Fortgang des Verfahrens bei Unwirksamkeit des Prozeßvergleichs ("Doppelnatur") 

BGH, Urt. v. 15. April 1964 - I b ZR 201/62 - 

Fundstelle:

BGHZ 41, 310 ff
Vgl. auch BGH NJW 1999, 2903



Amtl. Leitsatz:

Haben die Parteien den Rechtsstreit durch einen Prozeßvergleich beendet, so können sie diese verfahrensrechtliche Wirkung des Vergleichs nicht durch eine übereinstimmende Verzichtserklärung auf die Rechte aus dem Vergleich mit der Folge beseitigen, daß der Rechtsstreit fortgesetzt werden kann (Ergänzung zu BGHZ 16, 388 und BGHZ 28, 171). 



Aus den Gründen:

1. Die Revision wendet sich vergeblich gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, die Parteien hätten durch die zu Protokoll gegebene Erklärung, daß sie gemeinsam auf die Rechte aus dem Prozeßvergleich verzichteten, um zu erreichen, daß das Verfahren fortgesetzt werden könne, die das Verfahren beendigende Wirkung des Vergleichs nicht beseitigen können...
2. Der Prozeßvergleich hat eine rechtliche Doppelnatur; als Prozeßhandlung bestimmt sich seine Wirksamkeit nach den Grundsätzen des Verfahrensrechts, als privatrechtlicher Vertrag unterliegt er den Regeln des materiellen Rechts (BGHZ 16, 388, 390; 28, 171, 172). Seine verfahrensrechtliche Wirkung besteht darin, daß er den Rechtsstreit beendet, also die Rechtshängigkeit beseitigt.
Die Frage, ob die materiell rechtliche Unwirksamkeit eines Prozeßvergleichs auch die prozeßbeendende Wirkung beseitigt, ob also der Streit um die Wirksamkeit des Vergleichs in einem neuen Rechtsstreit geführt werden muß oder ob der durch den Vergleich beendete Rechtsstreit fortgeführt werden kann, ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dahin entschieden, daß die Rechtswirksamkeit eines gerichtlichen Vergleichs dann in Fortsetzung des bisherigen Rechtsstreits nachzuprüfen ist, wenn seine Nichtigkeit - sei es auf Grund einer Anfechtung, sei es als von vornherein bestehende -geltend gemacht wird (BGHZ 28, 171, 176;vgl. auch BAGE 4, 84 = NJW 1957, 1127), daß aber im Falle des Rücktritts vom Vergleich (§ 326 BGB) der Rechtsstreit nicht weitergeführt werden kann, sondern die aus dem Rücktritt sich ergebenden Einwendungen in einem neuen Rechtsstreit geltend gemacht werden müssen (BGHZ 16, 388, 393; aA BAGE 3, 43 = NJW 1956, 1215).
Die Frage, ob die prozeßbeendende Wirkung eines Prozeßvergleichs auch durch einen Abänderungsvertrag der Parteien beseitigt werden kann, ob also die Parteien auch nach Ablauf einer Widerrufsfrist und damit eingetretener Erledigung des Rechtsstreits auf Grund privatrechtlicher Vereinbarung den Rechtsstreit wieder fortführen können, hat der Bundesgerichtshof, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden. Das Reichsgericht hat dazu gelegentlich bemerkt (RGZ 78, 286, 289), die Fortsetzung des alten Rechtsstreits müsse möglich sein, wenn beide Parteien übereinstimmend erklären, der Prozeßvergleich solle keine Wirkung haben und dem früheren Rechtsstreit solle Fortgang gegeben werden, als ob der Prozeßvergleich nicht geschlossen worden wäre; im Schrifttum vertreten Rosenberg (Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts 9. Aufl. § 128 III 2i S. 630) und Lehmann (Der Prozeßvergleich, 1911, S. 240) die Auffassung, daß der Prozeßvergleich von den Parteien durch übereinstimmende Erklärung beseitigt werden könne und dann der Fortsetzung des Rechtsstreits nicht im Wege stehe.
Der erkennende Senat vermag sich dieser Auffassung nicht anzuschließen. Vielmehr sprechen die Gründe, die für die Geltendmachung der Rücktrittsfolgen in einem neuen Rechtsstreit ausschlaggebend sind, in verstärktem Maße dafür, die verfahrensrechtliche Wirkung des Prozeßvergleichs nicht durch Parteivereinbarung beseitigen zu lassen. Den entscheidenden Unterschied zwischen den verfahrensrechtlichen Folgen von Anfechtung und Rücktritt vom Vergleich hat der Bundesgerichtshof (BGHZ 16, 388, 392) darin gesehen, daß im Falle der Anfechtung eine von Anfang an mangelhafte Erklärung beseitigt wird, während der Rücktritt eine zunächst mangelfreie Vereinbarung nachträglich wegen später eingetretener Umstände wirkungslos macht, wobei der Eintritt dieser Folge im Falle des Rücktritts gemäß § 326 BGB von der Ausübung des Wahlrechts durch den Berechtigten im Sinne des Rücktritts oder der Schadensersatzforderung abhängt. Ist also in dem einen Falle - besonders deutlich beim nichtigen Prozeßvergleich - die Rechtshängigkeit nie beendet worden, weil ein mangelfreier Prozeßvergleich nicht vorgelegen hat, so handelt es sich im anderen Falle darum, ob die wirksam beendete Rechtshängigkeit dadurch wiederaufleben kann, daß die Parteien durch übereinstimmende Erklärungen außerhalb des Rechtsstreits die Wirkung ihrer Prozeßhandlung wieder beseitigen. Dabei steht außer Zweifel, daß sie zwar durch einen Abänderungs- oder Aufhebungsvertrag die materiellrechtlichen Wirkungen des Prozeßvergleichs abändern oder beseitigen können; doch hat das nichts mit der Frage zu tun, ob insoweit auch die prozeßbeendigende Wirkung des Vergleichs aufgehoben wird. Davon geht offenbar auch Bonin (Der Prozeßvergleich, 1957, S. 94/95) aus, wenn er bemerkt, daß die Parteien in der Lage seien, durch eine außergerichtliche Vereinbarung die in einem Prozeßvergleich begründeten Rechte und Pflichten ganz oder zum Teil abzuändern oder aufzuheben, daß aber, falls gleichwohl die Zwangsvollstreckung aus dem Prozeßvergleich weiter betrieben werde, dagegen nur im Wege der Klage nach § 767 ZPO vorgegangen werden könne.
Daß Bedenken dagegen bestehen, den Parteien allgemein die Fortführung eines bereits beendeten Rechtsstreits in die Hand zu geben, hat auch Lehmann nicht verkannt, der es (aaO S. 240) als ungewöhnlich bezeichnet, daß - nach seiner Auffassung - eine schon erloschene Rechtshängigkeit ohne Klageerhebung wieder aufleben soll. Demgegenüber ist es nicht überzeugend, wenn er an seiner Auffassung nur deshalb festhält, »weil wir nirgendwo in der ZPO eine Situation von dieser Eigenart geregelt finden«. Vielmehr ist entscheidend darauf abzustellen, daß eine außerhalb des beendeten Rechtsstreits getroffene Vereinbarung der Parteien die Sache nicht von Neuem rechtshängig machen kann (vgl. auch OLG Kassel HRR 1936 Nr. 136); andernfalls wäre, da dann auch eine zeitliche Begrenzung für eine solche Vereinbarung schwerlich zu finden wäre, der Rechtsunsicherheit und dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet.
Das Berufungsgericht hat daher im Ergebnis zu Recht angenommen, daß die Erklärung der Parteien vom 2. November 1961, soweit sie durch den übereinstimmenden Verzicht auf die Rechte aus dem Vergleich die Fortführung des Rechtsstreits ermöglichen sollte, die verfahrensrechtliche Wirkung des Prozeßvergleichs, nämlich die Beendigung des Rechtsstreits, nicht beseitigen konnte. ... 


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