Keine Rechtshängigkeit der Aktivforderung bei Prozeßaufrechnung 

BGH, Urt. vom 11. November 1971 - VII ZR 57/70 


Fundstellen:

BGHZ 57, 242
NJW 1972, 450
Vgl. auch BGH NJW-RR 1994, 379 ff, BGH NJW 1999, 1179 sowie BGH v. 8.1.2004 - III ZR 401/02.
Zur internationalen Zuständigkeit bei einer Prozeßaufrechnung s. jetzt BGH NJW 2002, 2182; zur Frage der Rechtshängigkeitssperre nach Art. 21 EuGVÜ/Art. 27 EuGVVO s. EuGH, Urt. v. 8.5.2003, Rs. C-111/01, NJW 2003, 2596.


Zentralproblem der Entscheidung:

Ebenso wie es zulässig ist, im Prozeß hilfsweise die Aufrechnung zu erklären und gleichzeitig die Gegenforderung zum Gegenstand einer Widerklage zu machen (BGH, NJW 1961, 1862 = LM § 33 ZPO Nr. 5), ist es umgekehrt auch zulässig, eine bereits rechtshängige Forderung zur Aufrechnung zu stellen (vgl. neben der vorliegenden Entscheidung BGH NJW-RR 1994, 379, 380). Dogmatisch liegt dem die von der h.M. zu Recht geteilte Ansicht zugrunde, daß trotz der Tatsache, daß im Falle der Prozeßaufrechnung die Entscheidung über die Aktivforderung gem. § 322 Abs. 2 ZPO sowohl positiv wie negativ in Rechtskraft erwächst, diese nicht rechtshängig i.S.v. § 261 Abs. 1 ZPO wird (aus der Literatur vgl. nur Musielak-Foerste, ZPO § 261 Rn. 7 m.w.N.). Daraus folgt zweierlei: Eine Aufrechnung hindert nicht die klageweise Geltendmachung einer Forderung, weil der Klage nicht der Rechtshängigkeitseinwand aus § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO entgegensteht und umgekehrt hindert die Rechtshängigkeit der Forderung nicht ihre Geltendmachung im Wege der Aufrechnung, weil letzteres keine weitere Rechtshängigkeit begründet. Es kann damit in der Tat zu divergierenden rechtskräftigen Entscheidungen über die Forderungen kommen. Dem BGH ist allerdings recht zu geben, wenn er diese Gefahr als von "theoretischer Natur" bezeichnet. Wenn nämlich in dem Verfahren, in welchem der Aufrechnende seine Forderung einklagt ein klageabweisendes Urteil zwischen den Parteien ergeht, gilt die Forderung im Rahmen der Präjudizwirkung der materiellen Rechtskraft auch im Prozeß, in dem sie zur Aufrechnung gestellt ist, als nicht bestehend. Umgekehrt wirkt wegen § 322 II ZPO eine Entscheidung über die Aufrechnung auch für den Aktivprozeß des Aufrechnenden. Die Gefahr gegenläufiger Entscheidungen besteht also nur, wenn die verfahren zeitlich absolut synchron laufen.


Amtl. Leitsatz:

Die Aufrechnung mit einer Forderung im Prozeß macht diese nicht rechtshängig.


Sachverhalt:

Mit seiner im Dezember 1967 erhobenen Klage verlangt der Kläger Bezahlung seines Werklohns in Höhe von 3 629,76 DM nebst Zinsen.
Die Beklagte bestritt die Forderung und setzte ihr hilfsweise im Wege der Aufrechnung Ersatzansprüche entgegen.
Diese Schadensersatzansprüche sind zum Teil bereits Gegenstand eines Rechtsstreits der Beklagten gegen den Kläger, in welchem erstere mit Klage vom 19. Mai 1965 Bezahlung von 2 007,89 DM verlangte. Nach Erlaß und Rechtskraft eines Grundurteils hatte die Beklagte im Betragsverfahren außerdem die Feststellung begehrt, daß der Kläger verpflichtet sei, ihr auch weiteren Schaden zu ersetzen. Dieser Rechtsstreit ist noch beim Landgericht Bad Kreuznach anhängig.
Im Hinblick auf diesen Rechtsstreit macht der Kläger gegenüber der Aufrechnung der Beklagten die Gegeneinrede der Rechtshängigkeit geltend (§ 263 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Im übrigen bestreitet er auch teilweise die Schadensersatzforderung der Beklagten.
Das Landgericht hat die Klage auf Grund der Aufrechnung abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Die zugelassene Revision des Klägers wurde zurückgewiesen.

Aus den Gründen:
1. Im Streit steht nur noch die zur Aufrechnung gestellte Schadensersatzforderung der Beklagten.
Das Oberlandesgericht hat die von dem Kläger erhobene Gegeneinrede der Rechtshängigkeit zurückgewiesen. Es ist der Auffassung, daß die Beklagte nicht gehindert sei, ihre anderweit eingeklagte Forderung im vorliegenden Verfahren zur Aufrechnung zu stellen. Auch umgekehrt begründe die Aufrechnung gegenüber einer Klage keine Rechtshängigkeit. Das Oberlandesgericht beruft sich auf die im Schrifttum überwiegend vertretene entsprechende Auffassung (u. a. Stein/Jonas/Pohle ZPO, 19. Aufl. , § 145 Anm. VI 3,3 a; Wieczorek ZPO § 145 Anm. D Il b und § 263 Anm. II 1; vgl. ferner RGZ 16,370; 18,408 und 27,296). Die auf § 322 Abs. 2 ZPO gestützte gegenteilige Ansicht (Bettermann, Rechtshängigkeit und Rechtsschutzform 1949 S. 84; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht 10. Aufl. , § 106 IV 1; A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, § 60 I a) lehnt es ab.
2. Die hiergegen gerichtete Revision des Klägers ist nicht begründet.
Es geht im vorliegenden Fall im Grunde nur um die Frage, ob ein Beklagter berechtigt ist, mit einer Forderung aufzurechnen, die er anderwärts bereits eingeklagt hat. Die Frage kann aber nicht anders beantwortet werden als die umgekehrte, ob jemand eine Forderung einklagen darf, mit der er bereits in einem anderen Prozeß aufgerechnet hat. Das Berufungsgericht hat daher mit Recht die Frage dahin gestellt, ob Aufrechnung rechtshängig macht.
Mit dem Oberlandesgericht und der herrschenden Meinung verneint der Senat diese Frage. Beiläufig ist dies schon in dem Urteil VII ZR 254/69 vom 24. Juni 1971 (WM 1971,1366) geschehen.
a) Das Ergebnis folgt schon aus dem Wortlaut des § 263 Abs. 1 ZPO, der lediglich von der Begründung der Rechtshängigkeit durch eine Klage spricht. Die Aufrechnung ist aber keine Klage, auch keine Widerklage, sondern ein Verteidigungsmittel.
Auch die sonstigen Vorschriften über die Rechtshängigkeit passen nicht auf die Aufrechnung. Die Frage der Zuständigkeit (§ 263 Abs. 2. Nr. 2) spielt für die Aufrechnung keine Rolle. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Beklagte seine Aufrechnungseinrede nicht ohne Zustimmung des Klägers sollte zurücknehmen können (§ 271 ZPO), weshalb er anstelle oder neben der zunächst aufgerechneten Forderung später nur mit Zustimmung des Gegners oder bei Sachdienlichkeit eine andere sollte zur Aufrechnung stellen können (§ 264 ZPO). Tritt der Beklagte die zur Aufrechnung gestellte Forderung ab, so lassen sich die Folgen nicht nach der für die Veräußerung der Streitsache gegebenen Vorschrift (§ 265 ZPO) bestimmen, vielmehr können hierfür allein die Regeln des materiellen Rechts maßgebend sein.
b) Allerdings ist nach § 322 Abs. 2 ZPO die im Urteil getroffene Entscheidung, daß eine aufgerechnete Gegenforderung des Beklagten nicht bestehe, bis zur Höhe des Betrages, für den die Aufrechnung geltend gemacht wurde, der Rechtskraft fähig. Es trifft zu, daß der Umfang der Rechtskraft sich mit dem der Rechtshängigkeit im allgemeinen deckt. Das Gesetz hat aber diesen Grundsatz, wie schon in der Entscheidung RGZ 16,372 dargelegt ist, nicht lückenlos durchgeführt, und zwar aus dem durchaus einleuchtenden Grunde, daß sonst die Verteidigung des Beklagten unzumutbar erschwert würde. Es könnte zu schweren Unbilligkeiten führen, wenn ein Beklagter allein deshalb, weil er eine ihm zustehende Forderung bereits gerichtlich geltend gemacht hat, gehindert wäre, sie gegenüber einer vom Gegner gegen ihn erhobenen Klage nicht mehr, auch nur hilfsweise, zur Aufrechnung zu verwenden. Folgerichtig würde die Gegenmeinung sogar der Übung entgegenstehen, eine Forderung gegenüber einer Klage zur Aufrechnung zu stellen und sie hilfsweise auch zum Gegenstand einer Widerklage zu machen (dazu LM Nr. 5 zu § 33 ZPO und das oben angeführte Urteil des Senats vom 24. Juni 1971).
Freilich ist bei der hier vertretenen Ansicht die Möglichkeit nicht zu leugnen, daß einmal verschiedene Gerichte über eine zur Aufrechnung gestellte und gleichzeitig anderwärts eingeklagte Forderung verschieden rechtskräftig entscheiden. Diese Gefahr ist aber nur sehr theoretischer Natur und kann in Kauf genommen werden (vgl. auch BGHZ 56,79). Ebenso kann auch eine etwaige Vermehrung von Arbeit und Kosten, die dadurch entstehen könnte, daß über dieselbe Forderung zweimal verhandelt und Beweis erhoben wird, hingenommen werden. Wenn ein Anspruch mehrfach zur Entscheidung steht, so wissen das die Parteien selbst am besten. Sie haben deshalb auch die Möglichkeit, dies im gegebenen Fall zu vermeiden. Schließlich ist auch durch die Bestimmungen der §§ 145,302 ZPO eine Möglichkeit gegeben, solche Unzuträglichkeiten zu vermeiden.