IPR: Internationales Erbrecht; Fehlen von
Pflichtteilsansprüchen als Verstoß gegen den ordre public (Art. 35 EuErbVO);
Erfordernis des Inlandsbezugs; Lückenfüllung bei ordre-public-Verstoß
BGH, Urteil vom 29. Juni 2022 - IV ZR 110/21 - OLG Köln
Fundstelle:
noch nicht bekannt
für BGHZ vorgesehen
Amtl. Leitsatz:
Die Anwendung des gemäß Art. 22 Abs. 1 EuErbVO
gewählten englischen Erbrechts verstößt jedenfalls dann gegen den deutschen
ordre public im Sinne von Art. 35 EuErbVO, wenn sie dazu führt, dass bei
einem Sachverhalt mit hinreichend starkem Inlandsbezug kein
bedarfsunabhängiger Pflichtteilsanspruch eines Kindes besteht.
Zentrale Probleme:
Eine wichtige, im Ergebnis ebenso zutreffende wie
angesichts der Rspr. des BVerfG vorhersehbare Entscheidung zum
Internationalen Erbrecht. Es geht um die Frage, ob es gegen den ordre public
(hier: Art. 35 EuErbVO) verstößt, wenn das (hier aufgrund einer Rechtswahl
nach Art. 22 EuErbVO) anwendbare Erbrecht kein Pflichtteilsrecht von
Abkömmlingen kennt. Das hier anwendbare englische Recht ermöglicht bei
einterbten Angehörigen nämlich lediglich einen im Ermessen des Gerichts
stehenden, von Bedürftigkeit abhängigen Unterhaltsanspruch gegen den
Nachlass. Nachdem aber das BVerfG schon 2005 festgestellt hatte, dass die
bedarfsunabhängige Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers am Nachlass
durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit
Art. 6 Abs. 1 GG geschützt ist (s. BVerfGE
112, 332 ff.), konnte die frühere Rspr., die bei Fehlen eines
Pflichtteils keinen Verstoß gegen den ordre public angenommen hatte, nicht
mehr aufrechterhalten werden. Freilich setzt das Eingreifen der
Vorbehaltsklausel des Art. 35 EuErbVO (wie diejenige des Art. 6 EGBGB) neben
einem offensichtlichen Verstoß des Rechtsanwendungsergebnisses gegen
inländische Gerechtigkeitsvorstellungen weiter einen hinreichenden
Inlandsbezug des Falles voraus. Dieser war hier besonders stark (Der
Erblasser lebte seit 50 Jahren in Deutschland, das betroffene Kind hat die
deutsche Staatsangehörigkeit, Vermögen war ausschließlich in Deutschland
belegen). Deshalb darf die Entscheidung auch nicht vorschnell generalisiert
werden. Schulmäßig sind übrigens auch die Ausführungen des Senats zur
Lückenfüllung. Die Lektüre ist ein "must" für Teilnehmer der
entsprechenden Schwerpunktbereiche und in Bundesländern, in welchen das IPR
zum Pflichtstoff gehört.
©sl 2022
Tatbestand:
1 Der Kläger nimmt - soweit für die
Revisionsinstanz noch von Bedeutung - die Beklagte zu 1 (im Folgenden:
Beklagte) als testamentarische Erbin auf Auskunft über den Bestand und den
Wert des Nachlasses des am 26. April 2018 verstorbenen Erblassers John Keith
L. in Anspruch.
2 Der 1936 geborene Erblasser war
britischer Staatsangehöriger. Er lebte seit seinem
29. Lebensjahr in Deutschland, wo er auch seinen letzten Wohnsitz hatte.
Mit notariell beurkundetem Kindesannahmevertrag vom 30. Oktober
1975, den das Amtsgericht Köln mit Beschluss vom 20. Mai 1976 gemäß § 1741
BGB in der seinerzeit gültigen Fassung bestätigte, adoptierte der Erblasser
den am 9. September 1974 geborenen Kläger. Der Vertrag enthält unter anderem
folgende Regelung:
"Die Erb- und Pflichtteilsrechte für das Kind und
dessen künftige Abkömmlinge nach dem Erstversterbenden der annehmenden
Eheleute werden ausgeschlossen."
3 Mit notariellem Testament
vom 13. März 2015 setzte der Erblasser die Beklagte als Alleinerbin ein und
widerrief alle zuvor von ihm errichteten Verfügungen von Todes wegen. Für
die Rechtsnachfolge von Todes wegen wählte er das englische Recht als
Teilrecht seines Heimatstaates. Der Nachlass besteht aus einer im Inland
belegenen Immobilie sowie diversen weiteren Gegenständen. Der Kläger ist
deutscher Staatsangehöriger und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt im
Inland.
4 Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die
Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht unter Zurückweisung des
weitergehenden Rechtsmittels das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die
Beklagte verurteilt, dem Kläger Auskunft über den Bestand des Nachlasses
des Erblassers durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses zu
erteilen, das im Einzelnen alle beim Erbfall vorhandenen Sachen und
Forderungen des Erblassers sowie alle Forderungen gegen diesen und
alle ergänzungspflichtigen Schenkungen, die der Erblasser in den letzten
zehn Jahren vor dem Erbfall getätigt hat, umfasst, und die Werte
verschiedener Nachlassgegenstände durch Sachverständigengutachten für den
Stichtag 26. April 2018 bestimmen zu lassen und darüber Auskunft zu
erteilen, sowie die Klage im Übrigen abgewiesen. Mit der vom
Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag
auf vollständige Klageabweisung weiter. Entscheidungsgründe:
5 Die
Revision hat keinen Erfolg.
6 I. Nach Auffassung des
Berufungsgerichts, dessen Entscheidung unter anderem in ZEV 2021, 698
veröffentlicht ist, steht dem Kläger gegen die Beklagte ein Auskunfts- und
Wertermittlungsanspruch gemäß § 2314 Abs. 1 BGB zu, da dieser als
Adoptivsohn des Erblassers pflichtteilsberechtigt gemäß §§ 2303 Abs. 1, 1754
Abs. 1, 1755 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 12 § 2 Abs. 2, Abs. 3, § 3 Abs. 1 AdoptG
und von der Erbfolge ausgeschlossen sei. Einem Anspruch stehe nicht
entgegen, dass der Erblasser in dem Testament vom 13. März 2015 für die
Rechtsfolge von Todes wegen in sein gesamtes Vermögen das englische Recht
als Teilrecht seines Heimatstaates gewählt habe. Zwar habe es dem Erblasser
gemäß Art. 22 Abs. 1, 83 Abs. 4 EuErbVO freigestanden, für die
Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Staates zu wählen, dem er im
Zeitpunkt der Rechtswahl angehörte. Die Anwendung englischen Rechts scheide
aber aus, weil sie im konkreten Fall mit dem deutschen ordre public
offensichtlich unvereinbar sei, Art. 35 EuErbVO. Das englische Recht kenne
keinen Pflichtteil. Kinder des Verstorbenen könnten für den Fall, dass sie
nicht ausreichend bedacht wurden, bei Gericht einzig eine "angemessene
finanzielle Regelung" nach dem Inheritance (Provision for Family und
Dependants) Act 1975 beantragen. Erwachsenen Kindern stehe danach regelmäßig
kein Anspruch auf Teilhabe am Nachlass zu. Das aber verstoße gegen die
Erbrechtsgarantie in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG, nach der
eine Teilhabe der Kinder am Nachlass der Eltern nicht von deren
Bedürftigkeit abhängig gemacht werden dürfe. Das englische Recht rücke das
Nachlassrecht in die Nähe des Unterhaltsrechts und knüpfe daran an, dass der
Erblasser im Zeitpunkt des Todes seinen Wohnsitz in England oder Wales
hatte. Nach deutschem Rechtsverständnis seien vielmehr die grundsätzlich
unauflösbare Beziehung zwischen Eltern und Kindern und die daraus erwachsene
Familiensolidarität ausschlaggebend für eine Teilhabe der Kinder am Nachlass
ihrer Eltern. Der Wohnort spiele dabei keine Rolle. Schließlich stelle das
englische Recht die Entscheidung über eine finanzielle Zuwendung und deren
Höhe in das Ermessen des Gerichts. Auch dies widerspreche der nach deutschem
Rechtsverständnis gebotenen und in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG verankerten
Garantie einer bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der
Kinder am Nachlass ihrer Eltern. Zur Gewährleistung einer dem deutschen
ordre public entsprechenden Regelung müsse auf die Vorschriften des
deutschen Pflichtteilsrechts zurückgegriffen werden.
7 II. Das hält
rechtlicher Nachprüfung stand.
8 Dem Kläger steht gegen die Beklagte
gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Halbsatz 2, Satz 3 BGB ein Anspruch auf
Auskunft über den Bestand des Nachlasses des Erblassers und auf
Wertermittlung in dem vom Berufungsgericht tenorierten Umfang zu.
9
1. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, einem Auskunfts-
und Wertermittlungsanspruch des Klägers stehe nicht der Umstand entgegen,
dass der Erblasser in seinem Testament für die Rechtsfolge von Todes wegen
in sein gesamtes Vermögen das englische Recht als Teilrecht seines
Heimatstaates gewählt hat.
10 a) Gemäß Art. 22 Abs.
1 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die
Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und
Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines
Europäischen Nachlasszeugnisses (ABl. EU 2012 Nr. L 201 S. 107; im
Folgenden: EuErbVO) stand es dem Erblasser frei,
für die Rechtsfolge von Todes wegen mit dem englischen Recht das Recht des
Staates zu wählen, dem er im Zeitpunkt der Rechtswahl angehörte.
Die Wahl englischen Erbrechts war auch wirksam. Zwar datiert das Testament
vom 13. März 2015, während die EuErbVO erst seit dem 17. August 2015 gilt.
Da der Erblasser aber im Jahr 2018 verstorben ist, gilt gemäß Art. 83 Abs. 4
EuErbVO dasjenige Recht, dessen Anwendung der Erblasser vor dem Stichtag im
Rahmen einer Verfügung von Todes wegen nach dem nach Art. 22
EuErbVO wählbaren Recht angeordnet hat.
11 b) Entgegen der
Ansicht der Revision ist die Anwendung englischen Rechts jedenfalls im hier
zur Entscheidung stehenden Fall mit dem deutschen ordre public
offensichtlich unvereinbar (Art. 35 EuErbVO). Denn das englische Recht steht
zu der nach deutschem Recht verfassungsrechtlich verbürgten
Nachlassverteilung in einem so schwerwiegenden Widerspruch, dass dessen
Anwendung im hiesigen Fall untragbar ist. Dies hat zur Folge, dass es hier
keine Anwendung findet.
12 aa) Art. 35 EuErbVO sieht vor,
dass die Anwendung einer Vorschrift des nach der Verordnung bezeichneten
Rechts eines Staates nur versagt werden darf, wenn ihre Anwendung mit der
öffentlichen Ordnung (ordre public) des Staates des angerufenen Gerichts
offensichtlich unvereinbar ist. Die Bestimmung ermöglicht es dem
Gerichtsstaat, im Ausnahmefall wesentliche Grundsätze und Werte des eigenen
materiellen Rechts im Einzelfall zu wahren und trotz einer entgegenstehenden
Regelung der lex causae durchzusetzen (vgl. Köhler in
Gierl/Köhler/Kroiß/Wilsch, Internationales Erbrecht 3. Aufl. § 4 Rn. 172;
NK-BGB/Looschelders 3. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 1; Pintens in Löhnig/Schwab
ua (Hrsg), Erbfälle unter Geltung der Europäischen Erbrechtsverordnung,
2014, S. 1, 27; Schwartze in Deixler-Hübner/Schauer, Kommentar zur
EU-Erbrechtsverordnung (EuErbVO) 2. Aufl. Art. 35 Rn. 3, 11). Für
die Annahme eines Verstoßes gegen den ordre public reicht eine bloße
Abweichung des ausländischen Rechts von inländischen Rechtsgrundsätzen nicht
aus. Er liegt nur dann vor, wenn das Ergebnis der Anwendung des
ausländischen Rechts im konkreten Einzelfall zu den Grundgedanken der
nationalen Regelungen und den in ihnen enthaltenen
Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch steht, dass es nach
inländischer Vorstellung schlichtweg untragbar erscheint (vgl.
Erwägungsgrund 58 Satz 1 EuErbVO; EuGH, Urteil vom 28. März 2000 - C-7/98,
EU: C: 2000:164 Rn. 37; BGH, Beschluss vom 14. November 2018 - XII ZB
292/15, NJW-RR 2019, 321 Rn. 30; Urteil vom 8. Mai 2014 - III ZR 371/12,
SchiedsVZ 2014, 151 Rn. 29; st. Rspr.; vgl. auch Bauer/Fornasier in
Dutta/Weber, Internationales Erbrecht 2. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 5;
Grüneberg/Thorn, BGB 81. Aufl. Art. 6 EGBGB Rn. 5; Lagarde in
Bergquist/Damascelli ua (Hrsg), EU-Erbrechtsverordnung 2015 Art. 35 Rn. 2;
NK-BGB/Looschelders 3. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 14; Soutier, Die Geltung
deutscher Rechtsgrundsätze im Anwendungsbereich der Europäischen
Erbrechtsverordnung, 2015, S. 198 ff.; vgl. zu Art. 6 EGBGB BT-Drs. 10/504,
S. 42 ff.).
13 bb) Nach diesem Maßstab liegt hier ein
offensichtlicher Verstoß gegen den deutschen ordre public vor.
14 (1) Das Pflichtteilsrecht ist als Institutionsgarantie dem Bestand
des deutschen ordre public zuzurechnen. Das Bundesverfassungsgericht
hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 19. April 2005 (BVerfGE
112, 332 ff.) klargestellt, dass dem Pflichtteilsrecht der Kinder des
Erblassers unter Verweis auf die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1
i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG Grundrechtscharakter im Sinne einer grundsätzlich
unentziehbaren und bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung
der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass zukommt. Dies
folgt aus der Familiensolidarität und der hieraus abgeleiteten
familienschützenden Funktion des Pflichtteilsrechts (vgl.
BVerfGE aaO [juris Rn. 64 ff.]). Art.
6 Abs. 1 GG schützt das Verhältnis zwischen dem Erblasser und seinen Kindern
als lebenslange Gemeinschaft, innerhalb derer Eltern wie Kinder nicht nur
berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, füreinander sowohl materiell als
auch persönlich Verantwortung zu übernehmen. Die Testierfreiheit des
Erblassers unterliegt damit von Verfassungs wegen grundsätzlich auch den
durch die Abstammung begründeten familienrechtlichen Bindungen. Das
Pflichtteilsrecht hat die Funktion, die Fortsetzung des ideellen und
wirtschaftlichen Zusammenhangs von Vermögen und Familie - unabhängig von
einem konkreten Bedarf des Kindes - über den Tod des Vermögensinhabers
hinaus zu ermöglichen (vgl. BVerfGE aaO [juris Rn. 72]). An dieser
Einordnung des Pflichtteilsrechts von Kindern als grundrechtlich geschützte
Rechtsposition hat das Bundesverfassungsgericht auch in seiner neueren
Rechtsprechung ausdrücklich festgehalten (vgl. BVerfG ZEV 2019, 79 Rn. 13,
zur Verfassungsgemäßheit von § 2325 Abs. 3 Satz 3 BGB).
15 (2)
Das englische Recht kennt demgegenüber keinen bedarfsunabhängigen
und nach festen Quoten berechneten Anspruch eines Abkömmlings nach dem Tod
des Erblassers. Ein Pflichtteilsrecht, wie es der deutschen Rechtsordnung
entspricht, ist dem englischen Recht fremd.
16 (a) Ohne
Erfolg beanstandet die Revision mit der Verfahrensrüge, das Berufungsgericht
habe lediglich pauschal und ohne nähere Begründung ausgeführt, ihm sei
bekannt, dass die englische Rechtsordnung nahen Verwandten keinerlei
Pflichtteils- und Noterbrechte am Nachlass zugestehe und habe allein auf
dieser Grundlage die Entscheidung getroffen, dass sich das englische vom
deutschen Recht wesensmäßig unterscheide. Es habe zugleich unterlassen, die
konkrete Ausgestaltung des Rechts der ausländischen Praxis, insbesondere die
ausländische Rechtsprechung, zu ermitteln.
17 (aa) Der
deutsche Tatrichter hat das ausländische Recht von Amts wegen zu ermitteln
(§ 293 ZPO). Dabei hat er es so anzuwenden, wie es der Richter des
betreffenden Landes auslegt und anwendet. Wie er sich diese Kenntnis
verschafft, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen.
Vom Revisionsgericht wird insoweit lediglich überprüft, ob der Tatrichter
sein Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt, insbesondere sich anbietende
Erkenntnisquellen unter Berücksichtigung der Umstände des
Einzelfalles hinreichend ausgeschöpft hat (vgl. Senatsurteil vom 18. März
2020 - IV ZR 62/19, VersR 2020, 614 Rn. 23 ff.; BGH, Urteil vom 25.
Januar 2022 - II ZR 215/20, WM 2022, 670 [juris Rn. 15]; Beschlüsse vom 30.
März 2021 - XI ZB 3/18, NJW-RR 2021, 916 Rn. 59; vom 17. Mai 2018 - IX ZB
26/17, WM 2018, 1316 Rn. 12 m.w.N; st. Rspr.). Die Grenzen
der Ermessensausübung des Tatrichters werden durch die jeweiligen Umstände
des Einzelfalles bestimmt. An die Ermittlungspflicht werden
umso höhere Anforderungen zu stellen sein, je komplexer oder je fremder im
Vergleich zum eigenen das anzuwendende Recht ist. Von Einfluss auf
das Ermittlungsermessen können auch Vortrag und sonstige Beiträge der
Parteien sein. Tragen die Parteien eine bestimmte ausländische
Rechtspraxis detailliert und kontrovers vor, wird der Richter regelmäßig
umfassendere Ausführungen zur Rechtslage zu machen - gegebenenfalls
sämtliche ihm zugänglichen Erkenntnismittel zu erschöpfen - haben, als wenn
der Vortrag der Parteien zu dem Inhalt des ausländischen Rechts
übereinstimmt oder sie zu dem Inhalt dieses Rechts nicht Stellung nehmen,
obwohl sie dessen Anwendbarkeit kennen oder mit ihr rechnen. Auch
dies hängt jedoch stets von den Besonderheiten des einzelnen Falles ab (vgl.
Senatsurteil vom 18. März 2020 aaO Rn. 24 m.w.N.).
18 (bb) Nach
diesen Maßgaben hat das Berufungsgericht sein Ermessen im Streitfall
rechtsfehlerfrei ausgeübt. Mangels sonstiger Regelungen zur
Nachlassverteilung bei nicht bedachten Abkömmlingen hat das Berufungsgericht
zu Recht auf die Regelungen des
Inheritance (Provision for Family und Dependants) Act 1975 (im
Folgenden: Inheritance Act 1975) abgestellt. Bereits dadurch ist den
Anforderungen des § 293 ZPO Genüge getan. Auch in
Anbetracht des Vortrags der Parteien war eine weitere Prüfung nicht
veranlasst. Wie die Parteien übereinstimmend vorgetragen haben,
kennt das englische Recht kein quotenmäßiges Pflichtteils- oder
Noterbrecht und sieht der Inheritance Act 1975 eine angemessene finanzielle
Beteiligung am Nachlass für Abkömmlinge nur bedarfsabhängig nach
richterlichem Ermessen vor. Diese nach englischem Recht vorzunehmende
Ermessensentscheidung - unter anderem abhängig von der Bedürftigkeit des
Abkömmlings und dem letzten Wohnsitz des Erblassers - reichte dem
Berufungsgericht für die Feststellung aus, dass das englische Recht der in
Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG verankerten Garantie einer bedarfsunabhängigen
wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass ihrer Eltern
entgegensteht. Vor diesem Hintergrund genügte hier eine
rechtsvergleichende Betrachtung, wie sie das Berufungsgericht vorgenommen
hat.
19 Das Berufungsgericht musste keine Feststellungen dazu
treffen, ob die englische Rechtsprechung - wovon die Revision ausgeht - die
Tendenz haben sollte, nach einer Gesamtabwägung aller Umstände des
Einzelfalles auch volljährigen Kindern eine Beteiligung am Nachlass zukommen
zu lassen (vgl. Hördt, Pflichtteilsrecht und EU-ErbVO, 2019, S. 362 ff.;
Röthel in FS v. Hoffmann 2011, S. 348 ff.; Wolff, Pflichtteilsrecht -
Forced Heirship - Family Provision, 2011, S. 176 ff.). Hierauf kommt es für
den Streitfall nicht an. Ein das Fehlen seines Pflichtteilsrechts
kompensierender Unterhaltsanspruch des Klägers würde jedenfalls schon daran
scheitern, dass der Erblasser sein letztes Domizil nicht in England oder
Wales hatte, wie dies Section 1 (1) Inheritance Act 1975 für die
Geltendmachung eines Ausgleichsanspruchs fordert. Der
Begriff des "domicile" ist nicht mit dem deutschen Begriff des Wohnsitzes
identisch, sondern wird enger verstanden (vgl. KG IPRspr. 2007 Nr.
163 [juris Rn. 13]; Staudinger/Man-kowski, (2010) Vorbem. zu Art. 13 - 17b
EGBGB Rn. 20 f.). Insoweit wird zwischen dem ursprünglichen
"domicile of origin" und einem später freiwillig gewählten "domicile of
choice" unterschieden. Letzteres kann begründet werden, wenn sich die
betreffende Person an einem Ort mit der Absicht niederlässt, dort für immer
oder auf unbestimmte Zeit zu bleiben und nicht mehr in das Land des
bisherigen Domizils zurückzukehren. An den Nachweis eines derartigen
"domicile of choice" sind strenge Anforderungen zu stellen (vgl. KG
aaO; Staudinger/Mankowski aaO Rn 21). Hier bestehen angesichts der
Lebensumstände des Erblassers, der seit mehreren Jahrzehnten in Deutschland
ohne erkennbare Rückkehrabsicht nach England lebte, keine Zweifel, dass er
sein "domicile" im Inland hatte.
20 (b) Die Feststellungen des
Berufungsgerichts zum englischen Recht treffen auch zu. Das
englische Recht beschränkt die Dispositionsbefugnis des Erblassers weder
durch ein Pflichtteils- noch ein Noterbrecht. Mittelbare
Beschränkungen enthält der Inheritance Act 1975. Kindern des Erblassers kann
danach auf Antrag ein Unterhaltsanspruch gegen den Nachlass zustehen, wenn
es der Verstorbene unterlassen hat, angemessene finanzielle Verfügungen zu
treffen ("reasonable financial provision"; vgl. Cornelius in
Flick/Piltz, Der Internationale Erbfall 2. Aufl. Rn. 579; Henrich in FS
Yamauchi, 2006, S. 133, 136; Hördt, Pflichtteilsrecht und EU-ErbVO, 2019, S.
363 f.; Kristic in Schlitt/Müller, Handbuch Pflichtteilsrecht 2. Aufl. § 15
Rn. 224 ff.; Odersky, Die Abwicklung deutsch-englischer Erbfälle, 2001, S.
38; Röthel in FS v. Hoffmann 2011 S. 348, 351 ff.; Süß in
Mayer/ Süß/Tanck/Bittler, Handbuch Pflichtteilsrecht 4. Aufl. § 19 Rn. 147
f., 156 ff.; Werkmüller, Rechtspolitische und rechtsvergleichende Aspekte
des geltenden Pflichtteilsrechts, 2002, S. 42 ff.; Wolff,
Pflichtteilsrecht - Forced Heirship - Family Provision, 2011, S. 180 f.).
Section 1 (2) (b) Inheritance Act 1975 richtet diese danach aus, welcher
Unterhalt in Anbetracht der Umstände als angemessen erscheint. Die
Ermessensentscheidung im Einzelfall obliegt den englischen Gerichten, wenn -
anders als hier - der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes sein "domicile" in
England oder Wales hatte. Nach englischem Recht bleibt der Kläger am
Nachlass des Erblassers bereits aus diesem Grund unbeteiligt.
21 (3) Die hier maßgebliche Frage, ob das Fehlen eines
Pflichtteilsanspruchs ohne das Eingreifen kompensatorischer Ansprüche des
Anspruchstellers nach englischem Recht gegen den deutschen ordre
public verstößt, ist umstritten. Eine Auffassung geht davon aus,
dass sich ein Durchschlagen des deutschen Pflichtteilsrechts auf andere
Rechtsordnungen durch die Anwendung des Art. 35 EuErbVO verbietet (vgl.
Ayazi, NJOZ 2018, 1041, 1045 ff.; im Ergebnis offenlassend Herzog, ErbR
2013, 2, 5; zurückhaltend Simon/Buschbaum, NJW 2012, 2393, 2395). Eine
andere Ansicht hält einen Verstoß gegen den deutschen ordre public bei einem
Pflichtteilsentzug, der sich - wie vorliegend - auf volljährige und
wirtschaftlich unabhängige Abkömmlinge beschränkt, im Einzelfall nicht
(Lud-wig/A. Baetge in jurisPK-BGB, 9. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 9, 17,
21 [Stand: 2. März 2022]; Röthel in FS v. Hoffmann 2011, S. 348, 361
f.; Staudinger/Dörner, (2007) EGBGB Art. 25 Rn. 726;
Staudinger/Beiderwie-den, juris PR-IWR 6/2021 Anm. 2) oder erst dann für
gegeben, wenn der Betreffende deshalb der deutschen Sozialhilfe zur Last
fällt (MünchKomm-BGB/Dutta, 8. Aufl. EuErbVO Art. 35 Rn. 8 m.w.N.).
Die überwiegende Auffassung nimmt demgegenüber - wie auch das
Berufungsgericht - an, dass es der in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 6
Abs. 1 GG verankerten Garantie einer bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen
Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass ihrer Eltern widerspricht, wenn
einem Abkömmling nach dem gewählten Recht kein Anspruch auf Teilhabe am
Nachlass zusteht, so dass in diesen Fällen ein offensichtlicher Verstoß
gegen den deutschen ordre public vorliegt (vgl. Bauer/Fornasier in
Dutta/Weber/Bauer, 2. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 11; BeckOGK/J.
Schmidt, EuErbVO Art. 35 Rn. 22.2 [Stand: 1. Februar 2022];
Grüneberg/Thorn, BGB 81. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 2; Hohloch in FS Leipold,
2009 S. 997, 1005; Köhler in Kroiß/Horn/Solomon, Nachfolgerecht 2. Aufl.
Art. 35 EuErbVO Rn. 8; Lehmann in Schlitt/Müller, Handbuch
Pflichtteilsrecht 2. Aufl. § 14 Rn. 371 - 373; Looschelders in FS v.
Hoffmann, 2011, 266, 280; Lorenz in Dutta/Herrler, Die Europäische
Erbrechtsverordnung, 2014, Rn. 28; NK-BGB/Looschelders 3. Aufl. Art. 35
EuErbVO Rn. 25; Pintens in Löhnig/Schwab ua (Hrsg), Erbfälle unter Geltung
der Europäischen Erbrechtsverordnung, 2014, S. 1, 29; J. Schmidt in
Bamberger/Roth/Hau/Po-sek, 4. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 22.2; Soutier, Die
Geltung deutscher Rechtsgrundsätze im Anwendungsbereich der Europäischen
ErbrechtsVerordnung, 2015, S. 223ff.; Voltz in Staudinger, BGB (2013), Art.
6 EGBGB Rn. 190 [Stand: 31. Mai 2021]; Walther, GPR 2016, 128, 131).
22 (4) Die letztgenannte Ansicht trifft jedenfalls für den hier zu
beurteilenden Sachverhalt aufgrund seines hinreichend starken
Inlandsbezuges zu.
23 (a) Allein diese erfüllt die
vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anforderungen an eine
bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass
ihrer Eltern (BVerfGE 112, 332 unter
C I 2 [juris Rn. 64 ff.]). Sowohl die erstgenannte als auch die
zweitgenannte Ansicht werden diesen Anforderungen nicht gerecht.
Eine Absicherung von Kindern, die nur bei einer entsprechenden
(Sozialhilfe-)Bedürftigkeit und damit abhängig von Ermessenerwägungen im
Einzelfall eingreift, widerspricht dieser in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 i.V.m.
Art. 6 Abs. 1 GG verankerten Garantie. Auch Erblasse rwille und
Testierfreiheit rechtfertigen keinen Ausschluss des Pflichtteilsrechts. Das
Pflichtteilsrecht der Kinder setzt der Testierfähigkeit des Erblassers
Grenzen (BVerfGE aaO unter C I 3 c
[juris Rn. 73]). Zwar ist die Ausgestaltung und die Höhe des
Pflichtteilsanspruchs nicht verfassungsrechtlich vorgegeben (BVerfGE
aaO unter C I 4 [juris Rn. 76]). Es muss aber eine unentziehbare
angemessene Teilhabe der Kinder am Nachlass des Erblassers gewährleistet
werden (BVerfGE 112 aaO [juris Rn.
76]). Wenn - wie hier - einem Kind des Erblassers nach ausländischem
Recht ein Pflichtteil wegen des fehlenden "domicile" des Erblassers in
England kompensationslos versagt wird oder dieser von nicht vorab
festgelegten Kriterien, die nicht bedarfsunabhängig sind, abhängt und in das
Ermessen des Gerichts gestellt wird, ist der Kern des Pflichtteils
angetastet. Das ist mit dem deutschen ordre public offensichtlich
unvereinbar.
24 (b) Ein anderes Verständnis folgt nicht aus
den Erwägungsgründen der EuErbVO. Erwägungsgrund 38 Satz 2 EuErbVO stellt
klar, dass die Rechtswahl auf das Recht des Staates, dem der Erblasser
angehört, beschränkt sein sollte, um zu vermeiden, dass ein Recht mit der
Absicht gewählt wird, die berechtigten Erwartungen der
Pflichtteilsberechtigten zu vereiteln und auf diese Weise sicherzustellen,
dass eine Verbindung zwischen dem Erblasser und dem gewählten Recht besteht.
Entgegen der Ansicht der Revision wird diese Wertung nicht
unterlaufen, wenn bei der Wahl einer fremden Rechtsordnung gemäß Art. 22
EuErbVO im Einzelfall zu entscheiden ist, ob ein Verstoß gegen den ordre
public vorliegt. Die Existenz von Art. 35 EuErbVO neben Art. 22 EuErbVO
spricht dafür, dass der europäische Verordnungsgeber den Schutz des
Pflichtteilsberechtigten im Einzelfall für geboten erachtet. Nach
Erwägungsgrund 58 Satz 2 EuErbVO dürfen die Gerichte eines Mitgliedstaates
die Anwendung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats zwar nicht aus Gründen
der öffentlichen Ordnung ausschließen, wenn dadurch gegen die Charta der
Grundrechte der Europäischen Union verstoßen würde. Dass aus der
Nichtanwendung englischen Rechts - ungeachtet der Frage danach, wie es
sich auswirkt, dass England nicht Vertragsstaat der Verordnung geworden ist
- ein relevanter Verstoß gegen die Grundrechtecharta folgen würde, ist
aber nicht anzunehmen.
25 (c) Auch aus der Entstehungsgeschichte des
Art. 35 EuErbVO ergibt sich nichts Gegenteiliges. Der Kommissionsvorschlag
sah in Art. 27 Abs. 2 EuErbVO-E (KOM 2009/0154 endg. - COD 2009/0157) noch
vor, dass eine abweichende Regelung des Pflichtteilsanspruchs nicht per se
als Verstoß gegen den ordre public qualifiziert werden könne. Der
Wegfall der Bestimmung im Verlauf des Legislativverfahrens spricht dafür,
dass unterschiedliche Pflichtteilsregelungen unter engen Voraussetzungen die
Berufung auf den ordre public rechtfertigen können (vgl. BeckOGK/J.
Schmidt, EuErbVO Art. 35 Rn. 22 (Stand: 1. Februar 2022); Burandt/Schmuck
in ders./Rojahn, 3. Aufl. EuErbVO Art. 35 Rn. 2 m.w.N.).
26 (d) Auch
die von der Revision herangezogene Argumentation, es sei nicht richtig, dass
sich das deutsche Erbrecht und damit ein Pflichtteilsanspruch gerade und nur
in den Fällen durchsetze, in denen die gewählte Zielrechtsordnung ein
Pflichtteilsrecht nicht vorsehe, wohingegen es in den Fällen, in denen das
gewählte Recht zwar einen Pflichtteilsanspruch vorsehe, dieser jedoch hinter
dem deutschen Standard zurück bleibe, mit der Anwendung des Rechts des
Zielstaates sein Bewenden habe, rechtfertigt kein anderes Ergebnis.
Sie übersieht, dass Maßstab für einen Verstoß gegen den ordre public die
Frage ist, ob das konkrete Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts
zu missbilligen ist (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juni 1992 - IX ZR
149/91, BGHZ 118, 312 unter III 4 a [juris Rn. 38]). Eine pauschale
Betrachtungsweise verbietet sich insofern.
27 (e) Entgegen
der Ansicht der Revision steht diesem Verständnis ferner nicht entgegen,
dass frühere Entscheidungen das Bestehen eines familiären Pflichtteils- und
Noterbrechts nicht zum deutschen ordre public gezählt und das Fehlen eines
Pflichtteils im ausländischen Recht nicht beanstandet haben (vgl.
RG JW 1912, 22; BGH, Urteil vom 21. April 1993 - XII ZR 248/91, NJW 1993,
1920 [juris Rn. 14]; OLG Hamm ZEV 2005, 436 [juris Rn. 48 ff.]; OLG Köln
FamRZ 1976, 170, 172). Auf der Grundlage des von dem
Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 112,
332 ff.; BVerfG ZEV 2019, 79 Rn. 13) aufgezeigten
Werteverständnis von einer gerechten Nachlassverteilung zugunsten von
Kindern hält der Senat diese Ansicht für überholt.
28 (f)
Soweit im Schrifttum teilweise die Auffassung vertreten wird, ein Verstoß
gegen den ordre public sei zu verneinen, wenn das Fehlen
des Pflichtteilsanspruchs eines Abkömmlings durch Ersatzmechanismen wie die
englische "family provision" kompensiert werde, (vgl. Andrae in FS v.
Hoffmann 2011 S. 3, 15; BeckOGK/J. Schmidt, EuErbVO Art. 35 Rn. 22.2 [Stand:
1. Februar 2022]; MünchKommBGB/Dutta, 8. Aufl. EuErbVO Art. 35 Rn. 8 m.w.N;
Obergfell in Hager, Vorweggenommene Vermögensübertragung unter Ausschluss
von Pflichtteilsansprüchen, 2013, S. 9, 28 f.), vermag der Senat dem nicht
zu folgen. Abgesehen davon, dass hier ein derartiger Kompensationsanspruch
mangels "domicile" des Erblassers in England oder Wales im Todeszeitpunkt
nicht in Betracht kommt, unterscheidet sich das englische Recht
dadurch grundlegend von der deutschen Rechtsordnung, dass es gerade keine
bedarfsunabhängige quotale Beteiligung von Abkömmlingen am Nachlass vorsieht,
sondern das Gericht zu prüfen hat, inwieweit die vom Erblasser getroffene
Regelung einen vernünftigen finanziellen Ausgleich für den Anspruchsteller
enthält. Wird eine derartige "reasonable financial provision" durch die
testamentarische Regelung nicht gewährleistet, kann das zuständige
Gericht entsprechende Anordnungen treffen, gegebenenfalls auch durch den
Erben an den Angehörigen zu leistende Zahlungen festsetzen. Diese Regelung
in Section 2 (1) Inheritance Act ist indessen eine reine Ermessensregelung
("the court may"). Ferner hängt das Zuerkennen eines
derartigen Ausgleichsanspruchs von zahlreichen Faktoren des Einzelfalles ab,
wie sie in Section 3 (1) Inheritance Act aufgelistet werden, so finanzielle
Ressourcen und Bedürfnisse des Antragstellers, weiterer Antragsteller
und des Erben, Art und Größe des Nachlasses, körperliche oder geistige
Beeinträchtigungen des Antragstellers und des Erben (vgl. hierzu Kristic
in Schlitt/Müller, Handbuch Pflichtteilsrecht, 2. Aufl. § 15 Rn. 224 ff.).
Insbesondere bei volljährigen Kindern mit eigenem Einkommen sind
englische Gerichte mit dem Zuerkennen eines Anspruchs eher zurückhaltend
(vgl. Kristic aaO Rn. 234). Das englische Recht bleibt somit in
seiner gesetzlichen und konkreten Ausgestaltung hinter dem
verfassungsrechtlich verbürgten Pflichtteilsanspruch von Kindern nach
deutschem Recht in einer mit dem deutschen ordre public nicht zu
vereinbarenden Art und Weise zurück.
29 (5) Die
Nichtanwendung des an sich berufenen ausländischen Rechts infolge
offensichtlicher Unvereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung des Staates
des angerufenen Gerichts setzt ferner voraus, dass der zu beurteilende
Sachverhalt eine hinreichend starke Inlandsbeziehung aufweist (vgl.
BGH, Urteil vom 11. Oktober 2006 - XII ZR 79/04, BGHZ 169, 240, unter III 4
c [juris Rn. 50]; ferner BVerfG, NJW 1971, 1509 unter C III 3 [juris Rn.
43]; Andrae in FS v. Hoffmann S. 3, 15; Köhler in Kroiß/Horn/Solomon,
Nachfolgerecht, 2. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 5 m.w.N.). Diese hat
das Berufungsgericht hier rechtsfehlerfrei angenommen. Die zu schützenden
Familienbeziehungen des Erblassers hatten ihren Mittelpunkt in Deutschland.
Sowohl der Kläger als auch der Erblasser haben bzw. hatten ihren
gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt des Erbfalls in Deutschland, der
Erblasser bereits seit mehr als 50 Jahren. Dort befand sich auch das
Vermögen des Erblassers. Der Kläger besitzt zudem die deutsche
Staatsangehörigkeit.
30 cc) Ein Verstoß gegen den
ordre public hat zur Folge, dass die ausländische Rechtsnorm im konkreten
Fall keine Anwendung findet. Um zu gewährleisten, dass möglichst geringfügig
in das ansonsten weiterhin anzuwendende ausländische Recht eingegriffen
wird, sind Lücken zunächst unter Zuhilfenahme der lex causae zu schließen.
Die lex fori ist nur hilfsweise als Ersatzrecht anzuwenden (BGH,
Urteil vom 11. Oktober 2006 - XII ZR 79/04, BGHZ 169, 240, unter III 4 c
[juris Rn. 50]; Beschluss vom 14. Oktober 1992 - XII ZB 18/92, BGHZ 120, 29,
unter II 6 [juris Rn. 21]; Pfundstein, Pflichtteil und ordre public, 2010,
Rn. 531; Soutier, Die Geltung deutscher Rechtsgrundsätze im
Anwendungsbereich der Europäischen Erbrechtsverordnung, 2015, S. 225 ff.;
Stürner, GPR 2014, 317, 324). So liegt der Fall nach den aus
Rechtsgründen nicht zu beanstandenden Feststellungen des Berufungsgerichts
hier. Da das englische Recht keinen den Anforderungen des Art. 14 Abs. 1
Satz 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG genügenden Anspruch des Klägers auf Teilhabe
am Nachlass vorsieht, lässt sich diesem für den hier vorliegenden Fall keine
dem deutschen Rechtsverständnis entsprechende äquivalente Lösung
entnehmen. Dementsprechend bedarf es des Rückgriffs auf das deutsche
Pflichtteilsrecht.
31 dd) Ferner ist kein
Vorabentscheidungsverfahren an den Gerichtshof der Europäischen Union
veranlasst. Es geht hier gerade nicht um die Auslegung einer Norm
der Europäischen Erbrechtsverordnung im europarechtlichen Kontext. Die
Besonderheit des Art. 35 EuErbVO liegt gerade darin, dass die Anwendung des
an sich nach der Europäischen Erbrechtsverordnung berufenen Rechts
ausscheidet, weil dessen Anwendung mit der öffentlichen Ordnung des Staates
des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar wäre. Diese Frage kann
nur von dem nationalen Gericht für das jeweilige nationale Recht beantwortet
werden.
32 2. Das Berufungsgericht hat ferner zu Recht
angenommen, dass dem Kläger als Pflichtteilsberechtigtem gemäß § 2314 Abs. 1
Satz 1, Satz 3 BGB ein Anspruch auf Auskunftserteilung über den Bestand
des Nachlasses des Erblassers zum Zeitpunkt des Erbfalls durch
notarielles Nachlassverzeichnis zusteht, der gemäß § 2325 BGB auch
ergänzungspflichtige Schenkungen innerhalb der letzten zehn Jahre vor dem
Erbfall erfasst. Gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BGB hat er darüber
hinaus einen Anspruch auf Wertermittlung der im Einzelnen bezeichneten
Nachlassgegenstände.
33 Nach dem Testament ist die Beklagte
Alleinerbin geworden. Der Kläger als Adoptivsohn des Erblassers ist
pflichtteilsberechtigt gemäß §§ 2303 Abs. 1, 1754 Abs. 1, 1755 Abs. 1 BGB
i.V.m. Art. 12 § 2 Abs. 2, Abs. 3, § 3 Abs. 1 AdoptG und von der Erbfolge
ausgeschlossen. Mit ihrer Rüge gemäß § 286 ZPO, das Berufungsgericht habe
keine Feststellungen dazu getroffen, ob dem Kläger nach dem Inhalt des
Adoptionsvertrags ein Pflichtteilsrecht zustehe, vermag die Beklagte nicht
durchzudringen. Zwar trifft es zu, dass die notarielle Urkunde vom 30.
Oktober 1975 die Regelung enthält, dass die Erb- und Pflichtteilsrechte für
den Kläger nach dem Erstversterbenden der annehmenden Eheleute
ausgeschlossen sind. Entgegen der Auffassung der Revision steht diese
Regelung einem Pflichtteilsrecht des Klägers aber nicht entgegen. Da
der Kläger beim Inkrafttreten des Adoptionsgesetzes am 1. Januar 1977 noch
minderjährig war, wurde das Annahmeverhältnis gemäß Art. 12 § 2 Abs. 1, Abs.
2 AdoptG (vgl. zu dessen Verfassungsmäßigkeit BVerfG NJW 2003,
2600) grundsätzlich ab dem 1. Januar 1978 in ein solches gemäß §§
1741 ff. BGB übergeleitet. Dies hat zur Folge, dass der Erbrechts- und
Pflichtteilsrechtsausschluss, der im Annahmevertrag gemäß § 1767 Abs. 1 BGB
in der seinerzeit gültigen Fassung erfolgt war, mit der Überleitung
seine Wirksamkeit verlor, sofern kein Widerspruch nach Art. 12 § 2 Abs. 2
Satz 2 AdoptG ausdrücklich erklärt worden war (Müller-Engels in
Münch, Familienrecht in der Notar- und Gestaltungspraxis 3. Aufl. § 14 Rn.
56).
34 Der ausdrücklich zu erklärende Widerspruch ist ein
rechtsvernichtender Umstand, für den der Beklagten nach allgemeinen
Grundsätzen der Nachweis obliegt (vgl. BGH, Urteil vom 13. November 1998 - V
ZR 386/97, NJW 1999, 352, unter II 3 b aa [juris Rn. 13];
Musielak/Voit/Foerste, ZPO 18. Aufl. § 286 Rn. 35). Die Revision legt
insoweit nicht dar, dass das Berufungsgericht substantiierten Vortrag der
Beklagten zu einem Widerspruch nach Art. 12 § 2 Abs. 2 Satz 2 AdoptG
verfahrensordnungswidrig übergangen hätte. Erstinstanzlich hat die Beklagte
lediglich mit Nichtwissen bestritten, dass es sich bei dem Kläger um einen
Adoptivsohn des Erblassers handelt und dessen Aktivlegitimation in Abrede
gestellt. Irgendeinen Tatsachenvortrag zu Art. 12 § 2 Abs. 2 Satz 2 AdoptG
hat die Beklagte in den Instanzen nicht gehalten. Das Berufungsgericht hat
auch nicht - wie die Beklagte meint - gegen § 139 ZPO verstoßen, indem es
vor seiner Entscheidung gehörswidrig nicht auf eine sekundäre Darlegungslast
des Klägers hingewiesen hat. Die sekundäre Darlegungslast entsteht erst
dann, wenn die primär darlegungs- und beweisbelastete Partei
Anknüpfungstatsachen schlüssig vorgetragen hat und sich daraus eine gewisse
Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit ihres Vortrags ergibt (vgl.
Senatsurteil vom 17. Dezember 2014 - IV ZR 90/13, VersR 2015, 271 Rn. 21).
Daran fehlt es.
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