Vom Gläubiger zu vertretende Unmöglichkeit: Aufrechterhaltung der Gegenleistungspflicht, Abzug ersparter Aufwendungen und Beweislast


BGH, Urteil vom 17. Juli 2001 - X ZR 29/99 - OLG Frankfurt am Main - LG Frankfurt am Main


Fundstelle:

NJW 2002, 57


Amtl. Leitsatz:

Die Darlegungslast für ersparte Aufwendungen des Schuldners bei vom Gläubiger zu vertretender Unmöglichkeit trifft grundsätzlich den Gläubiger. Diesem können jedoch bei der Darlegung im Einzelfall Erleichterungen zugute kommen.


Zentrale Probleme:

Im Mittelpunkt der Entscheidung steht ein Standardproblem des allgemeinen Schuldrechts, welches auch nach der Schuldrechtsreform nicht anders zu beurteilen ist. Wegen der zeitbedingt nicht nachholbaren Leistung (Versendung von Zeitschriften) war hier von Unmöglichkeit auszugehen. Danach entfiel die Leistungspflicht des Kl. nach § 275 I BGB a.F. (ebenso wie nach § 275 I BGB n.F.). Wird die Leistung unmöglich, ist der Schuldner nach § 324 I 1 BGB a.F. weiterhin zur Leistung verpflichtet, muß sich aber nach § 324 I 2 BGB a.F. ersparte Aufwendungen anrechnen lassen. Aus § 326 II BGB n.F. ergibt sich dieselbe Rechtsfolge (allerdings stellt § 326 II nunmehr eine "weit überwiegende Verantwortlichkeit" des Gläubigers der alleinigen Verantwortlichkeit gleich).

S. dazu die Übersicht und Kurzerläuterung "funktionelles Synallagma" auf der Seite zur Schuldrechtsmodernisierung ("Übersichten")

Das hier diskutierte Problem der Beweislast für das Vorliegen abzugsfähiger Ersparnisse ist damit nach neuem Recht ebenso zu beurteilen, wie bisher. Der BGH betont, daß nach allgemeinen Grundsätzen der Beweislast der Gläubiger der unmöglich gewordenen Leistung eine beim Schuldner vorliegende Ersparnis nachzuweisen hat. Diese ist nämlich eine Einrede gegen den fortbestehenden Gegenleistungsanspruch und damit eine für den Gläubiger (d.h. den Schuldner der Gegenleistung) günstige Rechtsfolge. Die Tatsache, daß er hier Umstände nachweisen muß, die in der "Sphäre" des anderen Teils liegen, rechtfertigt keine Umkehr der Beweislast. Der Gläubiger kann sich in diesen Fällen aber - auf der Ebene des materiellen Rechts - evtl. durch einen "allgemeinen" Auskunftsanspruch aus § 242 BGB behelfen. Prozeßrechtlich kommen überdies Beweiserleichterungen durch ein Erfordernis "substantiierten Bestreitens" durch den Schuldner in Betracht. Diese sog. "sekundäre Behauptungslast" entstammt dem Prozeßrecht und ist unabhängig von der dem materiellen Recht zuzuordnenden Beweislast zu beurteilen (vgl. dazu die Anm. zu BGH NJW 1999, 1404 ff).


Tatbestand:

Die 1986 von vier zuvor langjährig bei der Beklagten, einer im Zeitungs- und Zeitschriftendruck tätigen Großdruckerei, beschäftigten älteren Verladearbeitern als ausgelagerter Betriebsteil gegründete Klägerin sortierte und verlud die von der Beklagten gedruckten Periodika, darunter die ...Zeitung, im F. Hauptbahnhof für den Bahnversand. Zwischen den Parteien bestand ein Zehnjahresvertrag bis zum 31. August 1996. Die Gründung der Klägerin war auf Veranlassung der Beklagten erfolgt. Diese hatte erkennen lassen, daß sie für die Dauer ihres Druckauftrags für die ...Zeitung von der Notwendigkeit einer Bahnversendung ausging. Für die Leistungen der Klägerin war eine monatliche Nettopauschalvergütung von 58.333, DM (für September 58.337, DM; jährlich insgesamt 700.000, DM) vereinbart. Nach § 5 des Vertrags lagen diesem die in einer Anlage genannten Erzeugnisse und Auflagen zugrunde; bei wesentlicher und dauerhafter Beeinflussung der Verladetätigkeit sollte über die Vertragsbedingungen neu verhandelt werden. Nach § 6 bestand Einigkeit, daß zur Zeit des Vertragsabschlusses 12 Mitarbeiter erforderlich waren.

Im Lauf der Zeit kam es zum Wegfall einzelner Zeitschriften. Für weitere Periodika, darunter die ... Zeitung, die ab 1. Juli 1993 über den EMS-Dienst der Post versendet wurde, sowie Zeitschriften des Deutschen Fachverlags ab 1. September 1994, veränderten die Verlage die Versendungsart, so daß die Klägerin in den Monaten September bis Dezember 1994 nur noch 3,68 % der ursprünglichen Stückzahlen verlud. Nachdem sich die Klägerin einer von der Beklagten geforderten Anpassung der Vergütung widersetzte, kündigte die Beklagte den Vertrag zum 31. Dezember 1994. Auf die Vergütung für die Monate September bis Dezember 1994 hat die Beklagte 10.120, DM gezahlt.

Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 268.350,20 DM (Restvergütung für 1994) abzüglich gezahlter 10.120, DM zu verurteilen sowie festzustellen, daß das Vertragsverhältnis bis 31. August 1996 weiterbestehe. Das Landgericht hat der Klage in Höhe von 268.336,40 DM stattgegeben. Durch infolge Rücknahme der Revision rechtskräftig gewordenes Teil- und Grundurteil hat das Berufungsgericht das Fortbestehen des Vertragsverhältnisses bis 31. August 1996 festgestellt und die Beklagte dem Grunde nach - vorbehaltlich der Anrechnung von Ersparnissen und anderer Verdienstmöglichkeiten - zur Zahlung der Vergütung für die streitgegenständlichen Monate verurteilt. Im Betragsverfahren hat das Berufungsgericht die Beklagte unter Klageabweisung im übrigen zur Zahlung von 22.620,75 DM abzüglich gezahlter 10.120, DM verurteilt. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihren weitergehenden Zahlungsanspruch weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Entscheidungsgründe:

Das zulässige Rechtsmittel führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, dem auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens zu übertragen ist.

I. 1. Durch das rechtskräftig gewordene Teil- und Grundurteil des Berufungsgerichts vom 21. Januar 1997 ist für das weitere Verfahren bindend entschieden, daß das Vertragsverhältnis zwischen den Parteien bis zum 31. August 1996 fortbestand.

2. Das Berufungsgericht hat den der Klägerin demnach für die Monate September bis Dezember 1994 dem Grunde nach zustehenden Vergütungsanspruch nach § 324 Abs. 1 Satz 2 BGB gekürzt. Es hat dazu ausgeführt, die Klägerin sei wegen unzureichenden Vortrags so zu stellen, als hätte sie im Umfang der eingetretenen Teilunmöglichkeit Aufwendungen erspart. Zwar müsse grundsätzlich die Beklagte die Voraussetzungen ihrer Einwendung beweisen. Da die Ersparnis im Bereich der Klägerin eingetreten sei, in den die Beklagte regelmäßig keinen Einblick habe, habe sie einer Unterstützung durch die Klägerin bedurft. Zur Ausfüllung der Vertragsobliegenheit aus § 324 Abs. 1 Satz 2 BGB seien die zu § 649 Satz 2 BGB entwickelten Grundsätze heranzuziehen. Diese bürdeten es dem ordentlich gekündigten Werkunternehmer auf, vorzutragen und zu beziffern, was er sich anrechnen lassen wolle. Der sich danach ergebenden Darlegungslast habe die Klägerin nicht genügt, denn sie habe weder die Ersparnisse angegeben, die sie sich infolge der Teilunmöglichkeit anrechnen lassen wolle, noch ihre Kalkulation ausreichend dargestellt.

3. Hiergegen wendet sich die Revision im Ergebnis mit Erfolg.

a) Allerdings hat Teilunmöglichkeit im Sinne des § 324 BGB vorgelegen. Die Beklagte hat als Gläubigerin eine ihr obliegende Mitwirkungsobliegenheit (Anlieferung der zu expedierenden Zeitungen) nicht erfüllt, so daß das "Leistungssubstrat" entfallen ist. Jedenfalls angesichts des hier dem Vertrag innewohnenden Zeitmoments konnte sie die Erfüllung der sie jeweils zu einem bestimmten Termin treffenden Obliegenheit auch später nicht mehr nachholen (vgl. BGH, Urt. v. 14.11.1990 - VIII ZR 13/90, NJW-RR 1991, 267 f. = MDR 1991, 524 f.).

b) Der Revision kann auch nicht darin beigetreten werden, daß die Parteien in dem zwischen ihnen geschlossenen Vertrag eine Sonderregelung getroffen hätten, die die Anwendung der Regelung des § 324 BGB ausschließe. Insoweit setzt sich die Revision in unzulässiger Weise entgegen § 322 ZPO in Widerspruch mit dem rechtskräftig gewordenen Grundurteil. In diesem hat das Berufungsgericht eine Anrechnung ersparter Aufwendungen bejaht. Es hat dazu ausgeführt: "Eine Entscheidung zur Höhe ist dem Senat ... hinsichtlich des Leistungsantrags noch nicht möglich, weil die Beklagte ersparte Aufwendungen der Klägerin geltend gemacht und die Klägerin die Übernahme der Verladung anderer Publikationen eingeräumt hat. Die Anrechnungsumstände i.S.d. § 324 Abs. 1 Satz 2 BGB bedürfen noch der Aufklärung." Damit ist über die Anwendbarkeit der Regelung in § 324 Abs. 1 Satz 2 BGB für das weitere Verfahren bindend entschieden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist für den Umfang der Bindung eines Grundurteils das wirklich Erkannte maßgebend (BGHZ 35, 248, 252 f.; BGH, Urt. v. 2.5.1961 - VI ZR 153/60, NJW 1961, 1465, 1466; Urt. v. 26.9.1996 - VII ZR 142/95, NJW-RR 1997, 188 f.). Was erkannt worden ist, wird durch die Urteilsformel in Verbindung mit den Urteilsgründen festgelegt. Die Auslegung hat das Revisionsgericht selbständig vorzunehmen (BGH, Urt. v. 26.9.1996, aaO.). Das erste Berufungsurteil ist insoweit eindeutig.

4. Mit Erfolg rügt die Revision jedoch, daß das Berufungsgericht die Beweislastverteilung hinsichtlich der ersparten Aufwendungen verkannt habe. Das Berufungsgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß die Verteilung der Darlegungslast bei § 324 Abs. 1 Satz 2 BGB den zu § 649 Satz 2 BGB entwickelten Grundsätzen (vgl. hierzu BGHZ 131, 362, 365; BGHZ 140, 263, 266; BGH, Urt. v. 7.11.1996 - VII ZR 82/95, MDR 1997, 236) folge. Wie der Senat bereits bei anderer Gelegenheit entschieden hat, trifft die Beweislast für die Ersparnis von Aufwendungen als Voraussetzung der Anrechnungspflicht gemäß § 324 Abs. 1 Satz 2 BGB den Gläubiger, d.h. im Sinn der Formulierung des Gesetzes den "anderen Teil", hier mithin die Beklagte (Sen.Urt. v. 26.6.1990 - X ZR 19/89, NJW 1991, 166, 167 unter Hinweis auf RG SeuffA 61 Nr. 79; RG Gruchot 51, 945, 947; 53, 916, 917; RG JW 1909, 455; weiter Baumgärtel/Strieder, Handbuch der Beweislast im Privatrecht, 2. Aufl. Rdn. 3 und Fußn. 8 zu § 324 BGB m.w.N.; Palandt/Heinrichs, BGB, 60. Aufl., § 324 BGB Rdn. 10). Dies entspricht den allgemeinen Grundsätzen der Verteilung der Darlegungslast, nach denen jede Partei die ihr günstigen Tatsachen darzulegen hat, sowie der Systematik der gesetzlichen Regelung, nach der die Anrechnung als Einrede ausgestaltet ist (vgl. BGHZ 107, 67, 69 m.w.N.). Auch angesichts des weitgehend übereinstimmenden Wortlauts der Regelungen in den §§ 324 und 649 BGB, auf den sich das Berufungsgericht im wesentlichen stützt, und des Umstands, daß die Anrechnungsfaktoren im Rahmen des § 324 BGB in der Sphäre der nach dieser Systematik nicht darlegungsbelasteten Partei entstehen, besteht im Fall des § 324 BGB kein überzeugender Anlaß, von diesen allgemeinen Grundsätzen abzugehen. Schwierigkeiten bei der Darlegung und der Beweisführung kann nämlich im Rahmen von Beweiserleichterungen und durch die Zubilligung von Auskunftsansprüchen Rechnung getragen werden (vgl. hierzu Baumgärtel/Strieder, aaO und Fußn. 9, 10; vgl. weiter BGHZ 140, 153, 158 f. m.w.N.). Auch der vom Berufungsgericht angezogene Fall der unwirksamen Kündigung und anschließenden anderweitigen Auftragsvergabe durch den Besteller erfordert keine andere Bewertung, da auch hier von einem dem "anderen Teil" im Sinn des § 276 BGB zuzurechnenden Verhalten auszugehen ist.

Es kommt hinzu, daß in den Fällen des § 324 Abs. 1 BGB die Verantwortung für das Scheitern des Vertrags im Sinn eines nach § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB vorwerfbaren Verhaltens bei dem "anderen Teil" liegt. Demgegenüber macht im Fall des § 649 BGB der kündigende Besteller nur von einer ihm gesetzlich eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, ohne daß darin ein vorwerfbares Verhalten läge. Mit einer Kündigung nach § 649 BGB muß der Unternehmer zudem jederzeit rechnen und er kann sich daher eher auf sie einstellen als auf eine erst die Rechtsfolgen des § 324 Abs. 1 BGB begründende Vertragsverletzung.

II. Wegen der unzutreffenden Beurteilung der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast kann das angefochtene Urteil mit der ihm zugrunde liegenden Begründung keinen Bestand haben. Das Berufungsgericht wird die Frage der ersparten Aufwendungen unter dem Gesichtspunkt neu zu prüfen haben, daß die Darlegungslast hierfür grundsätzlich bei der Beklagten liegt, wenngleich dieser Beweiserleichterungen zugute kommen können. Es wird dabei aber nicht unberücksichtigt lassen dürfen, daß bei aller Unklarheit des Vortrags der Klägerin als der jedenfalls zunächst nicht darlegungspflichtigen Partei diesem als Kern zu entnehmen ist, daß sie von 9 oder 11 Beschäftigten in der maßgeblichen Zeit zwei entlassen hatte und daß einem von ihnen eine Abfindung in Höhe von (zumindest) 8.000, DM gezahlt worden war. Hinzu kam eine Reduzierung des Aufwands für Aushilfen im Dezember 1994 gegenüber Dezember 1993 um 936, DM. Sollte das Berufungsgericht unter Berücksichtigung der Verteilung der Darlegungslast Feststellungen treffen können, ob dieser Vortrag zutrifft, könnte sich daraus bereits eine Grundlage für die Schätzung der der Klägerin zustehenden Vergütung ergeben. Dafür, daß weitere böswillig unterlassene Ersparnis in Betracht kam, fehlt es an näheren Anhaltspunkten; es erscheint auch plausibel, daß es aufwendig war, zahlenmäßig wenige Zeitschriften auf viele Züge zu verladen. Auch wenn sich das Versandvolumen drastisch verringert hatte, ist das Vorbringen der Klägerin, mit Rücksicht auf die Arbeitsabläufe habe das Personal im wesentlichen vorgehalten werden müssen, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen.