Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung; Ablehnung der horizontalen direkten Anwendbarkeit von Richtlinien; Verbraucherschutz -
Richtlinie 87/102/EWG des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit
EuGH, Urteil v. 7. März 1996, Rs. C-192/94 - El Corte Inglès
Fundstellen:
EuGH Slg. 1996, I-1281
NJW 1996, 1401
Leitsätze
1. Die Möglichkeit, gegenüber den staatlichen Stellen Richtlinien in
Anspruch zu nehmen, beruht auf dem verbindlichen Charakter der Richtlinien,
der nur gegenüber den Mitgliedstaaten besteht, an die sie gerichtet sind;
sie soll verhindern, daß ein Staat aus seiner Nichtbeachtung des
Gemeinschaftsrechts Nutzen ziehen kann. Bei einer Ausdehnung dieses
Grundsatzes auf den Bereich der Beziehungen zwischen einzelnen würde der
Gemeinschaft die Befugnis zuerkannt, mit unmittelbarer Wirkung
Verpflichtungen zu Lasten einzelner zu schaffen, obwohl sie dazu
ausschließlich in den Fällen berechtigt ist, in denen sie die Befugnis zum
Erlaß von Verordnungen oder Entscheidungen besitzt.
Folglich kann eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen
einzelnen begründen, so daß ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie
als solche nicht möglich ist.
2. In Ermangelung von Umsetzungsmaßnahmen innerhalb der in der Richtlinie
87/102 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der
Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit vorgeschriebenen Fristen kann ein
Verbraucher selbst in Anbetracht von Artikel 129a des Vertrages auf die
Richtlinie als solche keine Berechtigung stützen, wegen Mängeln bei der
Lieferung von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen durch den
Lieferanten oder den Dienstleistenden, mit dem ein privater Kreditgeber eine
Vereinbarung über die ausschließliche Gewährung von Krediten getroffen hat,
Rechte gegen diesen Kreditgeber geltend zu machen, und kann sich auf eine
derartige Berechtigung nicht vor einem nationalen Gericht berufen.
Artikel 129a hat nämlich eine begrenzte Tragweite. Er spricht zum einen die
Verpflichtung der Gemeinschaft aus, einen Beitrag zur Erreichung eines hohen
Verbraucherschutzniveaus zu leisten. Zum anderen schafft er eine
Gemeinschaftszuständigkeit für spezifische Aktionen im Zusammenhang mit der
Verbraucherschutzpolitik, die über die im Rahmen des Binnenmarktes
getroffenen Maßnahmen hinausgehen. Da sich dieser Artikel darauf beschränkt,
der Gemeinschaft ein Ziel zu setzen und ihr hierfür Befugnisse einzuräumen,
ohne daneben eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten oder einzelner
aufzustellen, kann er es nicht rechtfertigen, daß klare, genaue und
unbedingte Bestimmungen von Richtlinien über den Verbraucherschutz, die
nicht fristgerecht umgesetzt worden sind, unmittelbar zwischen einzelnen in
Anspruch genommen werden.
3. Falls das nach einer Richtlinie vorgeschriebene Ergebnis nicht durch
Auslegung erreicht werden kann, verpflichtet das Gemeinschaftsrecht die
Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden, die sie dem einzelnen durch die
mangelnde Umsetzung der Richtlinie verursacht haben, sofern drei
Voraussetzungen erfüllt sind. Zunächst muß die Richtlinie die Verleihung von
Rechten an einzelne bezwecken. Ferner muß der Inhalt dieser Rechte auf der
Grundlage der Bestimmungen der Richtlinie ermittelt werden können.
Schließlich muß zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende
Verpflichtung und dem eingetretenen Schaden ein Kausalzusammenhang bestehen.
Sachverhalt und Gründe
1 Der Juzgado de Primera Instancia Nr. 10 Sevilla hat mit Beschluß vom 30.
Juni 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juli 1994, gemäß Artikel 177
EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 129a EG-Vertrag und
Artikel 11 der Richtlinie 87/102/EWG des Rates vom 22. Dezember 1986 zur
Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über
den Verbraucherkredit (ABl. 1987, L 42, S. 48; im folgenden: Richtlinie) zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der
Finanzierungsgesellschaft El Corte Inglés (im folgenden:
Finanzierungsgesellschaft) und Frau Blázquez Rivero, zu dem es kam, nachdem
letztere ihre Rückzahlungen an die Finanzierungsgesellschaft eingestellt
hatte.
3 Frau Blázquez Rivero schloß mit dem Reisebüro Viajes El Corte Inglés SA
(im folgenden: Reisebüro) einen Vertrag über eine Ferienreise, den sie zum
Teil mit Hilfe eines Kredits der Finanzierungsgesellschaft finanzierte.
Diese gewährt nach einer Vereinbarung zwischen beiden Gesellschaften
sämtliche Darlehen, die die Kunden des Reisebüros erhalten.
4 Da Frau Blázquez Rivero dem Reisebüro Mängel bei der Erfüllung seiner
Verpflichtungen vorwarf, erhob sie ihm gegenüber mehrere Beschwerden. Da
diese erfolglos blieben, stellte Frau Blázquez Rivero ihre Rückzahlungen an
die Finanzierungsgesellschaft ein, die daraufhin beim Juzgado de Primera
Instancia Sevilla Klage auf Zahlung des noch offenstehenden Betrages
einreichte.
5 Vor dem nationalen Gericht hielt Frau Blázquez Rivero der
Finanzierungsgesellschaft die Nichterfüllung des Reisevertrags entgegen,
wobei sie jedoch wegen der engen Beziehungen dieser Gesellschaft zu dem
Reisebüro nicht zwischen beiden unterschied.
6 Das vorlegende Gericht vertrat die Ansicht, daß Artikel 11 Absatz 2 der
Richtlinie der Verbraucherin die Möglichkeit gebe, gegen die
Finanzierungsgesellschaft Klage zu erheben. Diese Bestimmung lautet:
"Wenn
a) für den Bezug von Waren oder Dienstleistungen ein Kredit mit einer
anderen Person als dem Lieferanten vereinbart worden ist und
b) zwischen dem Kreditgeber und dem Lieferanten der Waren oder
Dienstleistungen eine vorherige Abmachung besteht, wonach Kredite an Kunden
dieses Lieferanten zum Zwecke des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme
von Dienstleistungen des betreffenden Lieferanten ausschließlich von dem
betreffenden Kreditgeber bereitgestellt werden, und
c) der unter Buchstabe a) genannte Verbraucher seinen Kredit im Rahmen
dieser vorherigen Abmachung erhält und
d) die unter den Kreditvertrag fallenden Waren oder Dienstleistungen nicht
oder nur teilweise geliefert werden oder dem Liefervertrag nicht entsprechen
und
e) der Verbraucher seine Rechte gegen den Lieferanten erfolglos geltend
gemacht hat,
ist der Verbraucher berechtigt, Rechte gegen den Kreditgeber geltend zu
machen. Die Mitgliedstaaten bestimmen, wieweit und unter welchen Bedingungen
diese Rechte geltend gemacht werden können."
7 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist es unerheblich, daß die Klage im
vorliegenden Fall von der Finanzierungsgesellschaft und nicht von der
Verbraucherin erhoben wurde, da Rechte sowohl durch Klage als auch durch
Einrede geltend gemacht werden könnten.
8 Das Gericht stellte jedoch fest, daß Artikel 11 Absatz 2 der Richtlinie
nicht in spanisches Recht umgesetzt worden sei, obwohl die hierfür
vorgesehene Frist zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits abgelaufen
gewesen sei, und daß das mit dieser Bestimmung angestrebte Ergebnis nicht
durch entsprechende Auslegung des nationalen Rechts erreicht werden könne.
Artikel 1257 des spanischen Código civil, der vorsehe, daß "Verträge ... nur
zwischen den Parteien, die sie schließen, und ihren Erben Wirkung
[entfalten]", hindere die Verbraucherin nämlich daran, der
Finanzierungsgesellschaft das Fehlverhalten des Reisebüros entgegenzuhalten.
9 Da Artikel 11 Absatz 2 nach Ansicht des nationalen Gerichts hinreichend
klar, genau und unbedingt ist, um vor ihm in Anspruch genommen werden zu
können, hat es das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof ersucht, im Wege
der Vorabentscheidung über folgende Frage zu entscheiden:
Ist Artikel 11 der Richtlinie 87/102/EWG des Rates vom 22. Dezember 1986 zur
Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über
den Verbraucherkredit, die der spanische Staat nicht in nationales Recht
umgesetzt hat, unmittelbar anwendbar, wenn ein Verbraucher der Forderung des
Kreditgebers die Mängel der Dienstleistung des Dienstleistenden
entgegenhält, mit dem dieser Kreditgeber eine Vereinbarung über die
ausschließliche Gewährung von Krediten an dessen Kunden getroffen hat?
10 Kurz nachdem diese Frage vorgelegt wurde, erließ der Gerichtshof das
Urteil vom 14. Juli 1994 in der Rechtssache C-91/92 (Faccini Dori, Slg.
1994, I-3325), in dem er seine Rechtsprechung bestätigte, nach der
Richtlinien keine unmittelbare horizontale Wirkung haben. Der Gerichtshof
hat dem vorlegenden Gericht eine Abschrift dieses Urteils übermittelt und es
gefragt, ob es in Anbetracht des Urteils seine Frage aufrechterhalte.
11 Das vorlegende Gericht hat die Auffassung vertreten, daß das in der
Rechtssache Faccini Dori ergangene Urteil eine klare Antwort auf die
Problematik der unmittelbaren horizontalen Wirkung nicht umgesetzter
Richtlinien gebe; es hat jedoch darauf hingewiesen, daß es im Unterschied zu
der bei ihm anhängigen Streitigkeit in der Rechtssache Faccini Dori um vor
dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union liegende
Ereignisse gegangen sei. Durch diesen Vertrag sei aber eine neue Vorschrift
über den Verbraucherschutz geschaffen worden, nämlich Artikel 129a.
12 Diese Vorschrift lautet:
"(1) Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Erreichung eines hohen
Verbraucherschutzniveaus durch
a) Maßnahmen, die sie im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarkts nach
Artikel 100a erlässt;
b) spezifische Aktionen, welche die Politik der Mitgliedstaaten zum Schutz
der Gesundheit, der Sicherheit und der wirtschaftlichen Interessen der
Verbraucher und zur Sicherstellung einer angemessenen Information der
Verbraucher unterstützen und ergänzen.
(2) Der Rat beschließt gemäß dem Verfahren des Artikels 189b und nach
Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses die spezifischen Aktionen im
Sinne des Absatzes 1 Buchstabe b.
(3) Die nach Absatz 2 beschlossenen Aktionen hindern die einzelnen
Mitgliedstaaten nicht daran, strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu
ergreifen. Diese Maßnahmen müssen mit diesem Vertrag vereinbar sein. Sie
werden der Kommission notifiziert."
13 Da sich das vorlegende Gericht fragt, ob diese Vorschrift, die den
Grundsatz eines hohen Verbraucherschutzniveaus aufstelle, irgendeinen
Einfluß auf die unmittelbare Wirkung von Artikel 11 der Richtlinie zwischen
einzelnen haben könne, hat es sein Ersuchen aufrechterhalten.
14 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob
der Verbraucher in Ermangelung fristgerechter Maßnahmen zur Umsetzung der
Richtlinie in Anbetracht von Artikel 129a des Vertrages auf die Richtlinie
als solche eine Berechtigung stützen kann, wegen Mängeln bei der Lieferung
von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen durch den Lieferanten
oder den Dienstleistenden, mit dem ein privater Kreditgeber eine
Vereinbarung über die ausschließliche Gewährung von Krediten getroffen hat,
Rechte gegen diesen Kreditgeber geltend zu machen, und sich auf eine
derartige Berechtigung vor einem nationalen Gericht berufen kann.
Zur Frage, ob in einem Rechtsstreit zwischen dem Verbraucher und einem
Kreditgeber die Bestimmungen der Richtlinie über die Berechtigung des
Verbrauchers, Rechte geltend zu machen, in Anspruch genommen werden können
15 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (vgl. u. a. Urteil vom
26. Februar 1986 in der Rechtssache 152/84, Marshall I, Slg. 1986, 723,
Randnr. 48) kann eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen
einzelnen begründen, so daß ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie
als solche nicht möglich ist.
16 Die Rechtsprechung zu der Möglichkeit, gegenüber den staatlichen Stellen
Richtlinien in Anspruch zu nehmen, beruht auf dem verbindlichen Charakter
der Richtlinien, der nur gegenüber den Mitgliedstaaten besteht, an die sie
gerichtet sind; sie soll verhindern, daß ein Staat aus seiner Nichtbeachtung
des Gemeinschaftsrechts Nutzen ziehen kann (vgl. Urteil Marshall I, a. a.
O., Randnrn. 48 und 49).
17 Bei einer Ausdehnung dieser Rechtsprechung auf den Bereich der
Beziehungen zwischen einzelnen würde der Gemeinschaft die Befugnis
zuerkannt, mit unmittelbarer Wirkung Verpflichtungen zu Lasten einzelner zu
schaffen, obwohl sie dazu ausschließlich in den Fällen berechtigt ist, in
denen sie die Befugnis zum Erlaß von Verordnungen oder Entscheidungen
besitzt (vgl. Urteil Faccini Dori, a. a. O., Randnr. 24).
18 Artikel 129a des Vertrages kann an dieser Rechtsprechung, und sei es auch
nur in bezug auf die Richtlinien über den Verbraucherschutz, nichts ändern.
19 Insoweit genügt die Feststellung, daß Artikel 129a eine begrenzte
Tragweite hat. Er spricht zum einen die Verpflichtung der Gemeinschaft aus,
einen Beitrag zur Erreichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus zu
leisten. Zum anderen schafft er eine Gemeinschaftszuständigkeit für
spezifische Aktionen im Zusammenhang mit der Verbraucherschutzpolitik, die
über die im Rahmen des Binnenmarktes getroffenen Maßnahmen hinausgehen.
20 Da sich Artikel 129a darauf beschränkt, der Gemeinschaft ein Ziel zu
setzen und ihr hierfür Befugnisse einzuräumen, ohne daneben eine
Verpflichtung der Mitgliedstaaten oder einzelner aufzustellen, kann er es
nicht rechtfertigen, daß klare, genaue und unbedingte Bestimmungen von
Richtlinien über den Verbraucherschutz, die nicht fristgerecht umgesetzt
worden sind, unmittelbar zwischen einzelnen in Anspruch genommen werden.
21 Der Verbraucher kann daher auf die Richtlinie als solche keine
Berechtigung stützen, aufgrund von Mängeln bei der Lieferung von Waren oder
der Erbringung von Dienstleistungen Rechte gegen einen privaten Kreditgeber
geltend zu machen, und kann sich auf eine derartige Berechtigung nicht vor
einem nationalen Gericht berufen.
22 Im übrigen ist für den Fall, daß das nach der Richtlinie vorgeschriebene
Ergebnis nicht durch Auslegung erreicht werden kann, daran zu erinnern, daß
das Gemeinschaftsrecht gemäß dem Urteil vom 19. November 1991 in den
Rechtssachen C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357, Randnr.
39) die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet, die sie dem
einzelnen durch die mangelnde Umsetzung einer Richtlinie verursacht haben,
sofern drei Voraussetzungen erfüllt sind. Zunächst muß die Richtlinie die
Verleihung von Rechten an einzelne bezwecken. Ferner muß der Inhalt dieser
Rechte auf der Grundlage der Bestimmungen der Richtlinie ermittelt werden
können. Schließlich muß zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende
Verpflichtung und dem eingetretenen Schaden ein Kausalzusammenhang bestehen
(Urteil Faccini Dori, a. a. O., Randnr. 27).
23 Nach alledem ist zu antworten, daß der Verbraucher in Ermangelung
fristgerechter Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie selbst in Anbetracht
von Artikel 129a des Vertrages auf die Richtlinie als solche keine
Berechtigung stützen kann, wegen Mängeln bei der Lieferung von Waren oder
der Erbringung von Dienstleistungen durch den Lieferanten oder den
Dienstleistenden, mit dem ein privater Kreditgeber eine Vereinbarung über
die ausschließliche Gewährung von Krediten getroffen hat, Rechte gegen
diesen Kreditgeber geltend zu machen, und sich auf eine derartige
Berechtigung nicht vor einem nationalen Gericht berufen kann.
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