Pflichtteilsberechtigung des entfernteren
Abkömmlings bei Erb- und Pflichtteilsverzicht des näheren Abkömmlings:
Vorversterbensfiktion nach § 2346 I BGB; (kein) Ausschluss des
Pflichtteilsanspruchs nach § 2309 BGB
BGH, Urteil vom 27. Juni 2012 - IV ZR
239/10
Fundstelle:
NJW 2012, 3097
für BGHZ vorgesehen
Amtl. Leitsatz:
Als "hinterlassen" i.S. des §
2309 Alt. 2 BGB gelten nicht letztwillige oder lebzeitige Zuwendungen des
Erblassers an den näheren, trotz Erb- und Pflichtteilsverzichts zum
gewillkürten Alleinerben bestimmten Abkömmling, wenn dieser und der
entferntere Abkömmling demselben, allein bedachten Stamm gesetzlicher Erben
angehören.
Zentrale Probleme:
Die klagende Enkelin macht gegen
ihre beklagte Mutter Pflichtteilsansprüche nach dem verstorbenen Großvater
geltend. Der Großvater und die Großmutter hatten in einem gemeinschaftlichen
Testament sich gegenseitig zu Alleinerben sowie die Enkel zu Schlusserben
eingesetzt (s. § 2269 BGB). Allerdings war dem Überlebenden das Recht
vorbehalten worden, die (Schluss-)Erbfolge nach ihm innerhalb des Kreises
der Abkömmlinge anders zu bestimmen. Die Beklagte verzichtete gegenüber
ihren Eltern auf das gesetzliche Erb- und Pflichtteilsrecht, wurde aber vom
Großvater (ihrem Vater) nach Vorversterben der Großmutter (ihrer Mutter)
testamentarisch zur Alleinerbin eingesetzt. Das Problem besteht darin: Durch
den Erb- und Pflichtteilsverzicht gehörte die Mutter der Klägerin nicht mehr
zum Kreis der gesetzlichen Erben (Vorversterbensfiktion nach § 2346 I S. 2
BGB). Damit war die Enkelin gesetzliche Erbin der ersten Ordnung nach ihrem
Großvater (§ 1924 I BGB), da sie von ihrer Mutter nicht mehr nach § 1924 II
BGB verdrängt wurde (Repräsentationsprinzip), sondern an ihrer Stelle nach §
1924 III BGB eingetreten ist (Eintrittsprinzip). Da sie anschließend
testamentarisch durch die Alleinerbeneinsetzung der Mutter enterbt war, war
sie nach § 2303 I BGB an sich pflichtteilsberechtigt. Jetzt aber stellt sich
die Frage, ob diese Pflichtteilsberechtigung nach § 2309 Alt. 2 BGB
ausgeschlossen ist. Der Senat verneint das mit überzeugender teleologischer
Begründung: § 2309 will vermehrte Pflichtteilsbelastung ausschließen, diese
steht hier aber nicht in Frage (zur Abgrenzung s.
BGH v. 13.4.2011 - IV ZR 204/09). Zugleich beschäftigt sich der Senat mit dem
Verhältnis der - schwer verständlichen - Vorschrift des § 2309 BGB zu § 2303
BGB.
Die spezielle Frage zu § 2309 BGB geht sicher über das hinaus, was man
zu den "Grundzügen" des Erbrechts i.S. der Prüfungsordnung zu zählen hat.
Die Herleitung des Problems (gesetzliche Erbfolge und grundsätzliche
Pflichtteilsberechtigung) sollte aber auch im Studium verstanden worden
sein. Die Entscheidung ist darüber hinaus auch von allgemeinen methodischen
Interesse für die Frage der Gesetzesauslegung.
S. dazu auch
die Anm. zu
BGH v. 13.4.2011 - IV ZR 204/09.
©sl 2012
Tatbestand:
1 Die Klägerin macht gegen die
Beklagte, ihre Mutter, Pflichtteilsansprüche nach deren am 20. Februar 2005
verstorbenem Vater (Erblasser) in Höhe der Hälfte des Nachlasswertes
geltend.
2 Der Erblasser und die Mutter der Beklagten errichteten am 23. November
1987 ein gemeinschaftliches Testament in notarieller Form, mit dem sie sich
gegenseitig zum alleinigen und ausschließlichen Erben einsetzten und in
Ziff. III. ihre Enkelkinder zu Schlusserben bestimmten. Dem Überlebenden des
Erstversterbenden wurde das Recht vorbehalten, über seine Beerbung neue von
Ziffer III. dieser Urkunde abweichende Bestimmungen zu treffen; er darf
dabei aber letztwillig immer nur solche Personen bedenken, die zum Kreis
unserer gemeinschaftlichen Abkömmlinge oder deren Abkömmlinge gehören."
3 Am selben Tag verzichtete die Beklagte gegenüber ihren Eltern allein für
ihre Person, nicht aber für ihre Abkömmlinge auf das ihr zustehende
gesetzliche Erb- und Pflichtteilsrecht.
4 Nach dem Tod seiner Ehefrau setzte der Erblasser mit notariellem Testament
vom 17. Oktober 2000 die Beklagte zu seiner alleinigen und ausschließlichen
Erbin ein und bestimmte die Klägerin zur Ersatzerbin. Die Parteien sind die
einzigen Abkömmlinge des Erblassers und seiner vorverstorbenen Ehefrau.
Mit der Klage verlangt die Klägerin von der Beklagten Zahlung in Höhe von
85.000 € nebst Z insen sowie Auskunft über den Bestand des Nachlasses und
Einholung eines Wertermittlungsgutachtens bezüglich dem Nachlass zugehörigen
Grundvermögens. Die Parteien streiten darüber, ob § 2309 BGB einer
Pflichtteilsberechtigung der Klägerin entgegensteht.
6 Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit der Revision
verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
7 Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des
Berufungsurteils und zur teilweisen Aufrechterhaltung des
Teil-Versäumnisurteils des Landgerichts Augsburg vom 15. März 2006, im
Übrigen zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
8 I. Dieses hat im Wesentlichen ausgeführt:
9 Die Klägerin sei infolge des Erb- und Pflichtteilsrechtsverzichts der
Beklagten an deren Stelle zur gesetzlichen Erbin berufen gewesen und von dem
Erblasser wirksam enterbt worden. Den deswegen ihr an sich gemäß § 2303 BGB
zustehenden Pflichtteilsanspruch habe sie nach § 2309 Alt. 2 BGB verloren.
Der darin geregelte Ausschluss des entfernteren Abkömmlings "im Falle der
gesetzlichen Erbfolge" beziehe sich nicht auf die konkrete Situation,
sondern auf die abstrakte Erbenstellung des näheren Abkömmlings, hier der
Beklagten, die gemäß § 1924 Abs. 2 BGB die Klägerin grundsätzlich von der
gesetzlichen Erbfolge verdränge.
Infolge der Annahme der Erbschaft durch die Beklagte sei die "Vorversterbensfiktion"
des § 2346 Abs. 1 BGB gegenstandslos geworden.
10 II. Das hält der rechtlichen Nachprüfung im wesentlichen Punkt nicht
stand. Das Berufungsgericht hat versäumt, den Anwendungsbereich des
§ 2309 Alt. 2 BGB nach einer an Sinn und Zweck der Regelung gemessenen
Auslegung zu bestimmen. Dadurch hat es zu Unrecht in der Annahme des
testamentarisch zugewendeten Erbes eine auf den Pflichtteilsanspruch
anzurechnende Entgegennahme des der Beklagten "Hinterlassenen" im Sinne
dieser Vorschrift gesehen.
11 1. Nach dem auf das Pflichtteilsrecht zu übertragenden Prinzip
der Erbfolge nach Klassen und Stämmen i.S. der §§ 1924 ff. BGB ist die
Klägerin pflichtteilsberechtigt gemäß § 2303 Abs. 1 Satz 1 BGB. Zwar ist die
Beklagte der nähere und als solcher nach § 1924 Abs. 2 BGB grundsätzlich
vorrangige Abkömmling des Erblassers. Jedoch gilt sie infolge ihres Erb- und
Pflichtteilsverzichts gemäß § 2346 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BGB als
vorverstorben, so dass ihre Tochter, die Klägerin, an ihrer Stelle in die
gesetzliche Erb- und Pflichtteilsfolge eingerückt ist (vgl.
Erman/Schlüter, BGB 13. Aufl. § 2309 Rn. 1; Heisel in HK-PflichtteilsR §
2309 Rn. 1; Planck/Greiff, BGB Bd. V. 4. Aufl. § 2309 Anm. I 1, II 1;
Kipp/Coing, Erbrecht 14. Bearb. § 9 Ziff. I 1 d; Muscheler, Erbrecht Bd. I
Rn. 2386, Bd. II Rn. 4101, 4103; Kroppenberg, JZ 2011, 1177, 1178).
Diese Position als gesetzliche Erbin ihres Großvaters wurde der Klägerin
durch dessen Testament vom 17. Oktober 2000 entzogen. Der Erblasser war
durch den Erbverzicht nicht daran gehindert, die Beklagte als Erbin
einzusetzen (vgl. Senatsurteil vom 13. April 2011 - IV ZR 204/09,
BGHZ 189, 171 Rn. 13-15; BGH, Beschluss vom 13. Juli 1959 - V ZB 4/59, BGHZ
30, 261, 267; Heisel in HK-PflichtteilsR aaO Rn. 23; MünchKommBGB/Frank, 3.
Aufl. § 2309 Rn. 14; MünchKomm-BGB/Lange, 5. Aufl. § 2309 Rn. 16;
Planck/Greiff aaO Anm. II 1; Staudinger/Haas, BGB Stand 2006 § 2309 Rn. 26;
Muscheler aaO Bd. I Rn. 2418). Dadurch ist der Klägerin ein
originäres Pflichtteilsrecht erwachsen.
12 2. Dieses Pflichtteilsrecht kann gemäß § 2309 BGB wieder
ausgeschlossen sein. Danach sind entferntere Abkömmlinge und die
Eltern des Erblassers insoweit nicht pflichtteilsberechtigt, als ein
Abkömmling, der sie im Falle der gesetzlichen Erbfolge ausschließen würde,
den Pflichtteil verlangen kann oder das ihm Hinterlassene annimmt.
13 a) Zutreffend ist das Berufungsgericht allerdings davon
ausgegangen, dass die Fiktion des § 2346 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BGB dem
Vorrang des näheren Abkömmlings im Rahmen der von § 2309 BGB geforderten
fiktiven gesetzlichen Erbfolge nicht entgegensteht (vgl. RGZ 93,
193, 194 f.; Heisel in HK-PflichtteilsR aaO Rn. 1, 7; Muscheler aaO Bd. I
Rn. 2400 ff., Bd. II Rn. 4103; a.A. MünchKomm-BGB/Frank aaO; Planck/ Greiff
aaO Anm. I 1, II 1; Strohal, Das deutsche Erbrecht Bd. 1 3. Aufl. § 50 III 1
Fn. 7). Mit dem Verweis auf die "gesetzliche Erbfolge" legt das Gesetz den
Kreis der Personen fest, deren Pflichtteilsrechte die Berechtigung des
entfernteren Abkömmlings ausschließen oder einschränken können (vgl. Kramm,
Entstehung und Beseitigung der Rechtswirkungen eines Erbverzichts S. 58).
Die Rangfolge der hypothetischen gesetzlichen Erben bestimmt sich nicht nach
den konkreten Umständen im jeweiligen Erbfall, sondern - abstrakt - nach den
Regelungen der §§ 1924 ff. BGB (vgl. Senatsurteil aaO Rn. 36; RGZ
aaO 195; Staudin-ger/Ferid/Cieslar, BGB 12. Aufl. § 2309 Rn. 10 f.). Dies
folgt aus dem insoweit im Konjunktiv gefassten Wortlaut der Norm
("ausschließen würde"). Zudem begründet allein § 2303 BGB das -
selbständige, nicht von dem vorrangigen Erben abgeleitete -
Pflichtteilsrecht des entfernteren Abkömmlings als Ausgleich für ein ihm
"gewissermaßen [geschehenes] Unrecht" (Motive V 388, 426;
Protokolle V 606; RGZ aaO; Planck/Greiff aaO Anm. I; Lange/Kuchinke,
Erbrecht 5. Aufl. § 37 IV 2. b); Ebbecke, LZ 1919, 505/506, 508, 509, 510
f.; Kroppenberg aaO; vgl. Muscheler aaO Bd. I Rn. 2390, Bd. II Rn. 4098).
§ 2309 BGB enthält hingegen einen Beschränkungstatbestand, dessen
Anwendbarkeit das Ausscheiden des näheren Berechtigten aus der gesetzlichen
Erbfolge und das Nachrücken des entfernteren mit der Folge des § 2303 Abs. 1
Satz 1 BGB voraussetzt (Senatsurteil aaO Rn. 35 m.w.N.; OLG Köln
FamRZ 2000, 194, 195; Erman/Schlüter, BGB 13. Aufl. § 2309 Rn. 1; Heisel in
HK-PflichtteilsR aaO Rn. 1; MünchKomm-BGB/Lange, 5. Aufl. § 2309 Rn. 2;
Planck/Greiff aaO; Staudinger/Ferid/Cieslar aaO Rn. 3; Bestelmeyer, FamRZ
1997, 1124, 1125; v. Jacubezky, Das Recht 1906, 281; Kroppenberg aaO; Mayer,
ZEV 1998, 433 f. ). Käme es für die "gesetzliche Erbfolge" i.S. des
§ 2309 BGB auf ihre Ausgestaltung im Einzelfall an, wäre die Norm ihres
Anwendungsbereichs im Wesentlichen beraubt.
14 b) Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschriften zum Pflichtteil und zum
Erbverzicht folgt nichts Gegenteiliges. Die 2. Kommission hat die im 1.
Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs in § 2023 geregelten Pflichten zur
Ausgleichung und Anrechnung von für den Verzicht gewährten Gegenleistungen
nach Stämmen gestrichen, ohne hierdurch im Rahmen des § 1983 BGB-E (§ 2309
BGB) jegliche Beeinflussung des Pflichtteils durch Zuwendungen aus Anlass
eines Erbverzichts auszuschließen (vgl. Motive V 402; Protokolle V 512,
608).
15 § 1983 BGB-E lautete:
"Ist für einen Abkömmling des Erblassers der Pflichttheilsanspruch begründet
oder in Folge einer Zuwendung ausgeschlossen, so steht den Abkömmlingen
dieses Abkömmlinges sowie den Eltern des Erblassers ein Pflichttheilsrecht
nicht zu."
16 Anlass für diese Regelung waren die Vorversterbensfiktion des § 1972
BGB-E, der zufolge der gesetzliche Erbe hinsichtlich der gesetzlichen
Erbfolge unter anderem bei Ausschluss von der Erbschaft durch Erbverzicht
als vor dem Erblasser gestorben anzusehen sein sollte (für den Erbverzicht §
2346 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BGB), sowie die Vererb- und Übertragbarkeit
des Pflichtteilsanspruchs nach § 1992 Abs. 2 BGB-E (§ 2317 Abs. 2 BGB).
Im Hinblick auf letztere sollte verhindert werden, dass "demselben
Stamme ... zweimal ein Pflichttheil gewährt" und "die auf dem Nachlasse
ruhende Last, entgegen dem Zwecke des Pflichttheilsinstitutes, vervielfacht"
wird (Motive V 401, 402; vgl. Senatsurteil aaO m.w.N.; RGZ aaO 196;
MünchKomm-BGB/Lange aaO Rn. 1; Staudinger/Ferid/Cieslar aaO Rn. 4;
Kipp/Coing, Erbrecht 14. Bearb. § 9 Ziff. I 1 d; Bestelmeyer aaO 1124 f.;
Kramm aaO S. 56 f., 58 f.; Kroppen-berg aaO; Maenner, Das Recht 1920, 134,
135; Mayer aaO). § 1983 BGB-E verneinte übereinstimmend für alle in § 1972
BGB-E genannten Gründe eines Ausscheidens des näheren Berechtigten ein
Pflichtteilsrecht des nachrückenden Abkömmlings, falls der ausgeschiedene
gesetzliche Erbe "wegen seines gesetzlichen Erbrechtes befriedigt ist, sei
es durch den ihm erworbenen Pflichttheilsanspruch, sei es durch die ihm zum
Zwecke seiner Befriedigung wegen des Pflichttheiles gemachten Zuwendungen"
(Motive V 402; Protokolle V 512). Im weiteren Beratungsverlauf wurde § 2023
BGB-E unter bewusster Durchbrechung des Grundsatzes der Eigenständigkeit der
Pflichtteilsrechte der Abkömmlinge durch § 2214 BGB-E (§ 2349 BGB) ersetzt;
die die gesetzliche Erbfolge unmittelbar betreffenden Auswirkungen eines
Erbverzichts wurden, unabhängig von etwaigen Zuwendungen des Erblassers und
vorbehaltlich anderweitiger Regelungen im Verzichtsvertrag, wegen der
"Bedürfnisse des Lebens" auf die Abkömmlinge des Verzichtenden erstreckt
(Protokolle V 607). Ihnen sprach § 1983 BGB-E ungeachtet des Grundes ihres
Einrückens in die gesetzliche Erbenstellung ein Pflichtteilsrecht
unverändert ab, falls der ausgeschiedene nähere Erbe "wegen seines Pflicht-theilsrechts
in dem Pflichttheilsanspruch oder in den ihm gemachten Zuwendungen seine
Befriedigung erhalten hat" (Protokolle V 512; vgl. Protokolle V 606).
17 Mit dem überarbeiteten Wortlaut des § 2309 BGB ist der Gesetzgeber auch
für den Fall des verzichtsbedingten Aufrückens eines entfernteren
Abkömmlings in die gesetzliche Erb- und Pflichtteilsfolge nicht von dem
Prinzip abgekehrt, Doppelbegünstigungen des Stammes des ausgeschiedenen,
nach §§ 1924 Abs. 2, 1930 BGB grundsätzlich vorrangigen Berechtigten sowie
Vervielfältigungen der auf dem Nachlass liegenden Pflichtteilslast
auszuschließen. Für die Abkömmlinge des Erblassers bedeutet dies,
dass "demselben Stamm nicht zwei Pflichtteile, aber auch nicht [ein]
Pflichtteil neben einer Zuwendung" gewährt werden dürfen bzw. darf
(Erman/Schlüter, BGB 13. Aufl. § 2309 Rn. 1; Kipp/Coing, Erbrecht 14. Bearb.
§ 9 Ziff. I. 1. d); vgl. Heisel in HK-PflichtteilsR § 2309 Rn. 1;
Planck/Greiff, BGB Bd. V 4. Aufl. § 2309 Anm. I. 4.; Kramm, Entstehung und
Beseitigung der Rechtswirkungen eines Erbverzichts; Krop-penberg, JZ 2011,
1177, 1178; Muscheler, Erbrecht Bd. II Rn. 4102).
18 3. Vor diesem Hintergrund hat das Berufungsgericht zu Unrecht
einen Ausschluss der Pflichtteilsberechtigung der Klägerin angenommen.
Aufgrund des verzichtsbedingten Wegfalls des Pflichtteilsrechts der
Beklagten ist § 2309 Alt. 1 BGB nicht einschlägig (vgl. Heisel in
HK-PflichtteilsR aaO Rn. 17; Staudinger/Ferid/Cieslar, BGB 12. Aufl. § 2309
Rn. 51; Muscheler aaO Bd. II Rn. 4103; a.A. Staudinger/Haas, BGB Stand 2006
§ 2309 Rn. 20 f.). Die Voraussetzungen des § 2309 Alt. 2 BGB sind
ebenfalls nicht erfüllt. Unzutreffend hat das Berufungsgericht die der
Beklagten durch Verfügung von Todes wegen zugewandte Erbschaft als
"Hinterlassenes" angesehen.
19 a) Der Begriff des "Hinterlassenen" i.S. des § 2309 Alt. 2 BGB ist in
Rechtsprechung und Literatur noch nicht abschließend geklärt. Nach
allgemeiner Ansicht können letztwillige Zuwendungen des Erblassers an den
näheren Abkömmling als "hinterlassen" gelten. Dies wird überwiegend auch für
den Fall bejaht, dass der nähere Abkömmling auf sein gesetzliches Erb- und
Pflichtteilsrecht verzichtet (Staudinger/Ferid/Cieslar aaO Rn. 20,
51; Heisel in HK-PflichtteilsR aaO Rn. 23; MünchKommBGB/Lange, 5. Aufl. §
2309 Rn. 15-17; MünchKomm-BGB/Frank, 3. Aufl. § 2309 Rn. 12 i.V.m. Rn. 14,
wonach aber für den Erbverzicht des näheren Abkömmlings eine Ausnahme gelten
soll; ebenso Planck/Greiff aaO Anm. II 1, III 1 b-e und Staudinger/Haas aaO
Rn. 22 a.E.; Muscheler aaO Bd. II Rn. 4103; Ebbecke, LZ 1919, 505, 513;
Mayer, ZEV 1998, 433, 434; einschränkend Muscheler aaO Bd. I Rn. 2404 f.;
vgl. Soergel/Dieckmann, 13. Aufl. § 2309 Rn. 9, 23). Wegen des allgemeinen
Gesetzeswortlauts sei eine einengende Auslegung auf das zur Befriedigung
oder Abwendung eines sonst bestehenden Pflichtteilsanspruches letztwillig
Zugewendete ebenso abzulehnen wie eine Differenzierung nach den
verschiedenen Gründen, aus denen der nähere Abkömmling weggefallen ist. Eine
einengende Auslegung könne zudem nicht mit dem § 2309 BGB beherrschenden
Grundsatz vereinbart werden, dass ein Stamm lediglich einen Pflichtteil und
diesen nicht neben einer Zuwendung erhalten solle (Staudinger/Ferid/Cieslar
aaO Rn. 20; differenzierend: Maenner, Das Recht 1920, 134, 137 f.; ebenso
wohl auch Soergel/Dieckmann aaO Rn. 23). Die herrschende Meinung befürwortet
darüber hinaus eine Ausdehnung dieses Verständnisses auf lebzeitige
Zuwendungen - etwa in Form von Abfindungen für den Verzicht (OLG Celle NJW
1999, 1874; Heisel in HK-PflichtteilsR aaO Rn. 24 f.; Mayer aaO; Muscheler
aaO Bd. II Rn. 4103; Staudinger/Ferid/Cieslar aaO Rn. 21; Staudinger/Haas
aaO Rn. 23).
20 b) Dieser Meinungsstreit bedarf jedoch keiner abschließenden Klärung. Mit
der hier in Rede stehenden besonderen Konstellation setzen sich die
vorstehend wiedergegebenen Auffassungen nicht auseinander. Der
Erblasser hat den gemäß § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB - beschränkt auf seine
Person - aus der gesetzlichen Erb- und Pflichtteilsfolge ausgeschiedenen
näheren Abkömmling durch Verfügung von Todes wegen zum gewillkürten
Alleinerben bestimmt. Dieser gehört gemeinsam mit dem in seine gesetzliche
Erbenstellung nachgerückten, aufgrund der Erbeinsetzung mit der Folge des §
2303 BGB enterbten entfernteren Abkömmling dem einzigen Stamm gesetzlicher
Erben nach dem Erblasser an. Für diesen Fall einer ausschließlich auf einen
Stamm bezogenen Erbfolge ist § 2309 Alt. 2 BGB einschränkend auszulegen.
Danach können - letztwillige oder lebzeitige - Zuwendungen an den näheren
Abkömmling nicht als anrechnungspflichtiges "Hinterlassenes" i.S. des § 2309
Alt. 2 BGB gelten, weil eine davon nur erfasste Doppelbelastung des
Nachlasses nicht ausgelöst wird.
21 aa) Maßgeblich für die Auslegung ist der in § 2309 Alt. 2 BGB zum
Ausdruck gekommene objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus
dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt. Dem
Ziel, dem im Gesetz objektivierten Willen des Gesetzgebers Rechnung zu
tragen, dienen die nebeneinander zulässigen, sich gegenseitig ergänzenden
Methoden der Auslegung aus dem Wortlaut der Norm, ihrem Sinnzusammenhang,
ihrem Zweck sowie aus den Gesetzgebungsmaterialien und der
Entstehungsgeschichte (Senatsurteile vom 7. Dezember 2011 - IV ZR
50/11, VersR 2012, 219 und IV ZR 105/11, VersR 2012, 304, jeweils Rn. 14
m.w.N.).
22 bb) Der Wortlaut des § 2309 Alt. 2 BGB ist nicht eindeutig. Aufschluss
geben aber Sinn und Zweck der Norm sowie die Dokumentation des
Gesetzgebungsverfahrens (siehe vorstehend Ziff. II. 2.). Danach soll § 2309
BGB den eigenständigen und vererbbaren Anspruch der Abkömmlinge, Eltern und
Ehegatten des Erblassers auf den Pflichtteil, der gemäß § 2303 BGB an die
Stelle ihres mit Verfügung von Todes wegen entzogenen gesetzlichen Erbrechts
tritt, beschränken, um zu vermeiden, dass demselben Stamm zweimal ein
Pflichtteilsrecht gewährt und die auf dem Nachlass ruhende Pflichtteilslast
erhöht wird.
23 (1) Die Erbfolge nach dem Vater bzw. Großvater der Parteien wird
von diesem Normzweck nicht erfasst. Gehören der trotz Erb- und
Pflichtteilsverzichts zum gewillkürten Alleinerben bestimmte nähere
Abkömmling und der entferntere Pflichtteilsberechtigte dem einzigen Stamm
gesetzlicher Erben an, berühren die Zuwendungen des Erblassers an den
näheren Berechtigten einschließlich der Erbeinsetzung lediglich ihr auf
diesen Stamm beschränktes Innenverhältnis. Bleiben solche Zuwendungen bei
der Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen unberücksichtigt, droht dem
Nachlass keine unbillige Vervielfältigung der Pflichtteilslast. Es besteht
keine Gefahr, dass der Stamm zum Nachteil weiterer Beteiligter einen höheren
Pflichtteil erhalten könnte.
24 (2) Schuldner der Pflichtteilsansprüche des entfernteren
Berechtigten ist der nähere Abkömmling als gewillkürter Erbe. Er profitiert
von der Entlastung des Nachlasses durch § 2309 BGB. Darüber hinaus ist er
Empfänger derjenigen den Nachlass mindernden Leistungen des Erblassers,
deren Zuordnung zu § 2309 Alt. 2 BGB in Frage steht. Wäre eine solche
Zuordnung zu bejahen und könnte der gewillkürte Erbe dem seinem Stamm
angehörenden entfernteren Abkömmling dies mit pflichtteilsreduzierender
Wirkung entgegenhalten, verringerte sich die auf dem Nachlass ruhende
Pflichtteilslast allein zu seinen Gunsten; er wäre insoweit, ohne dass der
Normzweck dies erforderte, mehrfach begünstigt.
25 (3) Die Testierfreiheit des Erblassers gebietet keine abweichende
Beurteilung. Sie ist ein wesentliches Element der von Art. 14 Abs. 1 Satz 1
GG als Individualgrundrecht und als Rechtsinstitut verfassungsrechtlich
geschützten Erbrechtsgarantie (BVerfGE 67, 329, 340 f.; 91, 346, 358). Ihr
Inhalt und ihre Schranken werden gesetzlich bestimmt. Durch das
Pflichtteilsrecht, das dem aufgrund Verfügung von Todes wegen von der
Erbfolge ausgeschlossenen Abkömmling, Elternteil oder Ehegatten des
Erblassers eine Mindestbeteiligung am Nachlass gewähren soll, wird sie in
verfassungskonformer Weise beschränkt (vgl. BVerfGE aaO 341 bzw. 359 f.;
Muscheler, Erbrecht Bd. II Rn. 3022; ähnlich Schlitt in Schlitt/Müller,
Handbuch Pflichtteilsrecht § 1 Rn. 2, 5). Auch wenn der auf die Person des
näheren Abkömmlings bezogene Erb- und Pflichtteilsverzicht den Erblasser in
die Lage versetzen soll, über seinen Nachlass frei und durch das
Pflichtteilsrecht des Verzichtenden ungehindert zu verfügen (vgl. Ebbecke,
LZ 1919, 505, 510), ist diese Freiheit unter den vorstehend
genannten Voraussetzungen durch den originär dem entfernteren Abkömmling
entstandenen Pflichtteilsanspruch wiederum eingeschränkt.
26 Dies entspricht der in §§ 2349 Halbsatz 2, 2351 BGB zum Ausdruck
gebrachten gesetzgeberischen Wertung. Resultiert die
Pflichtteilsberechtigung des entfernteren Abkömmlings aus einem Erb- und
Pflichtteilsverzicht des näheren, steht sie allenfalls über einen -
zweiseitigen -Aufhebungsvertrag i.S. der §§ 2351, 2348 BGB zur Disposition
des Erblassers und des Verzichtenden. Dabei braucht die Frage nicht
entschieden zu werden, ob ein solcher Vertrag der Zustimmung des
Berechtigten bedarf, falls durch den Verzicht zu seinen Gunsten ein
Anwartschaftsrecht auf den Pflichtteil entstanden sein sollte (vgl.
MünchKomm-BGB/ Frank, 3. Aufl. § 2309 Rn. 14; Planck/Greiff, BGB Bd. V 4.
Aufl. § 2309 Anm. II 1; Staudinger/Ferid/Cieslar, BGB 12. Aufl. § 2309 Rn.
51; Muscheler aaO Bd. I Rn. 2405, 2418). Die einseitige testamentarische
Verfügung des Erblassers vom 17. Oktober 2000 kann einen Aufhebungsvertrag
nicht ersetzen. Ohnehin hat der Erblasser ausdrücklich erklärt, er wolle
"weitere Bestimmungen" - als die Einsetzungen der Beklagten zur Erbin und
der Klägerin zur Ersatzerbin - "nicht treffen". Dies legt nahe, dass er den
Erbverzichtsvertrag vom 23. November 1987 fortbestehen lassen wollte (vgl.
BGH, Beschluss vom 13. Juli 1959 - V ZB 4/59, BGHZ 30, 261, 267).
27 III. Auf die Revision der Klägerin ist das Berufungsurteil somit
aufzuheben und die Beklagte in Änderung des landgerichtlichen Endurteils zur
Erteilung von Auskunft zu verurteilen (§§ 562 Abs. 1, 563 Abs. 3
ZPO).
28 IV. Darüber hinaus ist der Rechtsstreit nicht i.S. des § 563 Abs. 3 ZPO
zur Endentscheidung reif. Insoweit weist der Senat auf Folgendes hin:
29 In der Klageschrift hat die Klägerin mit dem Antrag zu Ziff. II. 2. eine
Verurteilung der Beklagten zur Ermittlung des Wertes des zum Nachlass
gehörenden Grundbesitzes durch Sachverständigengutachten begehrt. Mit dem
Teil-Versäumnisurteil vom 15. März 2006 ist die Beklagte insoweit
antragsgemäß verurteilt worden. Gegen das die Klage abweisende Endurteil des
Landgerichts hat die Klägerin Berufung eingelegt, den Antrag auf
Verurteilung der Beklagten zur Einholung eines Wertgutachtens jedoch weder
in der Berufungsbegründung angekündigt noch in der mündlichen Verhandlung
vor dem Berufungsgericht gestellt. Eine auf den rechtshängigen
Wertermittlungsanspruch bezogene prozessuale Erklärung der Klägerin ist
nicht entbehrlich. Dieser auf § 2314 Abs. 1 Satz 2 BGB gestützte Anspruch
ist von dem Anspruch des Pflichtteilsberechtigten auf Auskunftserteilung
gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB zu unterscheiden. Beide Ansprüche haben
unterschiedliche Gegenstände. Die Wertermittlung durch Gutachten stellt kein
unselbständiges Mittel zur Erfüllung des Auskunftsanspruchs dar
(Senatsurteil vom 9. November 1983 - IVa ZR 151/82, BGHZ 89, 24, 28). Das
Berufungsgericht wird der Klägerin Gelegenheit geben müssen, eine den
Wertermittlungsanspruch betreffende prozessuale Erklärung abzugeben.
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