als die
Herausgabe der Titel verlangt wird. Entgegen der Revision wird diese nicht
bereits deshalb zu Unrecht verlangt, weil die Titel beim Gläubiger noch zur
Vollstreckung gegen einen zweiten Schuldner - den Mitmieter - benötigt
würden.
19 Eine auf § 371 BGB analog gestützte Klage auf Herausgabe der
vollstreckbaren Ausfertigung eines unter § 794 ZPO fallenden Titels ist nach
gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zulässig, wenn über eine
Vollstreckungsabwehrklage rechtskräftig zu Gunsten des Herausgabeklägers
entschieden worden ist und die Erfüllung der dem Titel zu Grunde liegenden
Forderung zwischen den Parteien unstreitig ist oder vom Titelschuldner zur
Überzeugung des Gerichts bewiesen wird (BGH Urteil vom 5. März 2009 - IX ZR
141/07 - NJW 2009, 1671 Rn. 16 mwN). Das gilt entgegen der Revision auch
dann, wenn der Titel noch zur Vollstreckung gegen einen weiteren Schuldner
berechtigen könnte. Denn soweit mehrere Schuldner als Gesamtschuldner
verurteilt sind und einer der Gesamtschuldner die Schuld beglichen hat,
bleibt für den Gläubiger nichts mehr zu vollstrecken. Soweit sie hingegen
nach Kopfteilen verurteilt sind, sind so viele Ausfertigungen zu erteilen,
wie Schuldner vorhanden sind; jede Ausfertigung ist insoweit nur mit der
Klausel gegen je einen der Schuldner zu versehen (Zöller/Stöber ZPO 29.
Aufl. § 724 Rn. 12; Seiler in Thomas/Putzo ZPO 33. Aufl. § 724 Rn. 11;
Saenger ZPO 4. Aufl. § 724 Rn. 10; Prütting/Gehrlein/Kroppenberg ZPO 4.
Aufl. § 724 Rn. 8). Der Schuldner könnte daher diejenige Ausfertigung heraus
verlangen, die mit der gegen ihn gerichteten Vollstreckungsklausel versehen
ist. Zur Vollstreckung gegen den anderen Schuldner müsste sich der Gläubiger
eine andere Ausfertigung mit Vollstreckungsklausel nur gegen diesen erteilen
lassen.
20 c) Schließlich erweist sich die Entscheidung auch nicht bereits insoweit
als richtig, wie die Beklagte zur Herausgabe der vollstreckbaren
Ausfertigung des Urteils des Landgerichts Hamburg vom 23. Juni 1994 - 326 O
391/93 - verurteilt worden ist. Zwar ist die diesem Titel zugrunde liegende
Schuld unstreitig erfüllt. Es bedarf jedoch noch weiterer Aufklärung, ob
sich die in den Händen der Gläubigerin befindliche vollstreckbare
Ausfertigung des Titels gegen den Kläger richtet und er deshalb zur
Geltendmachung des Titelherausgabeanspruchs aktivlegitimiert ist.
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