Anwendbarkeit der "Haustürwiderrufsrichtlinie" auf Bürgschaften des deutschen Rechts


EuGH, Urt. v. 17. 3. 1998 - Rs. C-45/96 (Bayerische Hypotheken- und Wechselbank AG/Edgar Dietzinger)


Urteilstenor:

Nach Art. 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 85/577/ EWG vom 20. 12. 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen fällt ein Bürgschaftsvertrag, der von einer nicht im Rahmen einer Erwerbstätigkeit handelnden natürlichen Person geschlossen wird, nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie, wenn er die Rückzahlung einer Schuld absichert, die der Hauptschuldner im Rahmen seiner Erwerbstätigkeit eingegangen ist.



Fundstellen:

NJW 1998, 1295
EWS 1998, 175
LM H. 7 / 1998 HWiG Nr. 30a
IStR 98, 320
MDR 1998, 665
NJ 1998, 367
RiW 1998, 397
VuR 1998, 207
WM 1998, 649
ZIP 1998, 554

Vgl. dazu auch Lorenz NJW 1998, 2937 ff
Nach heutiger Rechtslage ist die Entscheidung überholt, s. BGH v. 22.9.2020 - XI ZR 219/19.


Zum Sachverhalt:

Der BGH (NJW 1996, 930 = EuZW 1996, 220) hat dem Gerichtshof gem. Art. 177 EGV eine Frage nach der Auslegung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (ABlEG Nr. L 372, S. 31) zur Vorabentscheidung vorgelegt. Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank AG (im folgenden: Kl.) und dem Bekl. Edgar Dietzinger über die Inanspruchnahme aus einem von diesem mit der Kl. geschlossenen Bürgschaftsvertrag. Art. 11 und 2 Richtlinie 85/577/EWG bestimmen:

Art. 1
(1) Diese Richtlinie gilt für Verträge, die zwischen einem Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder Dienstleistungen erbringt, und einem Verbraucher geschlossen werden:
- während eines vom Gewerbetreibenden außerhalb von dessen Geschäftsräumen organisierten Ausflugs, oder
- anläßlich eines Besuchs des Gewerbetreibenden
 - beim Verbraucher in seiner oder in der Wohnung eines anderen Verbrauchers, - beim Verbraucher an seinem Arbeitsplatz,
 sofern der Besuch nicht auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers erfolgt.

Art. 2. Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet
- "Verbraucher" eine natürliche Person, die bei den von dieser Richtlinie erfaßten Geschäften zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann.
- "Gewerbetreibender" eine natürliche oder juristische Person, die beim Abschluß des betreffenden Geschäfts im Rahmen ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit handelt, sowie eine Person, die im Namen und für Rechnung eines Gewerbetreibenden handelt.

Nach Art. 4 der Richtlinie 85/577/EWG hat der Gewerbetreibende den Verbraucher innerhalb einer bestimmten Frist schriftlich über sein Widerrufsrecht zu belehren. Gem. Art. 5 beträgt diese Frist mindestens sieben Tage ab dem Zeitpunkt, zu dem dem Verbraucher die Belehrung über sein Recht, vom Vertrag zurückzutreten, erteilt wurde. Der Vater des Bekl. betrieb ein Bauunternehmen, für das die Kl. u. a. einen Kontokorrentkredit eingeräumt hatte. Durch schriftliche Erklärung vom 11.9.1992 übernahm der Bekl. die selbstschuldnerische Bürgschaft für die Verbindlichkeiten seiner Eltern gegenüber der Kl. bis zum Höchstbetrag von 100 000 DM. Zum Abschluß des Bürgschaftsvertrags kam es im Hause der Eltern des Bekl., die ein Angestellter der Kl. nach telefonischer Absprache mir der Mutter des Bekl. aufgesucht hatte. Über ein Widerrufsrecht wurde der Bekl. nicht belehrt. Im Mai 1993 kündigte die Kl. alle den Eltern des Bekl. eingeräumten Kredite, die sich damals insgesamt auf mehr als 1,6 Mio. DM beliefen, mit sofortiger Wirkung. Außerdem nahm sie den Bekl. auf Zahlung eines Teilbetrags von 50000 DM aus der Bürgschaft in Anspruch. Dieser widerrief die Bürgschaftserklärung mit der Begründung, er sei entgegen den Bestimmungen des Gesetzes über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften vom 16. 1. 1986 (HWiG, BGBl I, 122), mit dem die Richtlinie 85/577/EWG in deutsches Recht umgesetzt wurde, nicht über sein Widerrufsrecht belehrt worden. Das LG gab der Klage statt. Auf die Berufung des Bekl. hat das OLG die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben. Der mit der Revision befaßte BGH hat dem EuGH um Vorabentscheidung ersucht.
Der EuGH bejaht im Grundsatz die Anwendbarkeit der Richtlinie auf Bürgschaftsverträge, verlangt jedoch, daß die Schuld, die die Bürgschaft absichert, selbst auf einem Verbrauchergeschäft beruht.

Aus den Gründen:

11. Die Frage des BGH geht dahin, ob ein Bürgschaftsvertrag, der von einer nicht im Rahmen einer Erwerbstätigkeit handelnden natürlichen Person geschlossen wird, in den Geltungsbereich der Richtlinie 85/577/EWG fällt.
12. Der Bekl. und die Kommission vertreten die Ansicht, die Richtlinie 85/577/EWG gelte für den Bürgschaftsvertrag; sie solle Verbraucher schützen, die als Haustürgeschäft einen Vertrag schlössen, auf den sie sich nicht hätten vorbereiten können. Ebenso wie ein Käufer übernehme der Bürge Leistungsverpflichtungen, und er sei um so schutzbedürftiger, als er hierfür keine Gegenleistung erhalte.
13. Nach Auffassung der Kommission gilt Art. 1 Richtlinie 85/577/ EWG für jeden Vertrag zwischen einer natürlichen Person und einem Gewerbetreibenden, der im Rahmen seiner beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit für gewöhnliche Verbraucher Waren liefere oder Dienstleistungen erbringe, auch wenn der fragliche Vertrag keine solche Leistung vorsehe. Der Ausdruck ,,Verträge, die zwischen einem Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder Dienstleistungen erbringt, und einem Verbraucher geschlossen werden", sei in der Richtlinie nur verwendet worden, damit diese sich nicht allein auf Waren liefernde Gewerbetreibende beschränke.
14. Die deutsche, die belgische, die französische und die finnische Regierung sind dagegen der Ansicht, daß der Bürgschaftsvertrag im wesentlichen deshalb nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 85/ 5 77/EWG falle, weil er kein Vertrag sei, der i. 5. von Art. 1 "zwischen einem Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder Dienstleistungen erbringt, und einem Verbraucher geschlossen wird".
15. Dieser Passus setzte voraus, daß der Gewerbetreibende dem Verbraucher, der sich auf die Richtlinie 85/577/EWG berufe, eine Ware liefere oder eine Dienstleistung erbringe. Es reiche nicht aus, daß der Gewerbetreibende für gewöhnlich Waren verkaufe oder Dienstleistungen erbringe. Das ergebe sich besonders klar aus der englischen Fassung "to contracts under which a trader supplies goods or services to a consumer‘). In einem Fall wie dem vorliegenden stehe der vom Bürgen eingegangenen Verpflichtung keine Gegenleistung gegenüber, da der Bürge von dem Gewerbetreibenden alös Gläubiger weder Waren noch Dienstleistungen erhalte.
16. Außerdem sei die Frage der Sicherheiten in der Richtlinie 85/577/ EWG nicht geregelt; andernfalls hätte die Richtlinie eigene Bestimmungen u. a. darüber enthalten, was mit dem Vertrag, für dessen Erfüllung der Bürge einstehe, geschehe, wenn der Bürge von seinem Widerrufsrecht Gebrauch mache. Daher richte sich der Schutz des Bürgen allein nach nationalem Recht. Die französische Regierung trägt insbesondere vor, da die Richtlinie 85/577/EWG die Auswirkungen einer Ungültigkeit des Bürgschaftsvertrags auf die Hauptverpflichtung nicht regele, müsse die Bürgschaft angesichts ihres akzessorischen Charakters vom Geltungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sein.
17. Die Richtlinie 85/577/EWG gilt gern. ihrem Art. 1 für "Verträge, die zwischen einem Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder Dienstleistungen erbringt, und einem Verbraucher" außerhalb der Geschäftsräume des Gewerbetreibenden "geschlossen werden", sofern sich der Gewerbetreibende nicht auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers im Hinblick auf den Vertragsschluß oder den betreffenden Ort begeben hat.
18. Für die Frage, ob ein Bürgschaftsvertrag zur Absicherung der Erfüllung eines Kreditvertrags durch den Haupt-schuldner unter die Richtlinie 85/577/EWG fallen kann, ist von Belang, daß der Geltungsbereich der Richtlinie, von den Ausnahmen in Art. 3 II abgesehen, nicht nach der Art der Waren oder Dienstleistungen beschränkt ist, die Gegenstand des Vertrages sind, sofern diese Waren oder Dienstleistungen zum privaten Verbrauch bestimmt sind. Die Gewährung eines Kredits stellt eine Dienstleistung dar; der Bürgschaftsvertrag ist nur akzessorisch und in der Praxis sehr oft Voraussetzung des Hauptvertrags.
19. Überdies findet sich im Wortlaut der Richtlinie kein Hinweis darauf, daß derjenige, der den Vertrag geschlossen hat, aufgrund dessen Waren zu liefern oder Dienstleistungen zu erbringen sind, der Empfänger dieser Waren oder Dienstleistungen sein müßte. Die Richtlinie 85/577/EWG soll nämlich die Verbraucher schützen, indem sie es ihnen ermöglicht, einen Vertrag zu widerrufen, der nicht auf Initiative des Kunden, sondern auf die des Gewerbetreibenden geschlossen wurde, so daß der Kunde möglicherweise nicht alle Folgen seines Handelns überblicken konnte. Daher kann ein Vertrag, der einem Dritten zugute kommt, nicht allein deshalb vom Geltungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen werden, weil die erworbenen Waren oder Dienstleistungen für diesen Dritten bestimmt wird, der nicht Partei des betreffenden Vertragsverhältnisses ist.
20. Zwischen dem Kreditvertrag und der seine Erfüllung absichernden Bürgschaft besteht ein enger Zusammenhang, wobei derjenige, der sich verpflichtet, für die Rückzahlung einer Schuld einzustehen, Selbstschuldner oder Ausfallbürge sein kann. Daher kann die Bürgschaft grundsätzlich unter die Richtlinie fallen.
21. Außerdem ist ein Wegfall einer Bürgschaft, die im Rahmen eines Haustürgeschäfts i. S. der Richtlinie 85/577/EWG vereinbart wurde, nur einer der Fälle, für die sich die Frage der Auswirkung der etwaigen Ungültigkeit eines akzessorischen Vertrags auf die Hauptverbindlichkeit stellt. Daher kann allein aus dem Umstand, daß die Richtlinie nicht regelt, was mit dem Hauptvertrag geschieht, wenn der Bürge gem. Art. 5 widerruft, nicht geschlossen werden, daß die Richtlinie für Bürgschaften nicht gilt.
22. Aus dem Wortlaut von Art. 1 der Richtlinie und dem akzessorischen Charakter der Bürgschaft folgt jedoch, daß unter die Richtlinie nur eine Bürgschaft für eine Verbindlichkeit fallen kann die ein Verbraucher im Rahmen eines Haustürgeschäfts gegenüber einem Gewerbetreibenden als Gegenleistung für Waren oder Dienstleistungen eingegangen ist. Da die Richtlinie außerdem nur die Verbrauchter schützen soll, kann sie nur einen Bürgen erfassen, der sich gem. Art. 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie zu einem Zweck verpflichtet hat, der nicht seiner beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zuge-rechnet werden kann.
23. Daher ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, daß nach Art. 2 erster Gedankenstrich Richtlinie 85/577/EWG ein Bürgschaftsvertrag, der von einer nicht im Rahmen einer Erwerbstätigkeit handelnden natürlichen Person geschlossen wird, nicht in den Geltungsbereich der Richtlinien fällt, wenn er die Rückzahlung einer Schuld absichert, die der Hauptschuldner im Rahmen seiner Erwerbstätigkeit eingegangen ist.