Beweislastumkehr für die Kausalität bei
grobfahrlässiger Verletzung von Vertragspflichten zum Schutz von Leben und
Gesundheit; Begriff der "groben Fahrlässigkeit"
BGH, Urteil vom 11. Mai 2017 - III ZR
92/16 - KG
Fundstelle:
noch nicht bekannt
für BGHZ vorgesehen
Amtl. Leitsatz:
Wer eine besondere Berufs-
oder Organisationspflicht, die dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer
dient, grob vernachlässigt hat, kann nach Treu und Glauben die Folgen der
Ungewissheit, ob der Schaden abwendbar war, nicht dem Geschädigten
aufbürden. In derartigen Fällen ist die regelmäßige Beweislastverteilung dem
Geschädigten nicht zuzumuten. Der seine Pflichten grob Vernachlässigende
muss daher die Nichtursächlichkeit festgestellter Fehler beweisen, die
allgemein als geeignet anzusehen sind, einen Schaden nach Art des
eingetretenen herbeizuführen (Bestätigung und Fortführung von BGH, Urteile
vom 13. März 1962 - VI ZR 142/61, NJW 1962, 959 f und vom 10. November 1970
- VI ZR 83/69, NJW 1971, 241, 243).
Zentrale Probleme:
Im Medizinrecht ist seit langem eine Beweislastumkehr
für die Kausalität bei groben medizinischen Behandlungsfehlern anerkannt und
nunmehr auch in § 630h V gesetzlich geregelt. Die vorliegende Entscheidung
wendet diese Grundsätze auch für Dienstverträge an, die den Schutz von Leben
und Gesundheit betreffen. Wenn die Pflichtverletzung allgemein geeignet ist,
Schäden der eingetretenen Art zu verursachen, muss der Schuldner die
fehlende Kausalität seiner Pflichtverletzung nachweisen. Vorliegend handelte
es sich um einen sog. Hausnotrufvertrag, bei dessen Ausführung eine
Vertragspflicht grob fahrlässig verletzt wurde. S. dazu auch
BGH v. 23.11.2017 - III ZR
60/16.
©sl 2017
Tatbestand:
1 Die Klägerinnen sind die Töchter und
Erbinnen des während des Berufungsverfahrens verstorbenen vormaligen Klägers
K. T. (im Folgenden: Kläger). Sie nehmen den Beklagten auf Schadensersatz
und Schmerzensgeld im Zusammenhang mit einem Hausnotrufvertrag
in Anspruch.
2 Der am 30. Mai 1934 geborene Kläger und der Beklagte schlossen 2010 einen
"Dienstleistungsvertrag zur Teilnahme am Hausnotruf". § 1 Abs. 2 des
Vertrags lautet wie folgt:
"Das Hausnotrufgerät wird an eine ständig besetzte Zentrale angeschlossen.
Von dieser Zentrale wird im Fall eines Notrufs unverzüglich eine angemessene
Hilfeleistung vermittelt (z.B. durch vereinbarte Schlüsseladressen,
Rettungsdienst, Hausarzt, Schlüsseldienst)."
3 Nach § 2 war Vertragsgegenstand das "Basispaket ohne Schlüssel- und
Einsatzdienst" zu einem monatlichen Entgelt von 17,90 €. Nicht vereinbart
war das so genannte Sicherheitspaket. Dieses umfasste alle Leistungen aus
dem Basispaket. Darüber hinaus verwahrte der Beklagte die Haus- und
Wohnungsschlüssel des Vertragspartners und sagte bei medizinischen oder
pflegerischen Notfällen den Einsatz speziell geschulten Personals zu.
4 Dem Vertrag war ein Erhebungsbogen beigefügt, aus dem multiple
Erkrankungen des Klägers ersichtlich waren (Arthrose, Atemnot, chronische
Bronchitis, Herzrhythmusstörungen, Diabetes mellitus). Außerdem litt er an
arteriellem Hypertonus und Makroangiopathie. Es bestand ein stark erhöhtes
Schlaganfallrisiko. Der Kläger war auf die Zufuhr von Sauerstoff und die
Einnahme verschiedener Medikamente angewiesen. Bis April 2012 lebte er
allein in einer Wohnung in einem Seniorenwohnheim bei Pflegestufe 2.
5 Gemäß § 1 Nr. 1.1 des Vertrags zwischen dem Beklagten und seiner
Streithelferin, die einen Sicherheitsdienst betreibt, übernahm diese die
Sicherstellung des Interventionsdienstes im Rahmen des Hausnotrufs. Nach § 6
des Vertrags musste das Personal der Streithelferin an einer mindestens 16
Stunden umfassenden Ausbildung in Erster Hilfe erfolgreich teilgenommen
haben und wurde jährlich darin fortgebildet. Die Einzelheiten der von der
Streithelferin zu erbringenden Dienstleistungen waren in dem
Interventionsplan, der dem Vertrag als Anlage beigefügt war, niedergelegt.
Danach durften von der Meldung des Einsatzes an die Streithelferin bis zum
Eintreffen der Interventionskraft am Einsatzort maximal 45 Minuten vergehen.
Die Kraft sollte, soweit erforderlich, Erste Hilfe im Rahmen der erlernten
Fähigkeiten leisten. Sollten diese Maßnahmen sich als unzureichend erweisen,
hatte sie über das Hausnotrufgerät weitere Hilfe anzufordern und die
Entscheidung des Beklagten abzuwarten.
6 Am 9. April 2012 betätigte der Kläger den Notruf zur Zentrale des
Beklagten. Der Notruf ging dort um 12:20:15 Uhr ein und dauerte mit mehreren
kurzen Unterbrechungen bis 12:26:58 Uhr. Dem Kläger war eine Artikulation
nicht möglich. Der den Anruf entgegennehmende Mitarbeiter des Beklagten
vernahm lediglich ein Stöhnen. Mehrere Versuche, den Kläger telefonisch zu
erreichen, scheiterten. Die Notrufzentrale des Beklagten veranlasste sodann,
dass ein Mitarbeiter der Streithelferin sich zu der Wohnung des Klägers
begab. Der Mitarbeiter traf dort um 12:46 Uhr oder 12:54 Uhr ein und fand
diesen am Boden liegend vor. Es gelang ihm nicht, den übergewichtigen Kläger
aufzurichten. Daraufhin forderte er einen weiteren Bediensteten der
Streithelferin an. Bis zu dessen Eintreffen wurden keine Hilfsmaßnahmen
ergriffen. Mit vereinten Kräften gelang es schließlich, den Kläger auf eine
Couch zu setzen. Sodann ließen ihn die beiden Angestellten der
Streithelferin allein in der Wohnung zurück, ohne eine ärztliche Versorgung
zu veranlassen. Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Kläger die Frage
nach Schmerzen und der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe mit „nein"
beantwortete und ob er mit Hilfe der beiden Mitarbeiter der Streithelferin
langsam gehen konnte.
7 Am 11. April 2012 wurde der Kläger von Angehörigen des ihn versorgenden
Pflegedienstes in der Wohnung liegend aufgefunden und mit einer
Halbseitenlähmung sowie einer Aphasie (Sprachstörung) in eine Klinik
eingeliefert, wo ein nicht mehr ganz frischer, wahrscheinlich ein bis drei
Tage zurückliegender Schlaganfall diagnostiziert wurde. In der Folgezeit
erlitt der Kläger zwischen dem 11. und 16. April 2012 einen weiteren
Schlaganfall. Nach Krankenhausbehandlung, Frührehabilitation und
Kurzzeitpflege lebte er bis zu seinem Tod am 7. Mai 2015 in einem
Altenpflegeheim. Er litt bis zuletzt unter einer ausgeprägten Aphasie und
war auf einen Rollstuhl angewiesen.
8 Der Kläger hat behauptet, er habe gegen Mittag des 9. April 2012 einen
Schlaganfall erlitten. Dessen gravierende Folgen wären vermieden worden,
wenn der den Notruf entgegennehmende Mitarbeiter des Beklagten einen
Rettungswagen mit medizinisch qualifizierten Rettungskräften geschickt
hätte, die eine Therapie durch Lyse/Heparinisierung früh- bzw. rechtzeitig
hätten einleiten können.
9 Der Kläger hat beantragt, den Beklagten zu verurteilen, an ihn ein
angemessenes Schmerzensgeld von mindestens 40.000 €, materiellen
Schadensersatz in Höhe von 6.663,56 €, vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten
und eine monatliche Rente von 723,92 € ab 1. April 2012 zu zahlen, sowie
festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihm alle weiteren
materiellen und immateriellen Schäden infolge des Notruf-Einsatzes vom 9.
April 2012 zu ersetzen, soweit die Forderungen nicht auf Dritte übergegangen
sind oder übergehen werden.
10 Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Im Berufungsrechtszug haben die
Klägerinnen, die den Rechtsstreit nach dem Tod K. T. als dessen Erbinnen
fortgeführt haben, den Rentenanspruch ab 1. Juli 2015 für erledigt erklärt
und im Übrigen die bisherigen Klageanträge wiederholt, wobei sie unter
Berücksichtigung der bis zum 30. Juni 2015 verlangten Rentenzahlungen
nunmehr materiellen Schadensersatz in Höhe von 26.209,40 € begehrt haben.
Das Kammergericht hat die Berufung der Klägerinnen zurückgewiesen. Mit ihrer
vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgen sie ihre in der
Berufungsinstanz gestellten Anträge weiter.
Entscheidungsgründe
11 Die zulässige Revision der Klägerinnen hat überwiegend Erfolg.
Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung
der Sache an das Berufungsgericht, soweit die Klageanträge auf Zahlung von
Schmerzensgeld und Schadensersatz sowie auf Erstattung vorgerichtlicher
Rechtsanwaltskosten und Feststellung der Teilerledigung des Rechtsstreits
abgewiesen worden sind.
I.
12 Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im
Wesentlichen ausgeführt:
13 Ein Schadensersatzanspruch der Klägerinnen ergebe sich insbesondere nicht
aus § 280 Abs. 1 Satz 1, § 253 Abs. 2 i.V.m. § 1922 BGB, da dem Beklagten im
Zusammenhang mit dem Dienstleistungsvertrag zur Teilnahme am Hausnotruf
keine Pflichtverletzung zur Last falle. Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 des Vertrags
sei die Vermittlung eines breiten Spektrums verschiedenster Hilfeleistungen
in Betracht gekommen. Aus dem Vertrag ergebe sich nicht, dass der Beklagte
im Falle eines Notrufs stets einen Arzt oder einen sonst medizinisch
Ausgebildeten habe schicken müssen. Im Hinblick darauf, dass der
Notrufvertrag lediglich das Basispaket zu einem monatlichen Preis von 17,90
€ umfasst habe, welches den Einsatz speziell geschulten medizinischen
Personals nicht vorgesehen habe, sei es nicht pflichtwidrig gewesen,
zunächst zur Abklärung der Situation lediglich in Erster Hilfe ausgebildetes
Personal zu entsenden. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass der
betagte und - was aus dem Erhebungsbogen ersichtlich gewesen sei -
gesundheitlich angeschlagene Kläger den Notrufvertrag vor allem deshalb
abgeschlossen habe, um im Falle eines medizinischen Notfalls Hilfe
herbeirufen zu können, und im konkreten Fall nur ein Stöhnen von sich
gegeben sowie auf Rückrufe nicht reagiert habe. Die Gefahr eines
Schlaganfalls habe der Mitarbeiter in der Notrufzentrale des Beklagten nicht
erkennen müssen. Den Mitarbeitern der Streithelferin falle ebenfalls keine -
dem Beklagten nach § 278 BGB zuzurechnende - Pflichtverletzung zur Last. Die
Klägerinnen hätten bereits nicht ausreichend vorgetragen, dass sich der
vormalige Kläger zu dem Zeitpunkt, als die Mitarbeiter der Streithelferin
ihn wieder verlassen hätten, in einem Zustand befunden habe, der auch für
einen nicht medizinisch Gebildeten das Erfordernis habe erkennen lassen,
einen Arzt zu rufen oder bei dem Erkrankten zu bleiben (z.B. teilweise
Lähmung oder sonstige Bewegungsunfähigkeit). Die Klägerinnen seien zudem für
ihre Behauptung beweisfällig geblieben, der vormalige Kläger habe
bewegungslos am Boden gelegen und sei zu keinem Zeitpunkt in der Lage
gewesen, eine ihm etwa gestellte Frage zum Wunsch nach ärztlicher Versorgung
zu beantworten. Vor diesem Hintergrund stelle sich die Frage nach der
haftungsbegründenden Kausalität schon mangels Pflichtverletzung nicht.
Unabhängig davon hätten die Klägerinnen die haftungsbegründende Kausalität
zwischen einer etwaigen Pflichtverletzung und dem Primärschaden zu beweisen,
da ein grober Pflichtverstoß des Beklagten ausscheide. Gegen die Kausalität
einer etwaigen Pflichtverletzung spreche, dass unklar sei, wann der
wahrscheinlich ein bis drei Tage vor der Krankenhausaufnahme am 11. April
2012 eingetretene (erste) Schlaganfall tatsächlich genau erfolgt sei.
Möglicherweise sei das Geschehen am Vormittag des 9. April 2012 lediglich
ein Vorbote, nämlich eine kurzfristige Hirndurchblutungsstörung, gewesen.
II.
14 Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision überwiegend
nicht stand.
15 Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts scheitern die Ansprüche der
Klägerinnen auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gemäß § 280 Abs. 1, § 823
Abs. 1, § 253 Abs. 2, § 1922 Abs. 1 BGB nicht an der fehlenden
Pflichtverletzung des Beklagten. Lediglich die Abweisung des Antrags auf
Feststellung der Ersatzpflicht für alle weiteren materiellen Schäden des
verstorbenen vormaligen Klägers ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
16 1. Bei dem Hausnotrufvertrag handelt es sich um einen
Dienstvertrag im Sinne des § 611 BGB. Der Beklagte schuldete keinen Erfolg
etwaiger Rettungsmaßnahmen und trug keine Verantwortung für deren
ordnungsgemäße Durchführung. Nach § 1 Abs. 2 des Vertrags war er
lediglich verpflichtet, unverzüglich eine angemessene Hilfeleistung zu
vermitteln, wobei ihm bei der Beantwortung der Frage, welche Hilfeleistung
unter den konkreten Umständen angemessen war (z.B. Schlüsseldienst,
Hausarzt, Rettungsdienst, Notarzt) ein gewisser Ermessenspielraum zustand.
Dass die Benachrichtigung eines Rettungsdienstes als mögliche Reaktion auf
den Eingang eines Notrufs auch von dem so genannten Basispaket umfasst war,
wird vom Beklagten in der Revisionserwiderung nicht in Zweifel gezogen.
17 2. Auf der Grundlage der von den Vorinstanzen rechtsfehlerfrei
getroffenen Feststellungen kann eine Pflichtverletzung der Notrufzentrale
des Beklagten nicht verneint werden. Auch unter Berücksichtigung des
Vorbringens der Parteien im Revisionsrechtszug ist weitere Aufklärung nicht
zu erwarten. Der Senat kann deshalb eine insoweit abschließende Würdigung
selbst vornehmen.
18 Im konkreten Fall drängte sich das Vorliegen eines akuten
medizinischen Notfalls auf. Die große Wahrscheinlichkeit, dass K.
T. umgehend ärztliche Hilfe benötigte, ergab sich bei einer Beurteilung ex
ante aus einer Vielzahl von Indiztatsachen. Aufgrund der Betätigung der
Notruftaste und des Verhaltens des Klägers nach Annahme des Rufs in der
Zentrale des Beklagten lag es sehr nahe, dass medizinische Hilfe
erforderlich war. Der Kläger war zu einer verständlichen Artikulation
offensichtlich nicht mehr in der Lage, so dass der Mitarbeiter des Beklagten
minutenlang nur noch ein Stöhnen wahrnahm. Versuche, den Kläger telefonisch
zu erreichen, scheiterten mehrfach. Es kommt hinzu, dass den Bediensteten
des Beklagten aus dem Erhebungsbogen zu dem Notrufvertrag bekannt war, dass
der 78-jährige Kläger an schwerwiegenden, mit Folgerisiken verbundenen
Vorerkrankungen litt. Ein Schlaganfall oder vergleichbare schwere
gesundheitliche Beeinträchtigungen drängten sich deshalb auf. In einer
dermaßen dramatischen Situation, bei der jeder unnötige Zeitverlust zu
vermeiden war, stellte die Entsendung eines medizinisch nicht geschulten,
lediglich in Erster Hilfe ausgebildeten Mitarbeiters eines
Sicherheitsdienstes zur Abklärung der Situation keine "angemessene
Hilfeleistung" im Sinne des Hausnotrufvertrags dar, zumal der
Sicherheitsdienst auf Grund des Interventionsplans nur binnen 45 Minuten am
Einsatzort eintreffen musste. Da Leben und Gesundheit des Klägers
auf dem Spiel standen, hatte der Beklagte den sichersten Weg zu wählen und
den Rettungsdienst unverzüglich zu alarmieren. In einem solchen
Fall reduzierte sich die Wahlmöglichkeit der Notrufzentrale auf diese
Alternative. Jede andere Entscheidung war ermessensfehlerhaft. Dass
angesichts der fehlenden Artikulationsfähigkeit des Klägers und seines
minutenlangen Stöhnens während des Notrufs die Einschaltung eines
Schlüsseloder Sicherheitsdienstes keine sachgemäße Reaktion darstellte, lag
auf der Hand. Eine exakte medizinische Diagnose durch den Beklagten war
dabei nicht erforderlich. Es genügte die sich aufdrängende große
Wahrscheinlichkeit eines Notfalls mit akuten gesundheitlichen Beschwerden.
19 3. Nach dem bisherigen Verfahrensstand hat der Beklagte die
Pflichtverletzung auch zu vertreten. Den ihm obliegenden
Entlastungsbeweis (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB) hat er nicht geführt. Es spricht
vielmehr alles dafür, dass der den Notruf entgegennehmende Mitarbeiter des
Beklagten die in der konkreten Situation erforderliche Sorgfalt in
besonders schwerem Maße verletzt und schon einfachste, ganz naheliegende
Überlegungen nicht angestellt und das nicht beachtet hat, was im gegebenen
Fall jedem einleuchten musste (vgl. Senatsurteile vom 10. Oktober
2013 - III ZR 345/12, BGHZ 198, 265 Rn. 26; vom 3. November 2016 - III ZR
286/15, BeckRS 2016, 20144 Rn. 17 und vom 23. März 2017 - III ZR 93/16,
BeckRS 2017, 107457 Rn. 8 zum Begriff der groben Fahrlässigkeit; jeweils mwN).
Trotz handgreiflicher Anhaltspunkte für einen akuten Notfall wurde lediglich
eine Routineabklärung durch einen Sicherheitsdienst veranlasst. Aus der vom
Berufungsgericht in Bezug genommenen Gesprächsaufzeichnung der Alarmierung
der Streithelferin wird die eklatante Fehleinschätzung der Situation durch
die Notrufzentrale des Beklagten besonders deutlich. Daraus ergibt sich,
dass der Mitarbeiter den Vorfall - ohne dafür Anhaltspunkte zu haben
-herunterspielte, indem er lediglich darauf hinwies, er höre K. T. "im
Hintergrund schnaufen, als wär er relativ angestrengt und versucht auf'm
Boden rumzukriechen", und dabei auch noch lachte.
20 4. Da der Beklagte somit eine eigene Pflicht aus dem Hausnotrufvertrag
schuldhaft verletzt hat, kann dahinstehen, ob er sich darüber hinaus die
Fehlentscheidung der Mitarbeiter der Streithelferin, den weitgehend
hilflosen K. T. ohne Hinzuziehung medizinischer Hilfe allein in der Wohnung
zurückzulassen, gemäß § 278 BGB zurechnen lassen muss
.
21 5. Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus
folgerichtig - die Frage des Kausalzusammenhangs zwischen Pflichtverletzung
und Gesundheitsschaden offen gelassen.
22 Grundsätzlich trägt der Geschädigte die Beweislast für die
Pflichtverletzung, die Schadensentstehung und den Ursachenzusammenhang
zwischen Pflichtverletzung und Schaden (vgl. nur Palandt/Grüneberg,
BGB, 76. Aufl., § 280 Rn. 34). Im vorliegenden Fall greift jedoch
eine Beweislastumkehr zugunsten des Geschädigten ein, soweit es um die Frage
geht, ob die schwerwiegenden Folgen des (ersten) Schlaganfalls auch bei
rechtzeitiger Hinzuziehung eines Rettungsdienstes eingetreten wären.
23 a) Im Arzthaftungsrecht führt ein grober
Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich
eingetretenen Art herbeizuführen, regelmäßig zur Umkehr der objektiven
Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler
und dem Gesundheitsschaden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 10.
Mai 2016 - VI ZR 247/15, NJW 2016, 2502 Rn. 11 mwN; siehe auch § 630h Abs. 5
BGB). Diese beweisrechtlichen Konsequenzen aus einem grob
fehlerhaften Behandlungsgeschehen knüpfen daran an, dass die nachträgliche
Aufklärbarkeit des tatsächlichen Behandlungsgeschehens wegen des besonderen
Gewichts des ärztlichen Fehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung in
einer Weise erschwert ist, dass der Arzt nach Treu und Glauben - also aus
Billigkeitsgründen - dem Patienten den vollen Kausalitätsnachweis nicht
zumuten kann. Die Beweislastumkehr soll einen Ausgleich dafür bieten, dass
das Spektrum der für die Schädigung in Betracht kommenden Ursachen wegen der
elementaren Bedeutung des Fehlers besonders verbreitert oder verschoben
worden ist (BGH, Urteil vom 10. Mai 2016 aaO mwN; siehe auch Koch,
NJW 2016, 2461, 2462 f). Dabei ist ein Behandlungsfehler nach der ständigen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann als grob zu bewerten, wenn ein
Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte
medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus
objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt
schlechterdings nicht unterlaufen darf (z.B. BGH, Urteil vom 17. November
2015 - VI ZR 476/14, NJW 2016, 563 Rn. 14; Palandt/Weidenkaff aaO § 630h Rn.
9; jeweils mwN).
24 b) Wegen der Vergleichbarkeit der Interessenlage gelten die
vorgenannten Beweisgrundsätze entsprechend bei grober Verletzung sonstiger
Berufsoder Organisationspflichten, sofern diese, ähnlich wie beim Arztberuf,
dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dienen. Wer eine besondere
Berufsoder Organisationspflicht, andere vor Gefahren für Körper und
Gesundheit zu bewahren, grob vernachlässigt hat, kann nach Treu und Glauben
die Folgen der Ungewissheit, ob der Schaden abwendbar war, nicht dem
Geschädigten aufbürden. In derartigen Fällen kann die regelmäßige
Beweislastverteilung dem Geschädigten nicht zugemutet werden. Der seine
Pflichten grob Vernachlässigende muss daher die Nichtursächlichkeit
festgestellter Fehler beweisen, die allgemein als geeignet anzusehen sind,
einen Schaden nach Art des eingetretenen herbeizuführen (BGH,
Urteile vom 13. März 1962 - VI ZR 142/61, NJW 1962, 959 f und vom 10.
November 1970 - VI ZR 83/69, NJW 1971, 241, 243; siehe auch BGH, Urteil vom
15. November 2001 - I ZR 182/99, NJW-RR 2002, 1108, 1112 zur
Beweislastumkehr bei grob fahrlässigem Organisationsverschulden im
Transportrecht; OLG Köln, VersR 1970, 229 zur Frage der Beweislastumkehr bei
unterbliebener Überwachung der elektrischen Versorgungsanlage eines
Verkaufskiosks auf einem Kirmesplatz; Palandt/Grüneberg aaO § 280 Rn. 38a).
So hat der Bundesgerichtshof bereits entschieden, dass ein
Schwimmmeister, der durch grobe Vernachlässigung seiner Aufsichtspflicht den
seiner Obhut anvertrauten Schwimmschüler in eine Gefahrenlage gebracht hat,
die geeignet war, den eingetretenen Ertrinkungstod herbeizuführen, beweisen
muss, dass der Verunglückte auch bei sorgfältiger Überwachung nicht hätte
gerettet werden können (Urteil vom 13. März 1962 aaO). Sah
sich ein Patient bei stationärer Krankenhauspflege durch Missstände und
Versäumnisse außerhalb des engeren Bereichs der ärztlichen Behandlung einer
Infektionsgefahr ausgesetzt, die das Maß des Unvermeidlichen erheblich
überschritt, kann es nach Lage der Umstände, vor allem angesichts der vom
Krankenhausträger verschuldeten Gefahrerhöhung, die Billigkeit erfordern,
dass dem Patienten die Last des meist aussichtslosen Ursächlichkeitsbeweises
abgenommen wird. Vielmehr muss der Krankenhausträger die Nichtursächlichkeit
festgestellter Fehler beweisen, die allgemein als geeignet anzusehen sind,
die Infektionsgefahr zu erhöhen (BGH, Urteil vom 10. November 1970
aaO).
25 c) Der Senat hat keine Bedenken, die dargelegten Beweisgrundsätze auf den
vorliegenden Fall anzuwenden.
26 aa) Der von dem Beklagten angebotene Hausnotrufvertrag bezweckte
in erster Linie den Schutz von Leben und Gesundheit der zumeist älteren und
pflegebedürftigen Teilnehmer. Dieses Dienstleistungsangebot
war auch die zentrale Aussage des vom Beklagten herausgegebenen
Werbeprospekts. Danach sollten die Teilnehmer des Hausnotrufsystems
im Alter, bei Krankheit oder bei einer Behinderung "zuhause in vertrauter
Umgebung leben, den Alltag meistern und das gute Gefühl haben, dass im
Notfall schnelle Hilfe kommt". Ferner heißt es in dem Prospekt: "Die
Hausnotrufzentrale verständigt Nachbarn und Angehörige und benachrichtigt -
falls nötig - Notarzt und Rettungsdienst." Nach den Feststellungen des
Berufungsgerichts hatte der im Jahr 1934 geborene, an multiplen
gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidende K. T. - für den Beklagten
erkennbar - den Notrufvertrag vor allem deshalb abgeschlossen, um bei
Eintritt eines medizinischen Notfalls Hilfe herbeiholen zu können. Der
Notrufvertrag sollte gerade dazu dienen, den allein lebenden,
pflegebedürftigen vormaligen Kläger vor Gefahren für Körper und Gesundheit
zu bewahren.
27 bb) Wie bereits unter 2. und 3. ausgeführt wurde, hat der den Notruf
entgegennehmende Mitarbeiter des Beklagten die diesem obliegenden
vertraglichen Schutz- und Organisationspflichten grob vernachlässigt, indem
er, obgleich sich die große Wahrscheinlichkeit eines akuten medizinischen
Notfalls aufdrängte, die gebotene Alarmierung des Rettungsdienstes unterließ
und lediglich einen Sicherheitsdienst mit der Abklärung der Situation
beauftragte, ohne diesem wenigstens die erheblichen Verdachtsmomente für das
Vorliegen eines gravierenden Notfalls mitzuteilen. Auf der Grundlage der vom
Beklagten erhaltenen unzureichenden Informationen ging das Personal der
Streithelferin sodann davon aus, dass K. T. folgenlos gestürzt war und
deshalb weitere Hilfsmaßnahmen unterbleiben durften.
28 cc) Die Pflichtverletzung des Beklagten hat den vormaligen Kläger
in eine Gefahrenlage gebracht, die geeignet war, die nach dem Notruf vom 9.
April 2012 eingetretenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen herbeizuführen.
Denn der Kläger befand sich bis zu der am 11. April 2012 erfolgten
Einlieferung in das Krankenhaus gänzlich unversorgt allein in seiner
Wohnung, so dass der erste, jedenfalls nicht erst kurz vor der Aufnahme in
die Klinik eingetretene Schlaganfall nur mit deutlicher zeitlicher
Verzögerung festgestellt und medizinisch behandelt wurde. Durch die
Nachlässigkeit des Beklagten wurden somit erhebliche
Aufklärungserschwernisse in das Geschehen hineingetragen. Die
Beweissituation ist für den Kläger beziehungsweise seine
Rechtsnachfolgerinnen gerade dadurch erheblich verschlechtert worden, dass
der Beklagte gegen die ihm nach dem Hausnotrufvertrag obliegenden
Kardinalpflichten gravierend verstoßen hat. In einem solchen Fall kann einem
Kläger die regelmäßige Beweislastverteilung nicht mehr zugemutet werden. Es
entspricht vielmehr der Billigkeit, dem Beklagten die Beweislast dafür zu
überbürden, dass die in dem Zeitraum nach dem Notruf beim Kläger
eingetretenen schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen auch bei
rechtzeitiger Alarmierung des Rettungsdienstes nicht hätten vermieden werden
können. Insoweit muss der Sachverhalt vom Berufungsgericht - gegebenenfalls
mit sachverständiger Hilfe - weiter aufgeklärt werden.
29 6. Zu Recht wendet der Beklagte in der Revisionserwiderung allerdings
ein, dass für den Klageantrag auf Feststellung der Ersatzpflicht für alle
weiteren materiellen Schäden des früheren Klägers kein Raum mehr ist. Da K.
T. am 7. Mai 2015 verstorben ist, sind weitere Schäden, insbesondere
zusätzliche Kosten infolge erhöhter Pflegebedürftigkeit, ausgeschlossen.
Damit fehlt der Klage sowohl das Feststellungsinteresse im Sinne des § 256
Abs. 1 ZPO als auch die materielle Begründetheit. In einem solchen Fall darf
die (bereits unzulässige) Klage ausnahmsweise wegen feststehender
Unbegründetheit abgewiesen werden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 25.
Januar 2012 - XII ZR 139/09, NJW 2012, 1209 Rn. 44 f mwN; kritisch
Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 38. Aufl., § 256 Rn. 4).
30 7. Soweit der Beklagte geltend macht, die auf Erstattung vorgerichtlicher
Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage könne allenfalls auf der Grundlage der
Regelgebühr von 1,3 (Anmerkung zu Nr. 2300 VV RVG) Erfolg haben, folgt dem
der Senat nicht. Da die vorliegende Angelegenheit überdurchschnittlich
schwierige Fragen zur Beweislastverteilung bei groben Pflichtverstößen
aufwirft, bestehen gegen den Ansatz einer Geschäftsgebühr von 1,8 keine
durchgreifenden Bedenken.
III.
31 Das angefochtene Urteil ist demnach aufzuheben, soweit die Klageanträge
auf Zahlung von Schmerzensgeld und Schadensersatz sowie auf Erstattung
vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten und Feststellung der Teilerledigung des
Rechtsstreits abgewiesen worden sind (§ 562 Abs. 1 ZPO).
32 Die Sache ist im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und
Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, weil sie noch
nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 ZPO).
Dabei hat der Senat von der Möglichkeit, nach § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO zu
verfahren, Gebrauch gemacht.
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