IPR: Eheschließungsstatut (Art. 13 EGBGB);
Sonderanknüpfung nach Art. 13 II EGBGB; selbständige Anknüpfung der Vorfrage
bestehender Ehe; Ehehindernis der Schwägerschaft, ordre public (Art. 6
EGBGB); Pflicht zur Ermittlung ausländischen Rechts; Revisibilität der
Ermittlung und Anwendung ausländischen Rechts im Verwaltungsprozess;
Unterschied zwischen gew. Aufenthalt und "domicile"
BVerwG v. 19.7.2012 - 10 C 2/12
Fundstelle:
NJW 2012, 3461
Amtl. Leitsätze:
1. Das im indischen Recht der Zivilehe bestehende
Ehehindernis der direkten Schwägerschaft verstößt auch nach Aufhebung des §
4 Abs. 1 Satz 1 EheG durch das Eheschließungsrechtsgesetz vom 4. Mai 1998
nicht gegen den deutschen ordre public (Art. 13 Abs. 2 EGBGB), da es die
Eheschließungsfreiheit (Art. 6 Abs. 1 GG) nicht unverhältnismäßig
einschränkt.
2. § 173 VwGO i.V.m. § 293 ZPO verpflichtet das Gericht im
Verwaltungsprozess, ausländisches Recht unter Ausnutzung aller ihm
zugänglichen Erkenntnisquellen von Amts wegen zu ermitteln. Dabei gilt der
Grundsatz der größtmöglichen Annäherung an das ausländische Recht unter
Einbeziehung der relevanten Rechtspraxis.
3. Selbst wenn die Verfahrensbeteiligten die Feststellungen des
Tatsachengerichts zum ausländischen Recht nicht in Frage stellen, kann das
Gericht zu weiteren Ermittlungen verpflichtet sein.
4. Revisionsrechtlich ist die Ermittlung ausländischen Rechts sowie der
ausländischen Rechtspraxis im Verwaltungsprozess nicht dem Bereich der
Rechtserkenntnis zuzuordnen, sondern wie eine Tatsachenfeststellung zu
behandeln.
Zentrale Probleme:
Eine unglaublich gehaltvolle und gut begründete
Entscheidung des BVerwG zu Kernfragen des
internationalen Eherechts im Zusammenhang mit der Frage der Erteilung einer
Visumerteilung: Der Vater des Klägers, ein indischer Staatsangehöriger,
hatte, obwohl bereits verheiratet, eine deutsche Staatsangehörige
geheiratet. Nach der Scheidung dieser Ehe hatte sein Sohn in Indien dieselbe
Frau geheiratet. Es stellt sich nun die Frage der Wirksamkeit der
Eheschließung. Nach indischen Sachrecht wäre die Ehe wegen des Eheverbots
der Schwägerschaft unwirksam. Dabei ist aber im Wege der Vorfrage zu klären,
ob überhaupt eine Schwägerschaft bestand. Damit ist zu prüfen, ob die
Eheschließung des Vaters wirksam war. Das ist eine selbständig anzuknüpfende
Vorfrage (s. auch BGHZ 169, 240). Das OVG
hatte dies nach deutschem Recht geprüft, da es eine Rückverweisung des
indischen Rechts auf das deutsche Recht annahm. Dabei hätte es aber prüfen
müssen, ob der Vater z.Zt. der Eheschließung ein "domicile" in Deutschland
gehabt hat. Dieser Begriff darf mit demjenigen des gewöhnlichen Aufenthalts
nicht gleichgesetzt werden. Von Interesse ist die Entscheidung auch für die
Reichweite der Ermittlung ausländischen Rechts, s. dazu auch
BGHZ 165, 248. Ein "must" für
Schwerpunktbereichsstudierende im IPR!
©sl 2012
Gründe:
I
1 Der 1986 geborene Kläger indischer Staatsangehörigkeit möchte die
Ausstellung eines nationalen Visums zur Familienzusammenführung erreichen.
2 Der 1956 geborene Vater des Klägers reiste 1994 nach Deutschland
ein. Zu diesem Zeitpunkt war er mit einer Inderin verheiratet. Nach
Ablehnung eines Asylantrags heiratete er im August 1997 in Dänemark die
deutsche Staatsangehörige J. Diese Ehe wurde im Mai 2007 geschieden.
Der Vater des Klägers ist im Besitz einer Niederlassungserlaubnis;
ein Einbürgerungsantrag scheiterte.
3 Der Kläger reiste im August 2004 nach Deutschland ein. Sein nach Einreise
gestellter Asylantrag wurde abgelehnt; seine dagegen erhobene Klage nahm der
Kläger im Jahre 2006 zurück. Sein Versuch, die zuvor mit seinem
Vater verheiratete Frau J. im September 2007 in Schweden zu heiraten,
scheiterte. Der Kläger reiste im Oktober 2007 freiwillig nach Indien aus.
Dort ging er am 8. Februar 2008 mit Frau J. eine Zivilehe nach indischem
Recht ein.
4 Am 21. Februar 2008 beantragte der Kläger bei der Deutschen Botschaft in
Neu Delhi die Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung. Die
Botschaft beauftragte ein Ermittlungsbüro mit der Überprüfung der zur
Begründung des Antrags vorgebrachten Angaben. Dieses erläuterte in
seinem Abschlussbericht die familiären Beziehungen zwischen den beteiligten
Personen und äußerte den Verdacht, dass es sich bei der streitigen Ehe des
Klägers mit Frau J. um eine ausländerrechtliche Zweckehe handeln könnte. Die
Botschaft zog aus den vorgelegten Erkenntnissen den Schluss, die Ehe sei
wegen des in Indien bestehenden Verbots einer Ehe zwischen Stiefsohn und
Stiefmutter nichtig. Nachdem die Rechtsvorgängerin der Beigeladenen
ihre Zustimmung zur Erteilung des Visums verweigert hatte, lehnte die
Botschaft den Antrag des Klägers durch Bescheid vom 28. Juli 2008 ab.
5 Das Verwaltungsgericht hat die Klage auf Verpflichtung zur Erteilung des
Visums abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung mit der
Begründung zurückgewiesen, zwischen dem Kläger und Frau J. sei keine
wirksame Ehe zustande gekommen. Ehehindernisse in der Person des Klägers
seien gemäß Art. 13 Abs. 1 EGBGB nach indischem Recht zu prüfen, so dass
seine Ehe entsprechend dem Domizilprinzip nach indischem Sachrecht unwirksam
sei. Denn Frau J. sei die Stiefmutter des Klägers, so dass einer Ehe mit dem
Kläger das nach indischem Recht geltende Eheverbot der Schwägerschaft ersten
Grades entgegenstehe; eine solche Ehe sei nach indischem Recht nichtig. Die
Ehe zwischen Frau J. und dem Vater des Klägers sei zwar aufhebbar, bis zur
Scheidung aber wirksam gewesen. Das für diese Vorfrage maßgebliche Recht
ergebe sich aus Art. 13 Abs. 1 EGBGB. Für den Vater des Klägers, der zur
Zeit der Eheschließung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt
habe, verweise das im indischen Recht verankerte Domizilprinzip auf
deutsches Recht. Dies führe dazu, dass Frau J. die
Stiefmutter des Klägers und deshalb nach indischem Recht an einer
Eheschließung mit ihm gehindert sei. Weder Art. 13 Abs. 2 EGBGB noch Art. 6
GG oder Art. 12 EMRK stünden diesem Ergebnis entgegen. Das nach
indischem Recht geltende Eheverbot der Schwägerschaft ersten Grades sei
nicht als überzogenes Ehehindernis einzustufen, denn es sei auch in
Deutschland erst 1998 aufgehoben worden und könne das Ziel verfolgen,
intakte Familienverhältnisse aufrecht zu erhalten. Eine einschränkende
Wirkung entfalte hier auch Art. 6 EGBGB nicht, da der deutsche ordre public
die Wirkungen eines Eheverbots, das bis vor wenigen Jahren auch in
Deutschland gegolten habe, nicht ausschließen könne.
6 Der Kläger begründet seine Revision damit, dass nach Art. 13 Abs.
2 Nr. 3 EGBGB auf die Ehe des Klägers mit Frau J. deutsches Recht anwendbar
sei. Auch wenn die Ehe der Frau J. mit dem Vater des Klägers nur
aufhebbar gewesen sei, bestehe kein gewichtiges Interesse an der
Nichtanerkennung der in Indien geschlossenen Ehe des Klägers. Gerade die
Aufhebung des früher auch in Deutschland geltenden gesetzlichen Eheverbots
der Schwägerschaft in gerader Linie zeige, dass ein solches Interesse in
Deutschland nicht mehr anzuerkennen sei. Der Eingriff in die
Eheschließungsfreiheit des Klägers und seiner Ehefrau könne nach heutigem
Recht daher nicht mehr gerechtfertigt werden.
7 Die Beklagte verteidigt die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts. Der
Beigeladene stellt keinen Antrag.
II
8 Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Das Berufungsurteil
beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Mangels
ausreichender tatsächlicher Feststellungen im Berufungsurteil kann der Senat
in der Sache nicht abschließend entscheiden. Das Verfahren ist daher an das
Oberverwaltungsgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
9 1. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 6 Abs. 3
i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Nach diesen Vorschriften benötigt
ein Ausländer, der für einen längerfristigen Aufenthalt nach Deutschland
einreisen möchte, vor der Einreise ein nationales Visum. Die
Anspruchsvoraussetzungen richten sich im vorliegenden Fall nach den für die
Aufenthaltserlaubnis geltenden §§ 27 und 28 AufenthG. Diese erfordern u.a.,
dass der Kläger Ehegatte einer Deutschen mit gewöhnlichem Aufenthalt im
Bundesgebiet ist (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Das
Oberverwaltungsgericht hat dieses Tatbestandsmerkmal verneint. Nach
seinen Feststellungen ist die Ehe des Klägers mit Frau J. nach indischem
Recht nichtig, weil Frau J. aufgrund ihrer früheren Ehe mit dem Vater des
Klägers die Stiefmutter des Klägers und deshalb an einer Eheschließung mit
ihm gehindert sei. Die aus diesen tatsächlichen Feststellungen
abgeleiteten rechtlichen Schlussfolgerungen zu § 6 Abs. 3, § 28 Abs. 1 Satz
1 Nr. 1 AufenthG beruhen allerdings auf einer zu schmalen
Tatsachengrundlage, sodass sie ungeachtet der Frage, ob die Ermittlung der
maßgeblichen Tatsachen auch durch Verfahrensfehler belastet ist, einen
Verstoß gegen revisibles materielles Recht darstellen.
10 1.1 Zu Recht ist das Berufungsgericht bei der Prüfung der Frage,
ob der Kläger Ehegatte einer Deutschen geworden ist, zunächst davon
ausgegangen, dass sich das Ehestatut für beide Verlobte gemäß Art. 13 Abs. 1
EGBGB nach ihrer Staatsangehörigkeit bestimmt und dass die Vorschrift als
Gesamtnormverweisung für den Kläger auf indisches Recht verweist. Nach den
Feststellungen des Berufungsgerichts bleibt es bei dieser Verweisung, weil
das indische Recht für den Kläger nicht auf deutsches Recht zurückverweist.
Nach Sec. 4 Satz 1 Buchst. d), Sec. 24 Abs. 1 des Special Marriage
Act vom 9. Oktober 1954 (SpMA) stellt die Schwägerschaft ersten Grades ein
zur Nichtigkeit führendes Ehehindernis dar, so dass die vom Kläger
geschlossene Ehe maßgeblich davon abhängt, ob Frau J. mit dem Kläger
verschwägert ist. Dabei ist die zwischen ihr und dem Kläger
als dem Sohn ihres ehemaligen Ehemannes bestehende Beziehung nach Anlage I
Nr. 2 i.V.m. Anlage II Satz 2 SpMA als nach diesem Gesetz verbotenes
Verwandtschaftsverhältnis einzustufen. Ausnahmen oder
Befreiungsmöglichkeiten von diesem Ehehindernis sind vom Berufungsgericht
nicht festgestellt und werden von den Beteiligten auch nicht geltend
gemacht.
11 1.2 Für die dann maßgebliche Vorfrage, ob die Ehe seines Vaters
mit Frau J. bis zu ihrer Scheidung als wirksam anzusehen war oder nicht, hat
das Berufungsgericht ohne Verstoß gegen revisibles Recht sodann auch die
Bestimmung des Ehestatuts im Wege der selbstständigen Anknüpfung ausgehend
von Art. 13 Abs. 1 EGBGB vorgenommen (ebenso BGH, Urteile vom 7.
April 1976 - IV ZR 70/74 - NJW 1976, 1590 und juris, dort Rn. 17 und vom
11. Oktober 2006 - XII ZR 79/04 - BGHZ 169, 240
Rn. 12). Daraus folgt, dass indisches Kollisions- und Sachrecht auch
hinsichtlich der materiellen Eheschließungsvoraussetzungen für den Vater des
Klägers maßgeblich ist.
12 1.3 Zum Inhalt des durch Art. 13 Abs. 1 EGBGB in Bezug genommenen Rechts
hat das Oberverwaltungsgericht angenommen, dass nach dem
kollisionsrechtlichen Domizilprinzip des indischen Rechts das Recht am Ort
des gewöhnlichen Aufenthalts maßgeblich sei. Dies sei für den Vater des
Klägers zum Zeitpunkt seiner Eheschließung mit Frau J. Deutschland gewesen.
Deshalb komme ausschließlich deutsches Eherecht zur Anwendung mit
der Folge, dass seine Ehe mit Frau J. wegen des Verbots der Doppelehe
aufhebbar, jedoch nicht unwirksam gewesen sei. Aus diesem Grunde
sei eine wirksame Ehe zwischen dem Kläger und Frau J. im Hinblick auf das
Ehehindernis der Schwägerschaft nicht zustande gekommen, so dass ein
Anspruch auf Erteilung eines Visums nach § 6 Abs. 3 AufenthG nicht bestehe.
13 Die tatsächlichen Feststellungen, auf die das Berufungsgericht sich für
diese Schlussfolgerung stützt, tragen jedoch die Berufungsentscheidung
nicht. Das Oberverwaltungsgericht hat unter Verstoß gegen § 6 Abs. 3
i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG angenommen, dass der Kläger nicht
der Ehemann einer Deutschen mit gewöhnlichem Wohnsitz in Deutschland sei,
ohne für diese Annahme eine hinreichend breite Tatsachengrundlage zu
schaffen. Es hat als Regel des indischen Kollisionsrechts die Geltung des
Domizilprinzips festgestellt und angenommen, damit verweise das indische
Recht auf das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts. Diese Gleichsetzung des im
deutschen Recht geläufigen Begriffs „Domizil" mit dem aus dem common law
stammenden indischen Begriff „domicile" ist unter keinem denkbaren
Gesichtspunkt nachvollziehbar. Eine den gebotenen
Sorgfaltsanforderungen bei der Feststellung ausländischen Rechts genügende
Aufklärung hätte vielmehr ergeben, dass die offenkundigen
Unterschiede zwischen beiden Begriffen eingehende Ermittlungen zum indischen
Gesetzesrecht und zur indischen Rechtspraxis erfordert hätten. Der
Subsumtion unter dem Begriff des „Ehegatten eines Deutschen" in § 28 Abs. 1
Nr. 1 AufenthG, die das Berufungsgericht vorgenommen hat, fehlt damit eine
hinreichende Grundlage; sie beruht damit auf einer materiell fehlerhaften
Sachverhalts- und Beweiswürdigung (vgl. Beschluss vom 2. Mai 2012 -
BVerwG 10 B 10.12 -).
14 § 173 VwGO i.V.m. § 293 ZPO verpflichtet das Gericht im
Verwaltungsprozess, ausländisches Recht unter Ausnutzung aller ihm
zugänglichen Erkenntnisquellen von Amts wegen zu ermitteln. Dabei hat es
nicht nur die ausländischen Rechtsnormen, sondern auch ihre Umsetzung in der
Rechtspraxis zu betrachten (s. nur BVerwG, Beschluss vom 10.
Dezember 2004 - BVerwG 1 B 12.04 -Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 67, Urteil
vom 30. Oktober 1990 - BVerwG 9 C 60.89 - BVerwGE 87, 52 <59>). Der
an diese Ermittlungspflicht anzulegende Maßstab ist streng. Es gilt der
Grundsatz der größtmöglichen Annäherung an das ausländische Recht, das in
seinem systematischen Kontext, mit Hilfe der im ausländischen Rechtssystem
gebräuchlichen Methoden und unter Einbeziehung der ausländischen
Rechtsprechung erfasst werden muss. Mit welchen Erkenntnismitteln das
maßgebliche ausländische Recht festzustellen ist, hat das Tatsachengericht
nach seinem Ermessen zu entscheiden. Je komplexer und „fremder" im Vergleich
zum deutschen Recht das anzuwendende Recht ist, desto höhere Anforderungen
sind an die richterliche Ermittlungspflicht zu stellen (vgl.
BGH, Urteile vom 13. Dezember 2005 - XI ZR 82/05 -
BGHZ 165, 248, vom 21. Januar 1991 - II ZR 50/90 - NJW 1991, 1418 und
vom 27. April 1976 - VI ZR 264/74 - NJW 1976, 1588). Eine
Beweiserhebung zur Bestimmung des ausländischen Rechts und der maßgeblichen
Rechtspraxis ist statthaft, aber nur erforderlich, soweit das ausländische
Recht dem Gericht unbekannt ist (vgl. § 293 Satz 1 ZPO), etwa weil
es aufgrund sprachlicher Barrieren keinen unmittelbaren Zugang dazu hat.
15 Selbst wenn die Verfahrensbeteiligten die Feststellungen des
Tatsachengerichts zum ausländischen Recht nicht in Frage stellen, kann das
Gericht zu weiteren Ermittlungen verpflichtet sein. Dies gilt nicht nur bei
der Feststellung offenkundiger Tatsachen, sondern auch dann, wenn zwar nicht
eine relevante Tatsache selbst, sondern die Erforderlichkeit einer weiteren
Aufklärung zur Verbesserung einer unzureichenden Entscheidungsgrundlage
offenkundig ist. Denn der Inhalt ausländischen Rechts kann, nicht
anders als dies auch bei inländischem Recht der Fall ist, regelmäßig nur im
Wege richterlicher Erkenntnis festgestellt werden, so dass dem Gericht
insoweit eine besondere Verantwortung bei der Entscheidung über die
Erforderlichkeit von Sachaufklärungsmaßnahmen zukommt. Insbesondere wenn
handgreifliche Indizien dafür sprechen, dass die von den Beteiligten
vertretenen Positionen zum ausländischen Recht unzutreffend sind, hat es den
verfügbaren Quellen zu dem jeweils maßgeblichen ausländischen Recht und
seiner praktischen Anwendung nachzugehen, auch um ggf. die Notwendigkeit
einer sachverständigen Begutachtung zu prüfen. Lässt sich der Inhalt des
ausländischen Rechts auch unter Ausschöpfung der verfügbaren
Erkenntnismittel nicht feststellen, ist ggf. nach einem Ersatzrecht zu
entscheiden (vgl. BGH, Urteil vom 23. Dezember 1981 - IVb ZR 643/80
- NJW 1982, 1215 und vom 26. Oktober 1977 - IV ZB 7/77 - BGHZ 69, 387);
eine Beweislastentscheidung kommt nicht in Betracht.
16 Revisionsrechtlich ist die Ermittlung ausländischen Rechts sowie
der ausländischen Rechtspraxis im Verwaltungsprozess nicht dem Bereich der
Rechtserkenntnis zuzuordnen, sondern ungeachtet der vorerwähnten
Besonderheiten wie eine Tatsachenfeststellung zu behandeln (stRspr,
Urteil vom 7. April 2009 - BVerwG 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329 Rn. 17;
Beschlüsse vom 23. Januar 2008 - BVerwG 10 B 88.07 - Buchholz 310 § 173 VwGO
Nr. 1 und vom 2. Juni 2008 - BVerwG 6 B 17.08 - Buchholz 430.4
Versorgungsrecht Nr. 50); § 545 ZPO findet keine Anwendung
(vgl. Meissner, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2012, § 173
Rn. 277). Das Bestehen bzw. Nichtbestehen ausländischer
Ehehindernisse als Vorfrage eines aufenthaltsrechtlichen Anspruchs ist daher
kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis; dies gilt ebenso für die Frage,
welchen Inhalt eine Regel des ausländischen Kollisionsrechts hat und wie sie
in der Rechtspraxis angewendet wird. An die Feststellungen des
Berufungsgerichts zum ausländischen Recht ist das Revisionsgericht deshalb
in den Grenzen des § 137 Abs. 2 VwGO gebunden. Allerdings können
auch in das Revisionsverfahren in bestimmten Fällen Tatsachenfeststellungen
- ggf. auch gegen den übereinstimmenden Willen der Verfahrensbeteiligten -
eingeführt werden, etwa wenn es sich um offenkundige Tatsachen handelt oder
um die Ersetzung aktenwidriger Feststellungen des Berufungsgerichts durch
aktenkundige (vgl. etwa Urteile vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C 25.07 -
Buchholz 402.25 § 71 AsylVfG Nr. 15 Rn. 17 und vom 25. Juni 2009 - BVerwG 2
C 68.08 - Buchholz 232.0 § 46 BBG 2009 Nr. 1 Rn. 22).
17 Den dargestellten Sorgfaltsanforderungen ist das Berufungsgericht nicht
gerecht geworden. Es hat sich für die - zutreffende - Feststellung,
im indischen Recht gelte als Kollisionsregel das Domizilprinzip, auf eine
Erkenntnisquelle bezogen, die dies zwar ausführt, in engem räumlichem
Zusammenhang damit aber zugleich auf den grundlegenden Unterschied dieses
Prinzips vom europäisch-kontinentalen Wohnsitzbegriff hinweist und deshalb
betont, das „domicile" einer Person sei entsprechend der englischen
Rechtstechnik festzustellen (Bergmann/Ferid, Internationales Ehe-
und Kindschaftsrecht, Indien, Stand: 30. Juni 1989, S. 11
und 12). Sowohl die Kommentarliteratur als auch verfügbare
monografische Darstellungen (vgl. Man-kowski, in: Staudingers
Kommentar zum BGB, Neubearbeitung 2011, vor Art. 13 EGBGB Rn. 18 f., 20 ff.;
Sonnenberger, in: Münchener Kommentar zum BGB, Einl. IPR Rn. 726 ff.;
Kreitlow, Das domicile-Prinzip im englischen Internationalen Privatrecht und
seine europäische Perspektive, Peter Lang, 2002; Elwan, Gutachten zum
ausländischen Familien- und Erbrecht, 2005, S. 158 ff., 162 ff., 173 ff.,
jeweils m.w.N. zur indischen Rechtsprechung; Ferid, Internationales
Privatrecht, 3. Aufl. 1986 S. 41; Dosi, Validity of Marriage and Conflict of
Laws, ILI Law Review 2010, 269 <281 ff.>) heben übereinstimmend
hervor, dass eine Gleichsetzung des im common law wurzelnden Begriffs „domicile"
mit dem im Sinne des gewöhnlichen Aufenthalts verwendeten Domizilbegriff des
deutschen Rechts unrichtig sei und dass aufgrund der Besonderheiten des
indischen bzw. im common law wurzelnden Begriffs regelmäßig zahlreiche
tatsächliche Feststellungen zu treffen seien, bevor die Zuschreibung eines „domicile"
möglich sei. In einer derartigen Situation hätte das
Berufungsgericht zunächst den Begriff des „domicile" eingehend klären und
sodann die für eine Subsumtion erforderlichen Tatsachen ermitteln müssen.
18 Da ohne ein vertieftes Verständnis des „domicile"-Begriffs und
ohne die zu seiner Anwendung aller Wahrscheinlichkeit nach erst noch zu
ermittelnden Tatsachen die Frage nicht beantwortet werden kann, ob die Ehe
des Vaters des Klägers mit Frau J. nach deutschem oder indischem Recht zu
beurteilen ist, lässt sich auf der Grundlage der vom Berufungsgericht
ermittelten Tatsachen auch das Vorliegen der tatbestandlichen
Voraussetzungen des § 28 AufenthG weder in positiver noch in negativer
Hinsicht klären. Somit kommt nur eine Zurückverweisung an das
Oberverwaltungsgericht in Betracht.
19 1.4 Die Frage, ob der Eheschließung des Klägers mit Frau J. das
Ehehindernis der Schwägerschaft entgegensteht, weil Frau J. als Stiefmutter
des Klägers anzusehen wäre, kann auch nicht deswegen dahinstehen, weil auf
der Grundlage des Art. 13 Abs. 2 EGBGB ausnahmsweise die Anwendung deutschen
Rechts in Betracht käme. Hierzu hat das Berufungsgericht die
Auffassung vertreten, dass diese Vorschrift im vorliegenden Fall nicht
durchgreift. Dies steht im Einklang mit revisiblem Recht.
20 Nach Art. 13 Abs. 2 EGBGB ist für die Voraussetzungen der
Eheschließung deutsches Recht u.a. dann anzuwenden, wenn nach ausländischem
Recht eine materielle Eheschließungsvoraussetzung fehlt, einer der Verlobten
Deutscher ist, die Beseitigung des Ehehindernisses gescheitert ist und wenn
die Versagung der Eheschließung gegen die Eheschließungsfreiheit des Art. 6
GG verstößt. Das ist indes nicht der Fall. Das im vorliegenden Fall
relevante Ehehindernis der Schwägerschaft in direkter Linie war bis zum
Inkrafttreten des Eheschließungsrechtsgesetzes vom 4. Mai 1998 (BGBl I S.
833) in § 4 Abs. 1 Satz 1 EheG Bestandteil des deutschen Rechts und galt
mithin noch im Zeitpunkt der Eheschließung zwischen dem Vater des Klägers
und Frau J. Seine Abschaffung war nicht zwingenden
verfassungsrechtlichen Gründen geschuldet, sondern beruhte vorrangig auf der
pragmatischen Erwägung, dass ihm aufgrund der großzügigen Befreiungspraxis
(vgl. § 4 Abs. 3 EheG) ohnehin keine praktische Bedeutung mehr zukam
(vgl. BTDrucks 13/4898 S. 13; BRDrucks 79/96 S. 33, vgl. ebenso OLG
Stuttgart vom 4. November 1999 - 19 VA 6/99 -FamRZ 2000, 821). Es
ist nicht als „überzogenes" Ehehindernis einzustufen, das als
unverhältnismäßige Einschränkung der Eheschließungsfreiheit anzusehen wäre.
Vielmehr ist die mit dem Ehehindernis der direkten Schwägerschaft verbundene
Einschränkung der Eheschließungsfreiheit nach wie vor im Hinblick auf ihren
Normzweck, Streitigkeiten in Familien zu verhindern, die durch konsekutive
Eheschließungen Verschwägerter innerhalb der (Kern-)Familie entstehen
können, als verhältnismäßig anzusehen.
21 Im Übrigen spricht die Grundentscheidung des Internationalen
Privatrechts für den Respekt gegenüber fremden Rechtsordnungen ebenfalls für
die Zulässigkeit einer solchen Einschränkung der Eheschließungsfreiheit.
Auch die konkreten Besonderheiten des vorliegenden Falles lassen
nicht erkennen, dass der Kläger oder seine deutsche Partnerin im Einzelfall
eine unverhältnismäßige Einschränkung ihrer Eheschließungsfreiheit
hinzunehmen hätten. Der Umstand, dass deutsches Recht das Ehehindernis der
direkten Schwägerschaft nicht mehr kennt und dass zugleich die Eheschließung
des Klägers bei einer isolierten Betrachtung auch der Vorehe seines Vaters
ausschließlich nach indischem Recht möglicherweise wirksam wäre, führt zu
keinem abweichenden Ergebnis. Denn die maßgebliche Kollisionsnorm
des Art. 13 Abs. 1 EGBGB verweist für die Beurteilung der
Eheschließungsvoraussetzungen gerade nicht nur auf indisches Sachrecht,
sondern auch auf das relevante Kollisionsrecht. Damit wird die dem
indischen Recht möglicherweise zu entnehmende Entscheidung, bestimmte
Aspekte des Falles durch den renvoi in deutsches Recht nach dessen Regeln zu
beurteilen, zu einer sich auf die Eheschließungsfreiheit auswirkenden Folge
des deutschen Kollisionsrechts und ist bis zur - hier gerade nicht
überschrittenen - Grenze der Unverhältnismäßigkeit hinzunehmen. Die vom
Kläger herangezogene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte zu Art. 12 EMRK (Entscheidung der 4. Sektion vom 13.
September 2005 - Nr. 36536/02) betraf eine Fallkonstellation langjährigen
Zusammenlebens in ständiger Partnerschaft, die mit dem vorliegenden Fall
nicht vergleichbar und nicht auf diesen zu übertragen ist.
22 Auch Art. 6 EGBGB führt im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung
deutschen Rechts auf die Ehe des Klägers mit Frau J. Selbst wenn dem
allgemeinen ordre public-Gebot neben der speziellen Norm des Art. 13 Abs. 2
EGBGB ein Anwendungsbereich verbleiben sollte, läge hier kein solcher
Anwendungsfall vor, da es bei dem Ehehindernis der Schwägerschaft um ein
Hindernis geht, das von Art. 13 Abs. 2 EGBGB erfasst ist und damit im Rahmen
des Art. 6 EGBGB keine Rolle spielt.
23 2. Für das neue Berufungsverfahren weist der Senat auf Folgendes
hin:
24 2.1 Für die am 8. Februar 2008 geschlossene Ehe zwischen dem
Kläger und Frau J. wird zunächst zu prüfen sein, ob das indische
Kollisionsrecht eine Zurückverweisung auf deutsches Recht vornimmt;
hierfür werden der Bedeutungsgehalt des „domicile"-Begriffs und seine
Anwendung in der indischen Rechtspraxis zu klären sein. Insbesondere könnte
- auch wenn dies fern liegen mag - von Bedeutung sein, ob der Kläger
sein „domicile of origin" schon durch die bloße Eheschließung mit Frau J.
und seinen streitgegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Visums
zugunsten eines „domicile of choice" aufgegeben haben könnte. Bei der
Ermittlung und Auslegung des „domicile"-Begriffs im indischen Recht wird
möglicherweise auch die Frage eine Rolle spielen müssen, ob dieser Begriff
an den Veränderungen teilhat, denen das Konzept des „domicile" im common law
seit dem Erlass des Special Marriage Act (1954) ausgesetzt ist
(vgl. hierzu etwa Kreitlow, a.a.O. S. 185 ff.).
25 2.2 Sodann wird der Frage nachzugehen sein, ob die Wirksamkeit
der Vorehe zwischen dem Vater des Klägers und Frau J. tatsächlich, wie es
das Berufungsgericht angenommen hat, als Vorfrage für die Wirksamkeit der
Ehe zwischen dem Kläger und Frau J. von Bedeutung ist. Zu denkbaren
Folgen einer - auch nur versuchten - Eheschließung nach indischem Recht
liegen bisher ebenso wenig hinreichende Erkenntnisse vor wie zu der Frage,
ob im indischen Sachrecht die Möglichkeit der Heilung einer fehlerhaften Ehe
vorgesehen ist und im vorliegenden Fall eine Rolle spielen könnte.
26 2.3 Sollte allerdings der rechtliche Bestand der Vorehe bis zur
Scheidung von Bedeutung sein, wird auf der Grundlage der Feststellungen zum
indischen Konzept des „domicile" die Frage zu beantworten sein, nach welchem
Recht die materiellen Eheschließungsvoraussetzungen in der Person des Vaters
des Klägers - bezogen auf das Jahr 1997 - zu bestimmen sind. Für die
Begründung eines „domicile of choice" wird es möglicherweise auf subjektive
Tatsachen ankommen, insbesondere auf die Frage, ob und in welchem Ausmaß der
Vater des Klägers die Kontakte zu seiner indischen Familie nach seiner
Einreise nach Deutschland aufrechterhalten hatte und dies auch nach der
Eheschließung plante. Auch wird ggf. zu entscheiden sein, welche
Auswirkungen auf die mögliche Wahl eines vom „domicile of origin"
abweichenden „domicile of choice" der Asylantrag und seine Ablehnung auf den
hierauf erforderlichen animus manendi als subjektive Voraussetzung hatten;
dabei wird auch das einem Asylbegehren innewohnende Element des nur
vorübergehend gesuchten Schutzes vor Verfolgung durch staatliche Gewalt zu
würdigen sein.
27 2.4 Sollte nach hinreichender Sachaufklärung zum Inhalt und zur
Anwendung des „domicile"-Prinzips anzunehmen sein, dass die Ehe zwischen dem
Vater des Klägers und Frau J. nach deutschem Recht zu beurteilen wäre, so
ist die Annahme des Berufungsgerichts, dass diese Ehe nach deutschem
Eherecht als Doppelehe nicht ohne Weiteres als nichtig, sondern nur als
aufhebbar behandelt werden dürfe, revisionsgerichtlich im Ergebnis nicht zu
beanstanden. Dies beruht allerdings nicht auf den §§ 1313, 1314
i.V.m. § 1306 BGB, sondern auf den §§ 5, 16, 20 und 23 des zum Zeitpunkt der
Eheschließung noch geltenden Ehegesetzes (EheG). Nach § 20 Abs. 1
EheG ist eine Doppelehe nichtig, doch kann sich nach § 23 EheG niemand auf
die Nichtigkeit berufen, solange nicht die Ehe durch gerichtliches Urteil
für nichtig erklärt worden ist. Diese Regelungen
entsprechen trotz ihres Wortlauts in der Sache einer Anfechtbarkeit nach
heutigem Recht (vgl. Müller-Gindullis, in: Münchener Kommentar, 3.
Aufl. 1993, § 16 EheG Rn. 1 und § 23 EheG Rn. 1). Sollte die Ehe
zwischen dem Vater des Klägers und Frau J. also nach deutschem Recht zu
beurteilen sein, so könnte sich mangels gerichtlicher Aufhebung der Ehe
niemand auf die Nichtigkeit berufen; für den Zeitraum bis zur Scheidung am
2. Mai 2007 wäre die Ehe vielmehr als wirksam zu behandeln.
28 2.5 Falls sich hingegen, abweichend von der bisherigen Annahme
des Berufungsgerichts, ergeben sollte, dass die Vorehe des Vaters des
Klägers mit Frau J. nach indischem Recht zu beurteilen ist, wäre zunächst zu
klären, ob die Bestimmungen des Special Marriage Act (1954) oder diejenigen
des Foreign Marriage Act (1969) - etwa dessen Sec. 23 (Recognition of
Marriages Solemnized under Law of other Countries) - auf die 1997
geschlossene Ehe anzuwenden sind. Auslegung und Rechtspraxis der danach
maßgeblichen Vorschriften wären sodann zu ermitteln. Dazu zählt auch die
Frage, ob es die Möglichkeit einer Befreiung von dem Ehehindernis der
Doppelehe bzw. ggf. die Möglichkeit der Heilung einer fehlerhaften Ehe gibt.
29 2.6 Schließlich bedarf es für den Fall, dass die Ehe des Klägers mit Frau
J. wirksam zustande gekommen sein und die Erteilung eines Visums deshalb
grundsätzlich in Betracht kommen sollte, einer Entscheidung zu der Frage, ob
diese Ehe ausschließlich zu dem Zweck geschlossen wurde, dem Kläger die
Einreise in das und den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen (§ 27 Abs.
1a Nr. 1 AufenthG). Die vom Verwaltungsgericht hierzu aufgrund der
Vernehmung der Frau J. als Zeugin geäußerte Einschätzung wäre ggf. zu
überprüfen. Falls das Vorliegen einer ausländerrechtlichen Zweckehe zu
verneinen wäre, müssten auch die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen der §§
27 und 28 AufenthG geklärt werden.
30 3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
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