Prozeßziel "Wahrheitsfindung": Keine allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht der nicht beweisbelasteten Partei  

BGH, Urteil v. 11.06.1990  - II ZR 159/89 (Hamburg)


Fundstellen:

NJW 1990, 3151
LM § 138 ZPO Nr. 28
MDR 1991, 226
JZ 1991, 630 mit Aufsatz P. Schlosser aaO S. 599 ff
DB 1991, 1723
WM 1990, 1844
VersR1990, 1254

Vgl. auch BGH NJW 1999,1404



Amtl. Leitsatz:

Die Zivilprozeßordnung kennt keine - über die anerkannten Fälle der Pflicht zum substantiierten Bestreiten hinausgehende - allgemeine Aufklärungspflicht der nicht darlegungs- und beweispflichtigen Partei.



Zum Sachverhalt:

B und seine erste Ehefrau waren ursprünglich die alleinigen Gesellschafter der R & E B-OHG, eines Unternehmens, das auf den Transport fabrikneuer Personenkraftwagen spezialisiert war. Im Jahr 1951 trat der Bekl. als weiterer Gesellschafter in diese Gesellschaft ein. Im Jahr 1957 wurde über die Privatvermögen von R und E B der Konkurs eröffnet. In den Konkursverfahren schloß der Bekl. mit den Konkursverwaltern Verträge ab, nach denen er Zahlungen zu den Konkursmassen leistete, während die Konkursverwalter sich mit dem Ausscheiden der Eheleute B aus der Gesellschaft einverstanden erklärten. Der Bekl. setzte das Unternehmen auf eigene Rechnung fort. In einem im Jahre 1958 begonnenen Vorprozeß hat das OLG festgestellt, der Bekl. sei nicht berechtigt, das Unternehmen allein weiterzuführen, und sei verpflichtet, den Eheleuten B allen Schaden zu ersetzen, der ihnen durch die Konkurseröffnungen und durch seine Vereinbarungen mit den Konkursverwaltern entstanden sei; er könne sich auf diese Vereinbarungen nicht berufen, da er die Konkurse unter Verletzung seiner gesellschaftlichen Treuepflicht herbeigeführt habe. Die Revision des Bekl. ist durch Urteil des Senats vom 15. 6. 1964 (WM 1964, 1127) zurückgewiesen worden. Mehrere weitere Prozesse, die sich auf den Ausschluß der Eheleute B von der Gewinnzuteilung und auf Entnahmen des Bekl. bezogen, führten zu Verurteilungen des Bekl. Im vorliegenden Rechtsstreit machen die Kl. als Rechtsnachfolger von R B Ansprüche auf Schadensersatz wegen angeblich treuwidrig verlagerten Gewinns auf andere Unternehmen des Bekl. für die Jahre 1958 bis 1971 in Höhe von 41000 DM geltend. Das LG hat die Klage abgewiesen, das OLG hat ihr stattgegeben. Mit seiner Revision begehrt der Bekl. die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das BerGer.

Aus den Gründen:

I. Nach dem rechtskräftigen und damit bindenden Senatsurteil vom 15. 6. 1964 (WM 1964, 1127) hatte der Bekl. R B nicht nur finanziell so zu stellen, wie dieser vermutlich gestanden hätte, wenn das Gesellschaftsunternehmen gemeinschaftlich weiter betrieben worden wäre; er hatte ihn vielmehr als nicht ausgeschiedenen Gesellschafter "anzuerkennen", mußte sich also so behandeln lassen wie ein Gesellschafter, der bei ununterbrochen fortgesetzter Gesellschaft das Gesellschaftsunternehmen unbefugt auf eigene Rechnung betrieben hat und die gezogenen Gewinne anteilig herausgeben muß (vgl. Senat, WM 1974, 375, 376) ...
III. Das BerGer. hält den geltend gemachten Schadensersatzanspruch dem Grunde und der Höhe nach für erwiesen.
Zwar hätten die Kl. keine konkreten Sachverhalte vorgetragen, die im einzelnen die erhobenen Vorwürfe belegen könnten. Sie hätten jedoch eine Reihe von Indizien und Anhaltspunkte dargetan, welche die Möglichkeit des Bestehens eines konkreten, erheblichen Verlagerungssachverhalts wahrscheinlich und plausibel machten. Mit diesem "Substantiierungsersatz" hätten die Kl. ausnahmsweise ihrer Darlegungslast Genüge getan, da in Fallkonstellationen wie der vorliegenden die Anspruchssteller typischerweise keine Kenntnis von den erheblichen Tatsachen hätten und damit außerstande seien, in umfassendem Maße substantiierte Tatsachen vorzutragen. In einem solchen Fall sei die Substantiierungspflicht der anspruchserhebenden Partei durch eine "Forcierung" der Aufklärungspflicht der bekl. Partei zu mildern, wenn dieser eine solche erweiterte Aufklärungspflicht zumutbar sei. Dieser ihm zumutbaren Aufklärungspflicht sei der Bekl. nicht nachgekommen. Die hiergegen gerichteten Angriffe der Revision haben Erfolg.
1. Den Ausführungen des BerGer. liegt die Lehre von der allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht (vgl. zu deren Entwicklung Arens, ZZP 96, 1 ff.) zugrunde. In jüngerer Zeit ist sie von Stürner (Die Aufklärungspflicht der Parteien im Zivilprozeß, 1976) umfassend erörtert worden. Er geht davon aus, daß durch Art. 2 GG und das Rechtsstaatsprinzip ein auf Wahrheitsfindung angelegtes Rechtsschutzverfahren verfassungsrechtlich gewährleistet sei. Zweck des Zivilprozesses sei dementsprechend der Individualschutz durch Findung der materiellen Wahrheit. Diese sei ohne umfassende Aufklärungspflicht der nicht beweisbelasteten Partei nicht möglich. In Fällen, in denen die darlegungs- und beweispflichtige Partei sich in typischer Unkenntnis der ihrer Substantiierungspflicht unterliegenden Tatsachen befinde, sollten Anhaltspunkte als plausible Vermutungsbasis für die allgemeine Rechtsbehauptung genügen. Die nicht beweispflichtige Partei sei dann gehalten, alle denkbaren und zumutbaren Aufklärungsbeiträge zu leisten. Im Regelfall führe eine vorwerfbare Verletzung der allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht dazu, daß das der beweispflichtigen Partei günstige Aufklärungsergebnis zu unterstellen sei.
Die Lehre von der allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht hat sich nicht durchsetzen können (abl. z. B. Arens, ZZP 96, 1 (10 ff.); Stein-Jonas-Leipold, ZPO, 20. Aufl., § 138 Rdnrn. 22 f. m. w. Nachw.; Rosenberg-Schwab, ZPR, 14. Aufl., § 65 VIII 3, S. 392 Fußn. 85 und § 118 VI, S. 726 m. w. Nachw.). Daß im Zivilprozeß die Wahrheitspflicht wesentliche Bedeutung hat, erlaubt nicht den Schluß, die Parteien seien generell zu dem Verhalten verpflichtet, das am besten der Wahrheitsfindung dient. Weder die Aufgabe der Wahrheitsfindung noch das Rechtsstaatsprinzip hindern den Gesetzgeber daran, den Zivilprozeß der Verhandlungsmaxime zu unterstellen und es in erster Linie den Parteien zu überlassen, die notwendigen Tatsachenbehauptungen aufzustellen und die Beweismittel zu benennen. Darauf beruht auch die Regelung der Behauptungs- und Beweislast im Zivilprozeß. Ob eine Partei Ansprüche gegen die andere auf Erteilung von Auskünften, Rechnungslegung, Herausgabe von Unterlagen usw. hat, ist eine Frage des materiellen Rechts (vgl. Stein-Jonas-Leipold, § 138 Rdnrn. 22 f.). Dieses enthält darüber eine Reihe ausdrücklicher Vorschriften; zudem kann je nach dem Inhalt des Rechtsverhältnisses und der Interessenlage der Gesichtspunkt von Treu und Glauben solche Pflichten rechtfertigen (vgl. hierzu auch Gottwald, ZZP 92, 364 (366 ff.); Arens, ZZP 96, 1 (21 ff.)). Eine allgemeine Auskunftspflicht kennt das materielle Recht jedoch nicht, und es ist nicht  Aufgabe des Prozeßrechts, sie einzuführen (vgl. Stein-Jonas-Leipold, § 138 Rdnr. 22). Es bleibt vielmehr bei dem Grundsatz, daß keine Partei gehalten ist, dem Gegner für seinen Prozeßsieg das Material zu verschaffen, über das er nicht schon von sich aus verfügt (vgl. Senat, NJW 1958, 1491 = LM § 109 HGB Nr. 3 = WM 1958, 961, 962). Aus diesen Gründen vermögen die Ausführungen des BerGer. zur allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht das angefochtene Urteil nicht zu tragen.
2. In bestimmten Fällen erlegt die Rechtsprechung dem Gegner der primär behauptungs- und beweisbelasteten Partei allerdings eine gewisse (sekundäre) Behauptungslast auf, nämlich vor allem dann, wenn eine darlegungspflichtige Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufes steht und keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen besitzt, während der Prozeßgegner sie hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind (vgl. BGH, NJW 1987, 1201 m. w. Nachw. = LM § 323 ZPO Nr. 53 = BGHRZPOO § 138 III - Bestreiten, substantiiertes 1, insoweit in BGHZ 98, 44 nicht abgedruckt; BGH, NJW 1987, 2008 = LM § 823 (BE) BGB Nr. 29 = BGHRZPOO § 138 - Bestreiten, substantiiertes 2 m. w. Nachw.). Unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt hat das BerGer. das Vorbringen der Parteien bisher nicht geprüft. Nach dem derzeitigen Verfahrensstand läßt sich nicht ausschließen, daß der Bekl. seiner Prozeßförderungspflicht bisher nicht hinreichend nachgekommen ist.
IV. Ein materiellrechtlicher Anspruch auf Vorlage der Unterlagen der von dem Bekl. betriebenen Konkurrenzunternehmen I und A, wie ihn das BerGer. bejaht hat, besteht nach seinen bisherigen Feststellungen nicht. Auch ein Auskunftsanspruch scheidet nach dem derzeitigen Stand des Verfahrens aus. (Wird ausgeführt.)
2. Ein allgemeiner, auf § 242 BGB gestützter Auskunftsanspruch besteht nicht (vgl. BGHZ 74, 379 (380) = NJW 1979, 1832 = LM § 75 KO Nr. 1). Die Rechtsprechung billigt einen Auskunftsanspruch lediglich dann zu, wenn der Berechtigte in entschuldbarer Weise über den Umfang seines Rechts im Ungewissen ist, er sich die zur Vorbereitung und Durchführung seines Anspruchs notwendigen Auskünfte nicht auf zumutbare Weise selbst zu beschaffen vermag, der Verpflichtete sie unschwer geben kann und zwischen dem Berechtigten und Verpflichteten eine besondere rechtliche Beziehung besteht. Dafür hat sie im allgemeinen für erforderlich erachtet, daß der Leistungsanspruch dem Grunde nach besteht und nur der Anspruchsinhalt offen ist (vgl. BGH, NJW-RR 1987, 1296 = WM 1987, 1127 m. w. Nachw.). Diese Voraussetzungen liegen nach dem bisherigen Stand des Verfahrens nicht vor, insbesondere steht nicht fest, daß der Leistungsanspruch dem Grunde nach gegeben ist.


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