Erbrechtsgarantie (Art. 14 GG), Testierfreiheit und Pflichtteilsrecht:
Verfassungskonformität des Pflichtteilsrechts; verfassungskonforme Auslegung
von § 2333 Nr. 1 BGB; Prüfungsdichte des BVerfG bei der Anwendung einfachen
Rechts
BVerfG v.
19.4.2005 - 1 BvR 1644/00 und 1 BvR 188/03 -
Fundstelle:
BVerfGE 112, 332
NJW 2005, 1561
Amtl. Leitsätze:
1. Die grundsätzlich unentziehbare und
bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des
Erblassers an dessen Nachlass wird durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14
Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet.
2. Die Normen über das Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers (§ 2303
Abs. 1 BGB), über die Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Nr. 1 und 2
BGB und über den Pflichtteilsunwürdigkeitsgrund des § 2345 Abs. 2, § 2339
Abs. 1 Nr. 1 BGB sind mit dem Grundgesetz vereinbar.
3. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslegung des § 2333
Nr. 1 BGB.
Zentrale Probleme:
S. die
Pressemitteilung des BVerfG Nr. 36/2005 vom 28.4.2005.
Zum verfassungsrechtlichen Schutz der Testierfreiheit s. auch
BVerfG NJW
1998, 2964 sowie
BVerfG NJW 2004, 2008; zur "negativen" Erbfreiheit s.
BGH v. 19.1.2011 - IV ZR 7/10.
S. zur Erbunwürdigkeit nach § 2339 Abs. 1. Nr. 1 auch
BGH v. 11.3.2015 - IV ZR 400/14.
Zu den Konsequenzen der Entscheidung für das internationale Erbrecht s.
BGH v. 29.6.2022 - IV ZR 110/21.
©sl 2005
Aus den
Gründen:
A. Die Verfassungsbeschwerden betreffen Fragen des Pflichtteilsrechts.
I. 1. Nach § 2303 Abs. 1 BGB kann das Kind eines Erblassers, das durch
Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausgeschlossen ist, von dem Erben
den Pflichtteil verlangen. Der mit dem Erbfall entstehende
Pflichtteilsanspruch (§ 2317 Abs. 1 BGB) ist eine Geldforderung in Höhe der
Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils (§ 2303 Abs. 1 Satz 2 BGB).
Voraussetzung für die Pflichtteilsberechtigung ist, dass der Berechtigte
ohne die letztwillige Verfügung zum gesetzlichen Erben berufen wäre.
2. Der Pflichtteil kann dem Kind vom Erblasser durch letztwillige Verfügung
entzogen werden (§ 2336 Abs. 1 BGB). Eine Entziehung ist nur möglich, wenn
einer der in § 2333 BGB genannten Gründe vorliegt. Die für die beiden
Verfassungsbeschwerdeverfahren maßgeblichen Pflichtteilsentziehungsgründe
lauten:
§ 2333
BGB
Entziehung des Pflichtteils eines Abkömmlings
Der Erblasser kann einem Abkömmling den Pflichtteil entziehen:
1. wenn der Abkömmling dem Erblasser, dem Ehegatten oder einem anderen
Abkömmling des Erblassers nach dem Leben trachtet,
2. wenn der Abkömmling sich einer vorsätzlichen körperlichen
Misshandlung des Erblassers oder des Ehegatten des Erblassers schuldig
macht, im Falle der Misshandlung des Ehegatten jedoch nur, wenn der
Abkömmling von diesem abstammt,
3. bis 5. ...
Der
Pflichtteilsentziehungsgrund muss zur Zeit der Errichtung der letztwilligen
Verfügung bestehen und in der Verfügung angegeben werden (§ 2336 Abs. 2
BGB). Nach einhelliger Auffassung in der Rechtsprechung und Literatur ist
eine Entziehung des Pflichtteils in allen Fällen des § 2333 BGB nur dann
möglich, wenn der Abkömmling schuldhaft handelte (vgl. OLG Düsseldorf, NJW 1968,
S. 944 (945); OLG Hamburg, NJW 1988, S. 977 (978); Staudinger/Olshausen, BGB
(1998), Vorbem zu §§ 2333 ff. Rn. 4; Soergel/Dieckmann, BGB, 13. Aufl.,
2002, Vor § 2333 Rn. 6; MünchKommBGB/Lange, 4. Aufl., 2004, § 2333 Rn. 3;
Palandt/Edenhofer, BGB, 64. Aufl., 2005, § 2333 Rn. 2; Erman/Schlüter, BGB,
11. Aufl., 2004, § 2333 Rn. 2; BGB-RGRK, 12. Aufl., 1975, § 2333 Rn. 3;
Lange/Kuchinke, Erbrecht, 5. Aufl., 2001, § 37 XIII. 2. a). Die
Pflichtteilsentziehungsgründe sind nach herrschender Auffassung in § 2333
BGB abschließend aufgezählt; eine entsprechende Anwendung auf andere Fälle
ist danach ausgeschlossen (vgl. BGH, NJW 1974, S. 1084 (1085); Staudinger/Olshausen,
a.a.O., Vorbem zu §§ 2333 ff. Rn. 3; Soergel/Dieckmann, a.a.O., Vor § 2333
Rn. 2). Nach § 2336 Abs. 3 BGB trägt für das Vorliegen eines
Pflichtteilsentziehungsgrundes derjenige die Beweislast, der die Entziehung
geltend macht.
3. Im Bürgerlichen Gesetzbuch ist außerdem das Rechtsinstitut der
Pflichtteilsunwürdigkeit geregelt. Danach kann der Pflichtteilsberechtigte
nach dem Tode des Erblassers seinen Anspruch durch Anfechtung verlieren
(§ 2345 Abs. 2, § 2339 Abs. 1 BGB). Die Anfechtung ist von demjenigen, dem
ihre Rechtswirkungen zustatten kommen, gegenüber dem
Pflichtteilsberechtigten zu erklären. Anfechtungsgründe sind die in § 2339
Abs. 1 BGB aufgezählten Tatbestände. Die für die Verfassungsbeschwerden
entscheidungserheblichen Normen haben folgenden Wortlaut:
§ 2345
BGB
Vermächtnisunwürdigkeit; Pflichtteilsunwürdigkeit
(1) Hat sich ein Vermächtnisnehmer einer der in § 2339 Abs. 1
bezeichneten Verfehlungen schuldig gemacht, so ist der Anspruch aus dem
Vermächtnis anfechtbar. Die Vorschriften der §§ 2082, 2083, 2339 Abs. 2
und der §§ 2341, 2343 finden Anwendung.
(2) Das Gleiche gilt für einen Pflichtteilsanspruch, wenn der
Pflichtteilsberechtigte sich einer solchen Verfehlung schuldig gemacht
hat.
§ 2339 BGB
Gründe für Erbunwürdigkeit
(1) Erbunwürdig ist:
1. wer den Erblasser vorsätzlich und widerrechtlich getötet oder zu
töten versucht oder in einen Zustand versetzt hat, infolge dessen der
Erblasser bis zu seinem Tode unfähig war, eine Verfügung von Todes wegen
zu errichten oder aufzuheben,
2. bis 4. ...
(2) ...
4. Das
Pflichtteilsrecht der Erblasserkinder wurde in den letzten Jahren in der
juristischen Literatur unter verschiedenen Gesichtspunkten kontrovers
diskutiert. An ihm wurde teilweise kritisiert, dass sich die
gesellschaftlichen Verhältnisse seit der Schaffung des Bürgerlichen
Gesetzbuches und mit ihnen auch die soziale Funktion von Familie und
Verwandtschaft grundlegend geändert hätten. So sei die durchschnittliche
Lebenserwartung der Menschen erheblich gestiegen, und die sozialen
Sicherungssysteme hätten im Laufe der Zeit die soziale Absicherung durch den
Familienverband weitgehend ersetzt. Insbesondere hätten heute die Kinder in
der Regel nichts zur Entstehung des Vermögens des Erblassers beigetragen.
Außerdem rechtfertige allein eine biologische Verbundenheit zwischen dem
Erblasser und seinen Kindern noch keine Nachlassbeteiligung gegen den Willen
des Erblassers (vgl. Dauner-Lieb, Forum Familien- und Erbrecht 2001, S. 78
(79 f.); Schlüter, Die Änderung der Rolle des Pflichtteilsrechts im sozialen
Kontext, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft,
Band I, Bürgerliches Recht, 2000, S. 1047 (1049 f.)).
Die Gegenansicht weist unter Bezugnahme auf die Entstehungszeit des
Bürgerlichen Gesetzbuches darauf hin, dass es bereits damals nicht die
Funktion des Pflichtteilsrechts gewesen sei, den Unterhalt und die
Ausstattung der Kinder des Erblassers zu sichern. Stelle man auf die weitere
Lebenserwartung derjenigen Personen ab, die um das Jahr 1900 bereits das 25.
Lebensjahr erreicht hatten, und berücksichtige man, dass auf Grund kürzerer
Schul- und Ausbildungszeiten ein früherer Eintritt in das Berufsleben
erfolgte, so sei festzustellen, dass die Kinder auch damals im Zeitpunkt des
Todes eines Elternteils in der Regel wirtschaftlich selbstständig gewesen
seien. Das Pflichtteilsrecht diene vielmehr der Festigung innerfamiliärer
Beziehungen. Seine Beseitigung wäre ein Beitrag zur Erosion der Familie
(vgl. Otte, Das Pflichtteilsrecht - Verfassungsrechtsprechung und
Rechtspolitik, AcP 202 (2002), S. 317 (335-340, 353-355)).
In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird das Pflichtteilsrecht als
in gewissem Umfang durch Art. 14 und Art. 6 Abs. 1 GG geschützt angesehen
(vgl. BGHZ 98, 226 (233); 109, 306 (313)).
II. 1. Das Verfahren 1 BvR 1644/00
Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen
zivilgerichtliche Entscheidungen, in denen er als Erbe nach seiner Mutter
zur Zahlung des Pflichtteils an seinen Bruder (im Folgenden: Kläger)
verurteilt wurde.
a) Der Beschwerdeführer ist einer von zwei Söhnen der am 18. Februar 1994
verstorbenen Erblasserin. Sie hatte ihn im Jahre 1982 in einem
privatschriftlichen Testament zu ihrem Alleinerben eingesetzt und lebte im
Zeitpunkt ihres Todes gemeinsam mit dem an einer schizophrenen Psychose
leidenden Kläger in einem Haus. In den letzten Jahren vor dem Tod der
Erblasserin, in denen der Kläger zurückgezogen in einem Zimmer im Keller des
Hauses wohnte, kam es wiederholt zu schweren tätlichen Angriffen des Klägers
gegen die Erblasserin. Nachdem er die Erblasserin am 13. Januar 1994 erneut
massiv angegriffen hatte, errichtete diese am 20. Januar 1994 ein weiteres
Testament. Darin bestätigte sie die Erbeinsetzung des Beschwerdeführers und
verfügte zusätzlich:
"Meinen
gewalttätigen Sohn ... enterbe ich, weil er mich nachweislich oft
misshandelt (Faustschläge auf den Kopf) und dadurch meinen eventuellen
plötzlichen Tod in Kauf nimmt."
Am 18. Februar
1994 erschlug der Kläger die Erblasserin aus Angst vor und aus Wut wegen
seiner bevorstehenden Einweisung in das Landeskrankenhaus, zerstückelte die
Leiche und versteckte die Leichenteile im Wald. Wegen dieser Tat ordnete das
Landgericht nach Einholung eines Sachverständigengutachtens in einem
Sicherungsverfahren die Unterbringung des Klägers in einem psychiatrischen
Krankenhaus an. Der Kläger habe zwar das Unrecht seiner Tat einsehen können,
sei jedoch zur Tatzeit auf Grund seiner psychischen Erkrankung und damit
einer krankhaften seelischen Störung nicht in der Lage gewesen, nach dieser
Einsicht zu handeln.
b) Der Kläger, vertreten durch seinen Betreuer, machte gegen den
Beschwerdeführer seinen Pflichtteilsanspruch geltend. Er erhob Klage auf
Auskunft über den Bestand des Nachlasses. Der Beschwerdeführer wurde
zunächst mit Teilurteil zur Erteilung einer entsprechenden Auskunft
verurteilt. Rechtsmittel dagegen blieben erfolglos. Nach Erteilung der
Auskunft und anschließender Bezifferung des Pflichtteilsanspruchs durch den
Kläger wurde der Beschwerdeführer durch Schlussurteil des Landgerichts zur
Zahlung eines Betrages in Höhe von 50.605,55 DM verurteilt. Das Landgericht
führte aus, dass es dahingestellt bleiben könne, ob die Erblasserin mit dem
Testament vom 20. Januar 1994 eine Pflichtteilsentziehung beabsichtigt habe.
Jedenfalls wäre eine solche nicht wirksam, da die in § 2333 BGB aufgezählten
und vorliegend in Frage kommenden schweren und vorsätzlichen Straftaten ein
schuldhaftes Verhalten voraussetzten, welches nach den Feststellungen im
Strafverfahren nicht gegeben sei.
c) Die dagegen vom Beschwerdeführer eingelegte Berufung hatte nur in
geringem Umfang Erfolg. Das Oberlandesgericht änderte, nachdem es zur Frage
der Schuldfähigkeit des Klägers bei den Misshandlungen der Erblasserin im
Zeitraum 1993/1994 ein psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt
hatte, das erstinstanzliche Urteil dahingehend ab, dass der Beschwerdeführer
zur Zahlung eines Betrages in Höhe von 47.630,55 DM verurteilt wurde. Dem
Kläger sei der Pflichtteilsanspruch weder nach § 2333 BGB wirksam entzogen
worden noch könne er als pflichtteilsunwürdig gemäß § 2339 Abs. 1 Nr. 1,
§ 2345 Abs. 2 BGB angesehen werden; denn er habe sowohl bei der Tötung als
auch bei den vorangegangenen Misshandlungen der Erblasserin im Zustand der
Schuldunfähigkeit gehandelt.
Als Pflichtteilsentziehungsgrund kämen zwei von der Erblasserin konkret
bezeichnete Vorfälle aus den Jahren 1992 und 1994 in Betracht. Hinsichtlich
des Vorfalls aus dem Jahre 1992 sei jedoch davon auszugehen, dass das Recht
der Erblasserin zur Entziehung des Pflichtteils durch Verzeihung gemäß
§ 2337 BGB erloschen sei. Denn auch nach diesem Vorfall habe sie weiterhin
mit dem Kläger gemeinsam in einem Haus gelebt und sich um seine Versorgung
gekümmert. Die Pflichtteilsentziehung sei erst anlässlich des Vorfalls im
Januar 1994 erfolgt.
Die Erblasserin habe dem Kläger durch das Testament vom 20. Januar 1994
erkennbar nicht nur den Erbteil, sondern auch den Pflichtteil entziehen
wollen. Sie habe in dem Testament auch einen Entziehungsgrund im Sinn des
§ 2333 Nr. 1 und 2 BGB benannt, indem sie die Pflichtteilsentziehung auf die
körperliche Misshandlung durch Faustschläge auf den Kopf sowie auf die
Befürchtung, hierdurch getötet zu werden, gestützt habe.
Zwar habe damit objektiv ein Grund zur Pflichtteilsentziehung vorgelegen.
Nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens stehe jedoch fest, dass der
Kläger bei den Körperverletzungshandlungen ebenso wie bei der Tötung der
Erblasserin schuldunfähig gewesen sei. Die wirksame Pflichtteilsentziehung
setze aber ein schuldhaftes Verhalten des Pflichtteilsberechtigten voraus.
Der Pflichtteil könne nur bei schwer wiegenden schuldhaften Verfehlungen
entzogen werden, weil damit die Basis für den Familienverbund zerstört
werde. Eine solche Auslegung sei verfassungskonform. Da das
Pflichtteilsrecht jedenfalls auch aus dem Unterhaltsrecht abzuleiten sei,
also unter anderem eine gewisse Versorgungsfunktion habe, müsse eine
Einschränkung der Testierfreiheit zu Gunsten dieser Versorgungsfunktion
hingenommen werden.
d) Mit der Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer das
Schlussurteil des Landgerichts und das Berufungsurteil des
Oberlandesgerichts sowie mittelbar die Normen der §§ 829, 2303, 2333 Nr. 1
und 2, §§ 2337, 2339 Abs. 1 Nr. 1, §§ 2343, 2345 Abs. 2 BGB an. Er macht im
Wesentlichen eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1 und
Art. 6 Abs. 1 GG geltend.
Die Rechtfertigung des Pflichtteilsrechts beruhe auf dem besonderen Schutz
der Familie. Sofern jedoch ein Familienverbund zwischen dem Erblasser und
dem Pflichtteilsberechtigten nicht bestehe, sei die Voraussetzung für eine
Einschränkung der durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Testierfreiheit nicht
gegeben. Für die Pflichtteilsentziehung nach § 2333 Nr. 1 und 2 BGB dürfe es
nicht auf ein Verschulden ankommen, wenn - wie im konkreten Fall - der
Pflichtteilsberechtigte über viele Jahre schwere Verfehlungen gegen den
Erblasser begangen und dadurch den Familienverbund zerstört habe. Lasse man
das Tatbestandsmerkmal des Verschuldens, das der Gesetzeswortlaut des § 2333
Nr. 1 BGB nicht fordere, gelten, so gebe es keine Grenze der Zumutbarkeit
und der Billigkeit. Wenn es außer dem Verschuldenserfordernis in § 2333
Nr. 1 und 2, § 2345 Abs. 2 und § 2339 Abs. 1 Nr. 1 BGB kein anderes
praktisches Kriterium gebe, das zu einer Verneinung des
Pflichtteilsanspruchs im konkreten Fall führe, bleibe nur die Möglichkeit,
das Pflichtteilsrecht ganz zu streichen.
2. Das Verfahren 1 BvR 188/03
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen
zivilgerichtliche Urteile, die sie als Erbin gegenüber dem Sohn des
Erblassers (im Folgenden: Kläger) zur Erteilung einer Auskunft über den
Bestand des Nachlasses verpflichten.
a) Der am 15. November 2000 im Alter von 85 Jahren verstorbene Erblasser
litt vor seinem Tod an einer Lungenerkrankung und an Herzrhythmusstörungen.
Er befand sich deswegen zeitweise in stationärer Behandlung. Zwischen ihm
und dem Kläger kam es in den letzten Jahren vor dem Erbfall zu
Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen über den Kontakt und
Umgang des Erblassers mit einem Enkelkind, dem Sohn des Klägers. Diese
Meinungsverschiedenheiten waren unter anderem Gegenstand eines Briefwechsels
zwischen dem Erblasser und dem Kläger. Den Wunsch des Erblassers auf
brieflichen Kontakt und persönlichen Umgang mit seinem Enkelkind lehnte der
Kläger ab. Mit notariellem Testament vom 16. April 1999, in dem er den Wert
seines Vermögens mit 500.000 DM bezifferte, setzte der Erblasser sodann die
Beschwerdeführerin, seine Ehefrau, zur alleinigen Vorerbin ein und entzog
- neben vier weiteren Kindern - dem Kläger den Pflichtteil. Unter anderem
führte er in dem Testament aus:
"Auch mein
Sohn T. soll keinen Pflichtteil erhalten. Er hat mir seit Jahresfrist
jeden unmittelbaren Kontakt mit seinen Kindern verweigert und mir in
einem persönlichen Gespräch erklärt, dass er jeden Kontakt zu mir
ablehne. Dieses Gespräch fand statt, obwohl er wusste, dass ich erst
kürzlich aus dem Krankenhaus nach einer Schwersterkrankung entlassen
worden war. Als mir mein Enkel, ..., zu Weihnachten einen kurzen Brief
schrieb und ich ihm liebevoll antwortete, schickte er mir die Zeilen mit
dem ausdrücklichen 'Verbot' zurück, mit seinen Kindern weiter in Kontakt
zu treten. Als ich mich an diese 'Weisung' nicht hielt und erneut
brieflichen Kontakt zu meinen Enkeln suchte, hat er mir den Brief
wiederum zurückgeschickt."
b) Nach dem
Tode des Erblassers machte der Kläger den Pflichtteilsanspruch geltend. Er
erhob Stufenklage und begehrte zunächst Auskunft über den Bestand des
Nachlasses. Die Beschwerdeführerin wandte demgegenüber ein, dass eine
wirksame Pflichtteilsentziehung vorliege. Der Kläger habe durch sein Handeln
eine schwere nachteilige Wirkung auf den Gesundheitszustand des Erblassers
in Kauf genommen. Die Beschwerdeführerin bot unter anderem über die
Behauptung Beweis an, dass dem Erblasser ärztlicherseits die Vermeidung
jeglicher Aufregung nahe gelegt worden sei. Auf diese Tatsache habe der
Erblasser mit der Formulierung im Testament angespielt, der Kläger habe
gewusst, "dass ich erst kürzlich nach einer Schwersterkrankung entlassen
worden war."
c) Das Landgericht verurteilte die Beschwerdeführerin zur Auskunftserteilung
über den Bestand des Nachlasses (§§ 2303, 2314 BGB). Die
Pflichtteilsentziehung sei unwirksam, weil kein sie rechtfertigender Grund
vorliege. Die Beschwerdeführerin - die gemäß § 2336 Abs. 3 BGB die
Beweislast für das Vorliegen des Pflichtteilsentziehungsgrundes trage - habe
schon nicht ausreichend substantiiert dargetan, dass der Kläger den
Erblasser vorsätzlich körperlich misshandelt habe.
d) Dagegen wandte sich die Beschwerdeführerin mit der Berufung. Sie machte
geltend, das Landgericht habe zu Unrecht das verfassungsrechtlich bislang
nicht abschließend geklärte Verhältnis zwischen der Testierfreiheit
einerseits und der derzeitigen Ausgestaltung des Verwandtenerbrechts
andererseits zum Nachteil des Erblassers gewichtet. Es habe sich nicht mit
den vorgetragenen Indiztatsachen auseinander gesetzt, die dazu gedient
hätten, tatbestandsbegründende innere Tatsachen nachzuweisen, die nicht
Gegenstand eigener Wahrnehmung seien. Auch sei ihr substantiierter Vortrag
zum Vorliegen eines bedingten Körperverletzungsvorsatzes beim Kläger nur
unvollständig gewürdigt worden.
Das Kammergericht wies die Berufung zurück. Eine körperliche Misshandlung
des Erblassers liege nicht bereits in der Tatsache, dass der Kläger ihm den
unmittelbaren Umgang und Kontakt mit dem Enkelkind verwehrt habe. Zwar sei
anerkannt, dass zur Annahme einer Körperverletzung eine auf seelischem Wege
hervorgerufene Störung des körperlichen Wohlbefindens genüge. Ein Verhalten,
das beim Erblasser aber lediglich Ärger, Kummer und Verzweiflung verursache,
könne eine Pflichtteilsentziehung nicht rechtfertigen, solange es keine
Auswirkungen auf das körperliche Befinden habe. Selbst wenn aber der
Erblasser hierdurch auch in seinem körperlichen Wohlbefinden beeinträchtigt
gewesen sein sollte, setze § 2333 Nr. 2 BGB ein zumindest bedingt
vorsätzliches Verhalten voraus. Hierfür seien hinreichende Anhaltspunkte von
der nach § 2336 Abs. 3 BGB darlegungs- und beweisbelasteten
Beschwerdeführerin weder vorgetragen noch unter Beweis gestellt worden. Ein
Vorsatz ergebe sich insbesondere nicht aus den vom Kläger an den Erblasser
gerichteten Briefen und werde selbst durch einen völligen Abbruch des
Kontaktes - um weiterem Streit aus dem Wege zu gehen - nicht indiziert.
e) Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen
die Urteile des Landgerichts und des Kammergerichts. Sie rügt eine
Verletzung ihrer Verfassungsrechte aus Art. 14 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und
Art. 103 Abs. 1 GG. Die Gerichte hätten die Anforderungen an die Darlegung
eines Körperverletzungsvorsatzes überspannt und hierfür angebotene
Indizienbeweise nicht erhoben. Weil die zu beweisende Tatsache außerhalb
ihrer eigenen Wahrnehmungssphäre liege, habe sie den Beweis nur durch
Indiztatsachen führen können. Eine solche Beweisführung hätten die Gerichte
vereitelt. Darin liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit
im Zivilprozess und gegen die Testierfreiheit. Die gebotene
verfassungskonforme Auslegung der §§ 2333, 2336 Abs. 3 BGB sei unterblieben.
III. Zu der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1644/00 haben der Bundesgerichtshof,
der Präsident der Bundesnotarkammer und die Bundesrechtsanwaltskammer
Stellung genommen. Zu der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 188/03 hat das
Bundesministerium der Justiz namens der Bundesregierung Stellung genommen
(... wird ausgeführt).
B. Die
Verfassungsbeschwerden sind zulässig.
I. Auf die durch die Erbrechtsgarantie von Verfassungs wegen verbürgte
erbrechtliche Lage kann sich nicht nur der Erblasser berufen. Auch die
beiden Beschwerdeführer genießen als dadurch begünstigte Erben den Schutz
des Grundrechts des Art. 14 Abs. 1 GG und können ihn, jedenfalls vom
Eintritt des Erbfalls an, geltend machen. Andernfalls würde der
Grundrechtsschutz mit dem Tode des Erblassers erlöschen und damit weitgehend
entwertet werden (vgl.BVerfGE 91, 346 (360); 99, 341 (349)).
II. Im Verfahren 1 BvR 188/03 steht der Zulässigkeit der
Verfassungsbeschwerde nicht der Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 BVerfGG)
entgegen, obwohl die Verfassungsbeschwerde sich gegen gerichtliche
Entscheidungen richtet, die die Beschwerdeführerin im Rahmen einer
Stufenklage im Sinne des § 254 ZPO zur Erteilung einer Auskunft und nicht
zur Zahlung eines bestimmten Geldbetrages verurteilt haben. Zwar gebietet
der Grundsatz der Subsidiarität, dass der Beschwerdeführer im
Ausgangsverfahren - im Rahmen des Zumutbaren (vgl.BVerfGE 56, 363 (380); 69,
188 (202) ) - alle prozessualen Möglichkeiten ausschöpft, um es gar nicht
erst zu einem Verfassungsverstoß kommen zu lassen oder um eine geschehene
Grundrechtsverletzung zu beseitigen (vgl. BVerfGE 73, 322 (325); 81, 97
(102 f.); 84, 203 (208); 95, 96 (127) ). Der Beschwerdeführerin sind jedoch
keine Versäumnisse in dieser Richtung anzulasten. Sie kann nicht darauf
verwiesen werden, ihre verfassungsrechtlichen Einwendungen in dem den
angegriffenen Entscheidungen folgenden Verfahren auf Zahlung eines
bestimmten Geldbetrages geltend zu machen. Zwar hat der Anspruch auf
Auskunft gemäß § 2314 BGB lediglich Hilfscharakter zur Bezifferung des
Zahlungsantrages (vgl. Palandt/Edenhofer, a.a.O., § 2314 Rn. 1). Jedoch
handelt es sich bei der Frage, ob der Kläger pflichtteilsberechtigt oder ob
ihm der Pflichtteil wirksam entzogen worden ist, um eine Vorfrage sowohl für
den Anspruch auf Auskunftserteilung gemäß § 2314 BGB als auch für die
nachfolgende Geltendmachung des Geldanspruchs (vgl. Staudinger/Olshausen,
a.a.O., Vorbem zu §§ 2333 ff. Rn. 30; Soergel/Dieckmann, a.a.O., Vor § 2333
Rn. 5). Deshalb ist es zulässig, sogleich die gesamte Stufenklage
abzuweisen, wenn das Fehlen einer Pflichtteilsberechtigung einen
Auskunftsanspruch ebenso ausschließt wie einen Zahlungsanspruch (vgl. BGH,
MDR 1964, S. 665). Da andernfalls widersprüchliche Entscheidungen ergehen
würden (vgl. dazu MünchKommZPO-Lüke, 2. Aufl., 2000, § 254 Rn. 22), ist auch
für den umgekehrten Fall, in dem das Gericht - wie hier - einen
Auskunftsanspruch auf der Grundlage einer Pflichtteilsberechtigung bejaht,
zu erwarten, dass es bei der Entscheidung über den Zahlungsanspruch seine
Auffassung zur Pflichtteilsberechtigung nicht aufgeben wird.
Da auf Grund des vom Erblasser bezifferten Wertes des Nachlasses auch im
nachfolgenden Verfahren über die konkrete Höhe des Pflichtteilsanspruchs mit
einer Verurteilung der Beschwerdeführerin zur Zahlung eines bestimmten
Pflichtteilsbetrages zu rechnen ist, geht bereits von den angegriffenen
Entscheidungen eine grundrechtsrelevante Beschwer aus. Es ist der
Beschwerdeführerin daher nicht zumutbar, zur Wahrung der als verletzt
gerügten Grundrechte ihre verfassungsrechtlichen Einwendungen zunächst im
Verfahren über die konkrete Höhe des Pflichtteilsanspruchs geltend zu
machen.
C. Die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR 1644/00 hat Erfolg, soweit
sie sich gegen die gerichtlichen Entscheidungen richtet. In ihrem sich
mittelbar gegen das Pflichtteilsrecht der Kinder gemäß § 2303 Abs. 1 BGB
sowie gegen die Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB und
den Pflichtteilsunwürdigkeitsgrund des § 2345 Abs. 2, § 2339 Abs. 1 Nr. 1
BGB wendenden Teil ist sie unbegründet.
Die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR 188/03 ist unbegründet.
I. Die grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche
Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass wird durch
die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6
Abs. 1 GG gewährleistet. Die Normen über das Pflichtteilsrecht der Kinder
des Erblassers (§ 2303 Abs. 1 BGB), über die Pflichtteilsentziehungsgründe
des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB und über den Pflichtteilsunwürdigkeitsgrund des
§ 2345 Abs. 2, § 2339 Abs. 1 Nr. 1 BGB sind mit dem Grundgesetz vereinbar.
1. a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
gewährleistet die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG das
Erbrecht als Rechtsinstitut und als Individualrecht. Es hat die Funktion,
das Privateigentum als Grundlage der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung
mit dem Tode des Eigentümers nicht untergehen zu lassen, sondern seinen
Fortbestand im Wege der Rechtsnachfolge zu sichern. Die Erbrechtsgarantie
ergänzt insoweit die Eigentumsgarantie und bildet zusammen mit dieser die
Grundlage für die im Grundgesetz vorgegebene private Vermögensordnung (vgl.BVerfGE 91,
346 (358) ). Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG überlässt es dem Gesetzgeber,
Inhalt und Schranken des Erbrechts zu bestimmen. Der Gesetzgeber muss bei
dessen näherer Ausgestaltung den grundlegenden Gehalt der
verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG wahren, sich in
Einklang mit allen anderen Verfassungsnormen halten und insbesondere den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Gleichheitsgebot beachten (vgl.BVerfGE
67, 329 (340); 105, 313 (355) ). Wenngleich die Gewährleistung von
Eigentum und Erbrecht in einem Zusammenhang stehen, garantiert die
Erbrechtsgarantie nicht das (unbedingte) Recht, den gegebenen
Eigentumsbestand von Todes wegen ungemindert auf Dritte zu übertragen;
die Möglichkeiten des Gesetzgebers zur Einschränkung des Erbrechts sind
- weil sie an einen Vermögensübergang anknüpfen - weiter gehend als die zur
Einschränkung des Eigentums (vgl.BVerfGE 93, 165 (174)).
b) Ein bestimmendes Element der Erbrechtsgarantie ist die
Testierfreiheit. Sie dient ebenso wie das Eigentumsgrundrecht und der in
Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz der Privatautonomie der
Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben (vgl.BVerfGE 91, 346
(358); 99, 341 (350) ). Die Testierfreiheit als Bestandteil der
Erbrechtsgarantie umfasst die Befugnis des Erblassers, zu Lebzeiten einen
von der gesetzlichen Erbfolge abweichenden Übergang seines Vermögens nach
seinem Tode an einen oder mehrere Rechtsnachfolger anzuordnen, insbesondere
einen gesetzlichen Erben von der Nachlassbeteiligung auszuschließen und
wertmäßig auf den gesetzlichen Pflichtteil zu beschränken (vgl.BVerfGE 58,
377 (398) ). Dem Erblasser ist hierdurch die Möglichkeit eingeräumt, die
Erbfolge selbst durch Verfügung von Todes wegen weitgehend nach seinen
persönlichen Wünschen und Vorstellungen zu regeln (vgl.BVerfGE 58, 377
(398); 99, 341 (350 f.)). Insbesondere ist der Erblasser von Verfassungs
wegen nicht zu einer Gleichbehandlung seiner Abkömmlinge gezwungen
(vgl. BVerfGE 67, 329 (345)).
c) Dem Recht des Erblassers, zu vererben, das durch die Testierfreiheit
geschützt ist, entspricht das Recht des Erben, kraft Erbfolge zu erwerben.
Das Eigentumserwerbsrecht des Erben kraft gesetzlicher oder gewillkürter
Erbfolge ist ebenfalls untrennbarer Bestandteil der Erbrechtsgarantie (vgl.BVerfGE 91,
346 (360); 93, 165 (174); 99, 341 (349)).
2. Auch die grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige
wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass ist als tragendes
Strukturprinzip des geltenden Pflichtteilsrechts durch die Erbrechtsgarantie
des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt.
a) Ihre Merkmale sind als tradierte Kernelemente des deutschen Erbrechts
neben der Testierfreiheit und dem Erwerbsrecht des Erben Bestandteil des
institutionell verbürgten Gehalts der Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1
Satz 1 GG. Mit der gesonderten Erwähnung des Erbrechts neben dem
Eigentumsschutz in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG bringt das Grundgesetz zum
Ausdruck, dass die Erbrechtsgarantie eine eigenständige, über die
Gewährleistung der Testierfreiheit des Erblassers hinausgehende
Bedeutung hat. Denn die Freiheit des Erblassers, zu vererben, könnte schon
als Ausfluss der Eigentumsfreiheit angesehen werden. Die erbrechtliche
Institutsgarantie vermittelt weiter gehend inhaltliche Grundaussagen einer
verfassungsrechtlich verbürgten Nachlassverteilung. Zu den von ihr erfassten
traditionellen Kernelementen des deutschen Erbrechts gehört auch das Recht
der Kinder des Erblassers auf eine dem Grundsatz nach unentziehbare und
bedarfsunabhängige Teilhabe am Nachlass.
b) Diese Teilhabe der Kinder am Nachlass des Erblassers hat eine lange
Tradition. Der Gedanke des Pflichtteilsrechts im Sinne einer Beschränkung
des Erblasserwillens hat seinen Ursprung im römischen Recht. In den
germanischen Rechten kannte man überwiegend keine Verfügungsfreiheit des
Erblassers; der Nachlass wurde nur innerhalb der Familie vererbt. Erst durch
die Rezeption des römischen Rechts gewannen die Testierfreiheit und damit
auch der Grundsatz einer zumindest wertmäßigen Nachlassteilhabe der Kinder
gegen den Willen des Erblassers an Bedeutung. Sämtliche der vor dem
In-Kraft-Treten des Bürgerlichen Gesetzbuches in Deutschland geltenden
Partikularrechtsordnungen kannten - in der Ausgestaltung als materielles
Noterbrecht oder als Zuerkennung eines Geldanspruchs - die zwingende
Beteiligung der Kinder des Erblassers am Nachlass (vgl. Motive zu dem
Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Band V.,
Erbrecht, 2. Aufl., 1896, S. 382 f.; Staudinger/Haas, a.a.O., Vorbem zu
§ 2303 ff. Rn. 6-9; Lange/Kuchinke, a.a.O., § 37 I. 1.).
Bereits die 1. Kommission zur Schaffung eines Bürgerlichen Gesetzbuches für
das Deutsche Reich beschloss im Jahre 1875 einstimmig, grundsätzlich das
Pflichtteilsrecht anzuerkennen und den Kindern des Erblassers ein
Pflichtteilsrecht zu gewähren. Maßgebend für diese Entscheidung war vor
allem, dass der Gedanke einer Beschränkung des Erblassers durch ein
Pflichtteils- oder Noterbrecht fast zu allen Zeiten und bei allen Völkern
vorhanden gewesen sei. Bei den Beratungen zum Bürgerlichen Gesetzbuch ging
man davon aus, dass eine Rechtspflicht des Erblassers bestehe, die ihm
gewährte Testierfreiheit nicht zu missbrauchen. Die Pflichtteilsberechtigung
der Kinder wurde als Kehrseite dieser Rechtspflicht angesehen (vgl. Motive
zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich,
a.a.O., S. 384, 387). Gleichzeitig war auch die Möglichkeit der Entziehung
einer Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers am Nachlass im Falle
einer schweren Verfehlung gegenüber dem Erblasser in den meisten der im
Deutschen Reich vor dem In-Kraft-Treten des Bürgerlichen Gesetzbuches
geltenden Rechtsordnungen anerkannt und wurde im Rahmen der Beratungen zur
Schaffung eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich
aufgegriffen (vgl. Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches
für das Deutsche Reich, a.a.O., S. 428-432).
In den Beratungen der 2. Kommission stand die grundsätzliche Frage einer
Beibehaltung oder Beseitigung des Pflichtteilsrechts nicht mehr zur Debatte.
Auch bei den Beratungen im Reichstag gab es nur vereinzelte Stimmen, die
sich gegen ein Pflichtteilsrecht aussprachen (vgl. Mertens, Die Entstehung
der Vorschriften des BGB über die gesetzliche Erbfolge und das
Pflichtteilsrecht, 1970, S. 81-89; Mugdan, Die gesammelten Materialien zum
Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, V. Band, Erbrecht, 1899,
S. 903-905). An diese traditionelle Ausgestaltung des Erbrechts mit der
grundsätzlichen Anerkennung eines Pflichtteilsrechts der Kinder hat der
Grundgesetzgeber durch die Gewährleistung in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG
angeknüpft.
c) Das in Deutschland geltende Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers
entspricht im Grundsatz denjenigen Erbrechtsordnungen anderer europäischer
Staaten, die ebenfalls vom römischen Recht beeinflusst sind. Auch diese
sehen ein - im Einzelnen jeweils unterschiedlich ausgestaltetes -
bedarfsunabhängiges Pflichtteils- oder Noterbrecht der Erblasserkinder vor.
So haben beispielsweise in Österreich die Kinder - wie in Deutschland -
einen schuldrechtlichen Pflichtteilsanspruch in Höhe der Hälfte ihres
gesetzlichen Erbteils (vgl. §§ 762 ff. des Allgemeinen Bürgerlichen
Gesetzbuchs). Einen gleichartigen Pflichtteilsanspruch sieht das polnische
Erbrecht vor, wobei sich die Quote bei Minderjährigkeit des Kindes von der
Hälfte des gesetzlichen Erbteils auf zwei Drittel erhöht (vgl. Art. 991 des
Zivilgesetzbuchs). In Italien wird den Kindern als "Pflichterben" ein (im
Wege der Herabsetzungsklage durchzusetzendes) Pflichtteilsrecht gewährt. Bei
einem Kind kann der Erblasser über die Hälfte seines Vermögens frei
verfügen, bei mehreren über ein Drittel (vgl. Art. 536 ff. des Codice Civile).
Ähnliche Beschränkungen der Testierfreiheit bestehen in Frankreich, wo für
die Kinder in Art. 913 ff. des Code Civil ein als materielles
Vorbehaltserbrecht ausgestaltetes Noterbrecht normiert ist. Der davon nicht
betroffene Teil des Erblasservermögens beläuft sich bei einem Kind auf die
Hälfte, bei zwei Kindern auf ein Drittel und bei drei oder mehr Kindern auf
ein Viertel (vgl. zum Ganzen Martiny, in: Verhandlungen des 64. Deutschen
Juristentages, Band I, Gutachten, 2002, A 76 f., A 81 ff. mit zahlreichen
weiteren Beispielen).
3. Das Pflichtteilsrecht steht darüber hinaus in einem engen
Sinnzusammenhang mit dem durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutz des
Verhältnisses zwischen dem Erblasser und seinen Kindern (vgl.BVerfGE 57,
170 (178)).
a) Art. 6 Abs. 1 GG enthält eine wertentscheidende Grundsatznorm für das
gesamte die Familie betreffende private Recht (vgl.BVerfGE 6, 55 (71 f.) ).
Die Verfassung verpflichtet den Staat, die aus Eltern und Kindern bestehende
Familiengemeinschaft sowohl im immateriell-persönlichen wie auch im
materiell-wirtschaftlichen Bereich als eigenständig und selbstverantwortlich
zu respektieren und zu fördern (vgl.BVerfGE 24, 119 (135); 33, 236 (238) ).
Verfassungsrechtlichen Schutz genießt insofern die familiäre
Verantwortlichkeit füreinander, die von der wechselseitigen Pflicht von
Eltern wie Kindern zu Beistand und Rücksichtnahme geprägt ist, wie es auch
der Gesetzgeber als Leitbild der Eltern-Kind-Beziehung in § 1618 a BGB
statuiert hat (vgl.BVerfGE 57, 170 (178) ). Auch bei den Beratungen im
Ausschuss für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates ging man bei der
Frage, ob das Erbrecht in den Grundrechtskatalog aufgenommen werden soll,
davon aus, dass das Erbrecht unter anderem der Erhaltung der Familie diene
(vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Akten und Protokolle, Band 5/I,
1993, Ausschuss für Grundsatzfragen, bearbeitet von Pikart/Werner,
S. 147 f.).
b) Die strukturprägenden Merkmale der Nachlassteilhabe von Kindern sind
Ausdruck einer Familiensolidarität, die in grundsätzlich unauflösbarer Weise
zwischen dem Erblasser und seinen Kindern besteht. Art. 6 Abs. 1 GG schützt
dieses Verhältnis zwischen dem Erblasser und seinen Kindern als lebenslange
Gemeinschaft, innerhalb derer Eltern wie Kinder nicht nur berechtigt,
sondern auch verpflichtet sind, füreinander sowohl materiell als auch
persönlich Verantwortung zu übernehmen. Das Pflichtteilsrecht knüpft - wie
das Unterhaltsrecht - an die familienrechtlichen Beziehungen zwischen dem
Erblasser und seinen Kindern an und überträgt diese regelmäßig durch
Abstammung begründete und zumeist durch familiäres Zusammenleben
untermauerte Solidarität zwischen den Generationen in den Bereich des
Erbrechts. Die Testierfreiheit des Erblassers unterliegt damit von
Verfassungs wegen grundsätzlich auch den durch die Abstammung begründeten
familienrechtlichen Bindungen. Diese Verpflichtung zur gegenseitigen
umfassenden Sorge rechtfertigt es, dem Kind mit dem Pflichtteilsrecht auch
über den Tod des Erblassers hinaus eine ökonomische Basis aus dem Vermögen
des verstorbenen Elternteils zu sichern. Der Erwerb und die Erhaltung von
Vermögenswerten beruht in der Familiengemeinschaft typischerweise auf
ideellen oder wirtschaftlichen Beiträgen sowohl des Erblassers als auch
seiner Kinder (Erziehung, finanzielle Unterstützung, Mitarbeit,
Konsumverhalten, Pflegeleistungen); auch die Nutzung des Familienvermögens
geschieht weithin gemeinsam durch den Erblasser und seine Kinder. Hieran
anknüpfend hat das Pflichtteilsrecht die Funktion, die Fortsetzung des
ideellen und wirtschaftlichen Zusammenhangs von Vermögen und Familie
- unabhängig von einem konkreten Bedarf des Kindes - über den Tod des
Vermögensinhabers hinaus zu ermöglichen (vgl. Staudinger/Otte, BGB (2000),
Einl zu §§ 1922 ff. Rn. 51; Boehmer, Erbrecht, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner,
Die Grundrechte, 2. Band, 1954, S. 401 (414, 416)).
c) Gerade in den Fällen einer Entfremdung zwischen dem Erblasser und
seinen Kindern oder gar der Zerrüttung dieser Beziehung setzt das
Pflichtteilsrecht der Testierfreiheit des Erblassers und der damit für ihn
eröffneten Möglichkeit, ein Kind durch Enterbung zu "bestrafen", Grenzen. Es
beschränkt die Entscheidungsfreiheit des Erblassers, in welchem Umfang und
auf welche Art und Weise er seine Kinder an seinem Nachlass beteiligen will.
Das Pflichtteilsrecht schließt auf diese Weise die Ungleichbehandlung von
Kindern durch den Erblasser zwar nicht aus, aber es relativiert diese
Möglichkeit. Zugleich wird eine unverhältnismäßige erbrechtliche
Benachteiligung der Kinder durch die Einsetzung des Ehegatten oder einer
familienfremden Person als Erben oder Vermächtnisnehmer vermieden. Das
Pflichtteilsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches ist damit grundsätzlich
geeignet und erforderlich, die Kinder des Erblassers davor zu schützen, dass
sich die Familienbeziehungen überhaupt nicht oder nur unzulänglich in der
Verteilung des Nachlasses widerspiegeln (vgl. Martiny, a.a.O., A 70 f.).
d) Dieser einerseits freiheitsbegrenzenden und andererseits
familienschützenden Funktion des Pflichtteilsrechts kommt insbesondere dann
Bedeutung zu, wenn Kinder des Erblassers aus einer früheren Ehe oder
Beziehung vorhanden sind, die ohne ein Pflichtteilsrecht an dem Vermögen des
Erblassers oftmals nicht teilhaben würden. Dies gilt im besonderen Maße für
nichteheliche Kinder des Vaters. Das Pflichtteilsrecht ist für das
nichteheliche Kind eine einfachrechtliche Ausprägung des durch Art. 6
Abs. 5 GG begründeten Schutzauftrages des Gesetzgebers im Bereich des
Erbrechts. Diese Verfassungsnorm gebietet es, dem nichtehelichen Kind eine
angemessene Beteiligung am väterlichen Nachlass in Form eines Erbrechts oder
jedenfalls eines Geldanspruchs zuzuerkennen (vgl.BVerfGE 25, 167 (174); 44,
1 (17 f.)).
4. Das Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers genügt auch in der
konkreten Ausprägung, die es in § 2303 Abs. 1 BGB erfahren hat, den
verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die Regelung des § 2303 Abs. 1 BGB
sichert einerseits den Kindern des Erblassers eine grundsätzlich
unentziehbare und angemessene Nachlassteilhabe in Form eines gegen den
Nachlass gerichteten Geldanspruchs. Der den Kindern gewährte Anteil am
Nachlass lässt andererseits dem Erblasser einen hinreichend großen
vermögensmäßigen Freiheitsraum, um seine Vorstellungen über die Verteilung
seines Vermögens nach dem Tode umzusetzen. Damit hält sich diese Norm
innerhalb des dem Gesetzgeber zustehenden Gestaltungsspielraums.
Aufgabe des bürgerlichen Rechts ist es in erster Linie, Interessenkonflikte
zwischen rechtlich gleichgeordneten Rechtssubjekten sachgerecht zu lösen (vgl.BVerfGE 30,
173 (199); 52, 131 (153) ). Die Pflicht zur rechtlichen Ausgestaltung einer
grundsätzlich zwingenden Nachlassteilhabe der Kinder des Erblassers steht in
einem Spannungsverhältnis zur ebenfalls grundrechtlich geschützten
Testierfreiheit des Erblassers. Die Lösung dieses Konfliktes ist Aufgabe des
Gesetzgebers. Er muss den Gehalt der Struktur bildenden Merkmale sowohl der
Testierfreiheit wie des Pflichtteilsrechts der Kinder differenzierend und
konkretisierend in für die Beteiligten unmittelbar verbindliches Recht
umsetzen. Dabei hat er die kollidierenden Grundrechtspositionen in ihrer
Wechselwirkung zu sehen und jeweils so zu begrenzen, dass sie sowohl für den
Erblasser als auch für seine Kinder so weit wie möglich wirksam bleiben. Bei
der konkreten einfachrechtlichen Ausgestaltung der Einzelheiten hat der
Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum (vgl.BVerfGE 67, 329 (340 f.)
). So dürfte er etwa statt eines Pflichtteilsrechts in der Ausgestaltung
eines Geldanspruchs auch eine Beteiligung des enterbten Kindes an der
Erbengemeinschaft einführen. Auch die Höhe des Pflichtteils ist nicht
verfassungsrechtlich strikt vorgegeben; es muss lediglich eine unentziehbare
angemessene Teilhabe der Kinder am Nachlass des Erblassers gewährleistet
werden. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers, über die derzeitigen
Vorschriften hinaus den Kindern einen unentziehbaren Anteil am Nachlass zu
sichern, besteht jedenfalls nicht (vgl.BVerfGE 91, 346 (360)).
5. Die in § 2333 Nr. 1 und 2 BGB und § 2345 Abs. 2, § 2339 Abs. 1 Nr. 1
BGB enthaltenen Regelungen über Pflichtteilsentziehungs- und
Pflichtteilsunwürdigkeitsgründe genügen ebenfalls den verfassungsrechtlichen
Vorgaben.
a) Es gibt Fallkonstellationen, in denen es nicht möglich ist, sowohl das
Prinzip der Testierfreiheit als auch den Grundsatz der unentziehbaren
Nachlassteilhabe der Kinder gleichermaßen zur Geltung zu bringen. So kann es
dem Erblasser bei einem besonders schwer wiegenden Fehlverhalten des Kindes
ihm gegenüber schlechthin unzumutbar sein, eine Nachlassteilhabe dieses
Kindes hinnehmen zu müssen. Ein derartiges Fehlverhalten des Kindes kann den
unbeschränkten Vorrang der Testierfreiheit aber nur dann rechtfertigen, wenn
es über die Störung des familiären Beziehungsverhältnisses deutlich
hinausgeht, die üblicherweise vorliegt, wenn der Erblasser seine Kinder von
der Erbfolge durch letztwillige Verfügung ausschließt. Nicht jedes
Fehlverhalten des Kindes, das zu einer Entfremdung oder zu einem Zerwürfnis
mit dem Erblasser führt, rechtfertigt den Vorrang der Testierfreiheit, da
sonst das Pflichtteilsrecht der Kinder leer liefe und jede praktische
Bedeutung verlöre.
b) Für solche Ausnahmefälle hat der Gesetzgeber von Verfassungs wegen
Regelungen vorzusehen, die dem Erblasser eine Entziehung oder Beschränkung
der Nachlassteilhabe des Kindes ermöglichen. Wegen der Vielgestaltigkeit und
Unterschiedlichkeit möglicher familiärer Konfliktsituationen darf der
Gesetzgeber dabei im Rahmen seines Gestaltungsspielraums generalisierende
und typisierende Regelungen verwenden. Er darf daher auch die
Pflichtteilsentziehung an Tatbestandsmerkmale knüpfen, deren Vorhandensein
in einem späteren gerichtlichen Verfahren relativ leicht nachgewiesen werden
kann. Ebenso liegt es im Rahmen der Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers,
von einem Erblasser bei der Errichtung einer letztwilligen Verfügung, die
eine Pflichtteilsentziehung enthält, zu verlangen, den Grund der Entziehung
mit hinreichender Deutlichkeit zu benennen.
c) Auch der Erbe kann sich, wie ausgeführt, vom Eintritt des Erbfalls an auf
die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG berufen (vgl. oben unter
B. I.). Der Gesetzgeber ist deshalb gehalten, auch ihm die rechtliche
Möglichkeit zu geben, den gegen ihn gerichteten Pflichtteilsanspruch eines
Erblasserkindes mit der Begründung abzuwehren, gerade ein besonders schwer
wiegendes Fehlverhalten des Kindes gegenüber dem Erblasser habe dazu
geführt, dass dieser seinem Kind den Pflichtteil nicht mehr selbst habe
entziehen können.
d) Der Gesetzgeber hat bei der Normierung der Tatbestände, die einen Entzug
oder eine Beschränkung der Nachlassteilhabe der Kinder wegen groben
Fehlverhaltens rechtfertigen, im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit
insbesondere die Grundsätze der Normenklarheit, der Justiziabilität und der
Rechtssicherheit zu beachten (vgl.BVerfGE 63, 312 (323 f.) ). Diese
verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte sprechen gegen eine - in der
rechtspolitischen Diskussion verschiedentlich vorgeschlagene (vgl. die
Nachweise bei S. Herzog, Die Pflichtteilsentziehung - ein vernachlässigtes
Institut, 2003, S. 387-395) - allgemeine Zerrüttungs- oder
Entfremdungsklausel. Auch der verfassungsrechtliche Regelungsauftrag an den
Gesetzgeber in Art. 6 Abs. 5 GG (vgl.BVerfGE 58, 377 (389 f.) ) kann der
Schaffung einer solchen Klausel entgegenstehen. Durch sie würde sich das
Risiko erhöhen, dass nichteheliche Kinder häufiger von einer
Pflichtteilsentziehung betroffen werden als eheliche Kinder. Der Gesetzgeber
ist ferner von Verfassungs wegen nicht gehalten, den Katalog der in § 2333
BGB aufgezählten Pflichtteilsentziehungsgründe um eine allgemein auf schwer
wiegende Gründe verweisende Auffangklausel zu ergänzen, wie teilweise in der
rechtspolitischen Diskussion in Erwägung gezogen wird (vgl. Schlüter, a.a.O.,
S. 1071).
e) Die hier allein zu prüfenden Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Nr.
1 und 2 BGB entsprechen grundsätzlich den verfassungsrechtlichen
Anforderungen. Sie setzen Fehlverhaltensweisen des Pflichtteilsberechtigten
voraus, die schwer wiegend genug sind, um von einer Unzumutbarkeit für den
Erblasser ausgehen zu können, eine seinem Willen widersprechende
Nachlassteilhabe des Kindes hinzunehmen. Diese gesetzlichen Regelungen
umschreiben auch im Interesse der Normenklarheit und der Justiziabilität das
Fehlverhalten des Kindes gegenüber dem Erblasser in hinreichend klarer
Weise. Sie sehen zudem - jedenfalls in der Auslegung, die sie durch
Rechtsprechung und Lehre gefunden haben - mit der Voraussetzung eines
schuldhaften Verhaltens des Kindes ein Tatbestandsmerkmal vor, das für den
Regelfall in geeigneter Weise sicherstellt, dass Fehlverhaltensweisen eines
Kindes den Erblasser nur in extremen Ausnahmefällen zur
Pflichtteilsentziehung berechtigen.
Das Erfordernis schuldhaften Verhaltens des Pflichtteilsberechtigten ist
- neben anderen Gesichtspunkten - im Rahmen des komplexen Beziehungsgefüges
zwischen dem Erblasser und seinen Kindern ein grundsätzlich aussagekräftiges
und geeignetes Abgrenzungskriterium für die Entscheidung, ob das
verfassungsrechtlich geschützte Recht des Kindes auf unentziehbare
Nachlassteilhabe wegen Unzumutbarkeit für den Erblasser hinter dessen
Testierfreiheit zurücktreten muss.
f) Schließlich genügt auch der in den § 2345 Abs. 2, § 2339 Abs. 1 Nr. 1 BGB
normierte Pflichtteilsunwürdigkeitsgrund aus den gleichen Gründen den
verfassungsrechtlichen Anforderungen. Auch er knüpft die Versagung des
Pflichtteilsanspruchs des Kindes an ein außergewöhnlich schwer wiegendes
Fehlverhalten gegenüber dem Erblasser.
II. 1. Die mit der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1644/00 angegriffenen
gerichtlichen Entscheidungen beruhen allerdings auf einer Auslegung und
Anwendung des § 2333 Nr. 1 BGB, die der Ausstrahlungswirkung des Grundrechts
der Testierfreiheit der Erblasserin aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nicht
hinreichend Rechnung trägt.
a) Die Auslegung und Anwendung verfassungsmäßiger Vorschriften des
Zivilrechts ist Sache der ordentlichen Gerichte. Sie müssen dabei aber
Bedeutung und Tragweite der von ihren Entscheidungen berührten Grundrechte
interpretationsleitend berücksichtigen, damit deren wertsetzende Bedeutung
auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl.BVerfGE 7, 198
(205 ff.) ; stRspr). Dazu bedarf es einer Abwägung zwischen den
widerstreitenden grundrechtlichen Schutzgütern, die im Rahmen der
auslegungsfähigen und –bedürftigen Tatbestandsmerkmale der zivilrechtlichen
Vorschriften vorzunehmen ist und die besonderen Umstände des Falles zu
berücksichtigen hat (vgl.BVerfGE 99, 185 (196) ; stRspr). Da der
Rechtsstreit aber ein privatrechtlicher bleibt und seine Lösung im
grundrechtsgeleitet interpretierten Privatrecht findet, ist das
Bundesverfassungsgericht darauf beschränkt nachzuprüfen, ob die
Zivilgerichte den Grundrechtseinfluss ausreichend beachtet haben (vgl.BVerfGE
18, 85 (92 f.) ). Dagegen ist es nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts,
den Zivilgerichten vorzugeben, wie sie den Streitfall im Ergebnis zu
entscheiden haben (vgl. BVerfGE 94, 1 (9 f.) ). Ein Grundrechtsverstoß, der
zur Beanstandung der angegriffenen Entscheidungen führt, liegt aber vor,
wenn übersehen worden ist, dass bei Auslegung und Anwendung des Privatrechts
Grundrechte zu beachten waren, wenn der Schutzbereich der zu beachtenden
Grundrechte unrichtig oder unvollkommen bestimmt oder ihr Gewicht unrichtig
eingeschätzt worden ist, so dass darunter die Abwägung der beiderseitigen
Rechtspositionen im Rahmen der privatrechtlichen Regelung leidet, und wenn
die Entscheidung auf diesem Fehler beruht (vgl.BVerfGE 95, 28 (37); 97, 391
(401)).
b) Danach haben die angegriffenen Entscheidungen keinen Bestand. Sie
gehen zwar in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise davon aus, dass eine
wirksame Entziehung des Pflichtteils nach § 2333 Nr. 1 BGB grundsätzlich ein
schuldhaftes Fehlverhalten des Kindes voraussetzt. Wird dieses von den
Zivilgerichten herangezogene Kriterium jedoch strikt im strafrechtlichen
Sinne verstanden, kann dies im Einzelfall dem verfassungsrechtlichen
Erfordernis eines angemessenen Ausgleichs der gegenüber stehenden
Grundrechtspositionen widersprechen. Eine solche Situation ist gegeben, wenn
das Kind zwar schuldunfähig im Sinne des Strafrechts war, aber den
objektiven Unrechtstatbestand wissentlich und willentlich verwirklichte.
Dies haben die Gerichte in ihren Entscheidungen nicht berücksichtigt.
Der Sachverhalt, den die Gerichte zu bewerten hatten, unterschied sich
wesentlich von den Fallgestaltungen, die in der Regel einer Enterbung oder
einer Pflichtteilsentziehung zu Grunde liegen. Die Gerichte haben die
objektiven Voraussetzungen des Entziehungsgrundes des § 2333 Nr. 1 BGB
festgestellt, aber nicht die besonderen Umstände in ihre Erwägungen
einbezogen. Es ist Aufgabe der Gerichte, ein unverhältnismäßiges
Zurücktreten des Grundrechts der Testierfreiheit hinter das Recht des Kindes
auf hinreichende Nachlassteilhabe zu verhindern.
Die Erblasserin war vom Kläger schon mehrfach vor der Tötung in erheblicher
Weise körperlich misshandelt und bedroht worden. Sie hatte insofern in der
ständigen Angst vor weiteren Misshandlungen und der Tötung durch ihn gelebt.
Diese durchaus konkrete Gefahr, die sich später durch Tötung der Erblasserin
verwirklichte, war für sie der Grund gewesen, dem Kläger den Pflichtteil
entziehen zu wollen. Nach dem im strafgerichtlichen Verfahren eingeholten
Sachverständigengutachten war der Kläger bei der Tötung der Erblasserin zwar
schuldunfähig im strafrechtlichen Sinne, aber immerhin in der Lage, das
Unrecht seiner Tat einzusehen. Dies hätte die Zivilgerichte im
Ausgangsverfahren zur Prüfung veranlassen müssen, ob der Kläger bei den
vorangegangenen Misshandlungen jedenfalls in einem natürlichen Sinne
vorsätzlich gehandelt und den Tatbestand des nach dem Leben Trachtens gemäß
§ 2333 Nr. 1 BGB erfüllt hatte. Die Gerichte haben diese besonderen Umstände
nicht gewürdigt und sie nicht in die Abwägung der gegenüberstehenden
Grundrechtspositionen zur Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze einbezogen,
sondern lediglich darauf abgestellt, dass der Kläger bei den Angriffen auf
die Erblasserin nicht schuldhaft gehandelt habe. Das wird der Problematik
des Ausgangsfalls nicht gerecht und verfehlt die grundrechtliche
Gewährleistung der Testierfreiheit.
c) Die Vorschrift des § 2333 Nr. 1 BGB konnte von den Gerichten in dem Sinne
ausgelegt und angewendet werden, dass es auf ein Verschulden des Klägers im
strafrechtlichen Sinne nicht ankommt.
aa) Der Wortlaut der Vorschrift steht einer solchen Auslegung nicht
entgegen, da das Tatbestandsmerkmal eines schuldhaften Verhaltens des
Pflichtteilsberechtigten vom Gesetzgeber in die Nr. 1 des § 2333 BGB nicht
aufgenommen worden ist. Nach der Definition der Rechtsprechung trachtet nach
dem Leben eines anderen, wer dessen Tod durch sein Tun "erstrebt", wer sich
den Tod des anderen als "Ziel" seines Tuns gesetzt hat (vgl. RGZ 100, 114
(115) zu § 1566 BGB a.F.). Der Gesetzeswortlaut schließt es demnach nicht
aus, dass auch ein mit "natürlichem" Vorsatz handelnder psychisch Kranker
eine solche zielgerichtete Handlung vornehmen kann. Auch systematische
Gründe stehen einer entsprechenden Auslegung nicht im Wege. Ein Vergleich
zwischen dem Pflichtteilsentziehungsgrund in § 2333 Nr. 1 BGB einerseits und
den ein Verschulden voraussetzenden Gründen in § 2333 Nr. 2 und 3 BGB
andererseits lässt den Schluss zu, dass die Lebensnachstellung als ein
eigenständiges, schwer wiegendes Fehlverhalten des Pflichtteilsberechtigten
angesehen werden muss, weshalb es nicht in den Katalog der schweren Vergehen
und Verbrechen aufgenommen, sondern ganz an den Anfang der Aufzählung der
für beachtlich erklärten Gründe gestellt worden ist.
bb) Schließlich spricht auch die Entstehungsgeschichte des § 2333 Nr. 1 BGB
nicht gegen eine solche Auslegung. Aus den Gesetzgebungsmaterialien lässt
sich nicht eindeutig entnehmen, dass es der Wille des Gesetzgebers war, auch
bei dem Pflichtteilsentziehungsgrund des § 2333 Nr. 1 BGB ein schuldhaftes
Verhalten des Pflichtteilsberechtigten zu verlangen. So wurden zwar die
einzelnen Pflichtteilsentziehungsgründe in den Beratungen zur Schaffung
eines Bürgerlichen Gesetzbuches als eine "Art Strafe" für den
Pflichtteilsberechtigten bezeichnet, und der Teilentwurf Erbrecht des
zuständigen Redaktors sah vor, dass der Pflichtteilsberechtigte die
Lebensnachstellung "mittels strafrechtlich verfolgbarer Handlung" begehen
müsse. Im weiteren Verlauf der Beratungen wurde aber diese Formulierung
weder von der 1. Kommission noch von der 2. Kommission aufgegriffen. Bereits
der Entwurf der 1. Kommission sah die Lebensnachstellung als selbstständigen
Entziehungsgrund vor (vgl. Jakobs/Schubert (Hrsg.), Die Beratung des
Bürgerlichen Gesetzbuchs, Erbrecht, 2. Teilband, 2002, S. 1999-2013). Die
Materialien sprechen in diesem Zusammenhang nur von der "Urheberschaft der
bezeichneten Handlung" in der Person des Pflichtteilsberechtigten (vgl.
Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche
Reich, a.a.O., S. 431). In der Denkschrift des Reichsjustizamtes zum
Bürgerlichen Gesetzbuch wurde als gemeinsamer Grundgedanke der
Pflichtteilsentziehungsgründe der Gesichtspunkt genannt, dass die Entziehung
nur stattfinden dürfe, wenn dem Pflichtteilsberechtigten ein Verhalten zur
Last falle, das sich als eine grobe Verletzung des zwischen dem Erblasser
und dem Pflichtteilsberechtigten bestehenden Bandes darstelle (vgl. Mugdan,
a.a.O., S. 876). Angesichts dieser Quellenlage lässt sich nicht feststellen,
dass § 2333 Nr. 1 BGB eine zivilrechtliche Strafsanktion zu Lasten des
Pflichtteilsberechtigten sein soll und dass in jedem Fall ein schuldhaftes
Verhalten im Sinne des Strafrechts erforderlich ist.
d) Das Urteil des Landgerichts und das Urteil des Oberlandesgerichts beruhen
auf der verfassungswidrigen Auslegung und Anwendung des § 2333 Nr. 1 BGB.
Sie verletzen den Beschwerdeführer zu I. in seinem Grundrecht aus Art. 14
Abs. 1 Satz 1 GG. Die Sache wird gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das
Oberlandesgericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
e) Sonstige verfassungsrechtliche Fragen, insbesondere die, ob auch in Bezug
auf den Pflichtteilsentziehungsgrund des § 2333 Nr. 2 BGB und den
Pflichtteilsunwürdigkeitsgrund des § 2345 Abs. 2, § 2339 Abs. 1 Nr. 1 BGB im
konkreten Fall aus verfassungsrechtlichen Gründen eine entsprechende
Auslegung geboten ist und eine solche überhaupt in Betracht kommt, bedürfen
keiner weiteren Prüfung.
f) Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Es
entspricht der Billigkeit, die Auslagenerstattung in vollem Umfange
anzuordnen, weil der Beschwerdeführer sein wesentliches Verfahrensziel, die
erneute Prüfung der Wirksamkeit der Pflichtteilsentziehung durch die
Fachgerichte, erreicht hat.
2. Die angegriffenen Entscheidungen im Verfahren 1 BvR 188/03 verletzen die
Beschwerdeführerin nicht in ihren Verfassungsrechten. Sie lassen einen
Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 Satz 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG
nicht erkennen.
Anders als in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren 1 BvR 1644/00 lag der
Pflichtteilsentziehung hier eine familiäre Konfliktsituation zu Grunde, wie
sie kennzeichnend für eine Enterbung ist und in der das Pflichtteilsrecht
gerade seine Funktion erfüllt. Zwischen dem Erblasser und dem Kläger war es
über die Frage des Umgangs und Kontakts mit einem Enkelkind zu einer
Entfremdung und einem Zerwürfnis gekommen, die der Erblasser zum Anlass
genommen hatte, dem Kläger auch den Pflichtteil zu entziehen. Die Gerichte
haben in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise unter Anwendung des
§ 2336 Abs. 3 BGB vorausgesetzt, dass die Beschwerdeführerin einen
Körperverletzungsvorsatz des Klägers hinreichend substantiiert. Es ist von
Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass die Gerichte den Vortrag der
Beschwerdeführerin für nicht hinreichend substantiiert gehalten und die
angebotenen Beweise deswegen nicht erhoben haben. Sie haben sich mit der
Frage, ob ein entsprechender Vortrag der Beschwerdeführerin im Hinblick auf
das Vorliegen eines Körperverletzungsvorsatzes gegeben ist, inhaltlich
auseinander gesetzt und die Ausführungen der Beschwerdeführerin unter diesem
Gesichtspunkt gewürdigt. Ihre Argumentation findet eine hinreichende
Grundlage in den zivilprozessualen Anforderungen an eine ausreichende
Bestimmtheit eines Beweisantrags (vgl. BGH, NJW-RR 1993, S. 443 f.;
Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 21. Aufl., 1997, § 284 Rn. 42-44, 73 f.). Dass die
Gerichte dabei die grundrechtliche Gewährleistung der Testierfreiheit sowie
die Grundsätze des fairen Verfahrens und des rechtlichen Gehörs verkannt
hätten, ist nicht ersichtlich. Die Rechtsauffassung der Gerichte, aus dem
von der Beschwerdeführerin geschilderten äußeren Geschehensablauf könne
jedenfalls nicht geschlossen werden, dass der Kläger bei dem Abbruch des
Kontakts zu dem schwer kranken Erblasser mit bedingtem
Körperverletzungsvorsatz gehandelt hat, mag in einfachrechtlicher Hinsicht
nicht zwingend gewesen sein. Sie liegt jedoch bei einer Betrachtung der
familiären Gesamtumstände, die der Pflichtteilsentziehung zu Grunde gelegen
haben, zumindest nahe und ist jedenfalls von Verfassungs wegen nicht zu
beanstanden.
|