Zur Frage der Geschäftsführung ohne Auftrag des ausweichenden Autofahrers für die Eltern eines Kindes.
NJW 1999, 2906
Vgl. auch BGHZ 38, 270
Der Kl. nimmt die Bekl. auf Schadensersatz aus
einem Verkehrsunfall vom 12. 8. 1996 in Anspruch. Er befuhr mit seinem
Pkw die W-Straße in Berlin, als der seinerzeit zehn Jahre alte Bekl.
zu 1 nur wenige Meter vor ihm zwischen parkenden Autos hindurch mit seinem
Fahrrad auf die Fahrbahn fuhr. Der Kl. wich dem Bekl. zu 1 aus und kollidierte
mit einem parkenden Fahrzeug. Mit der Klage begehrte der Kl. von dem Bekl.
zu 1 und dessen Eltern, den Bekl. zu 2 und 3, Ersatz für die ihm bei
der Kollision mit dem geparkten Pkw entstandenen Schäden von 5176,24
DM nebst Zinsen.
Das AG hat der Klage in vollem Umfang gegen alle
drei Bekl. stattgegeben und in den Entscheidungsgründen ausgeführt,
daß der Kl. alles getan habe, um das Leben des Bekl. zu 1 zu schützen,
so daß ihm sowohl der Bekl. zu 1 als auch die Bekl. zu 2 und 3 schadensersatzpflichtig
seien. Ein Mitverschulden des Kl. sei nicht zu erkennen, da es sich bei
der Geschwindigkeitsüberschreitung durch den Kl. um eine reine Vermutung
der Bekl. handele. Mit der hiergegen von allen drei Bekl. eingelegten Berufung
hatten nur die Bekl. zu 2 und 3 Erfolg.
Aus den Gründen:
Die zulässige Berufung des Bekl. zu 1 ist
unbegründet. Der Bekl. zu 1 schuldet dem Kl. vollen Schadensersatz
gem. §§ 823 I, 828 II BGB. Die Handlung des Bekl. zu 1 war kausal
für die Eigentumsverletzung des Kl. Da die Bekl. den Vortrag des Kl.,
der Bekl. zu 1 sei nur wenige Meter vor ihm auf die Straße gefahren,
nicht substantiiert unter Angabe eines bestimmten Abstandes in Metern bestritten
haben, ist ihr Bestreiten unbeachtlich. Nach dem Vortrag des Kl. ist deshalb
davon auszugehen, daß der Bekl. zu 1 so dicht vor dem Kl. auf die
Straße fuhr, daß dieser nur noch ausweichen konnte, um den
Bekl. zu 1 vor Schäden zu bewahren.
Der Bekl. zu 1 hat sowohl die zur Erkenntnis der
Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht besessen (§ 828 II BGB)
als auch fahrlässig gehandelt (§ 276 BGB), als er den Schaden
des Kl. verursachte. Der zehnjährige Bekl. hatte schon diejenige Entwicklung
erreicht, die ihn befähigte, das Unrechtmäßige seiner Handlung
und zugleich die Verpflichtung zu erkennen, in irgendeiner Weise für
die Folgen seines Tuns einstehen zu müssen. Der Bekl. zu 1 ist als
Großstadtkind den täglichen Umgang mit dem Straßenverkehr
und seinen Gefahren gewöhnt. Das gilt sowohl für die Teilnahme
am Straßenverkehr als Fußgänger als auch als Fahrradfahrer.
Es ist nicht ersichtlich, daß der Bekl. zu 1 im Umgang mit dem Fahrrad
unsicher und mit der Bewältigung der Straßenverkehrsverhältnisse
in der direkten Umgebung seines Wohnortes überfordert war. Der Bekl.
zu 1 trägt selbst vor, daß er von den Bekl. zu 2 und 3 angewiesen
worden sei, sich verkehrsgerecht zu verhalten. Kennt ein Jugendlicher aber
die Gefährlichkeit einer Handlung, so wird er im allgemeinen auch
wissen, daß er zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn er sie
dennoch begeht. Nach dem Gesetz (§ 828 II BGB) wird vermutet, daß
ein Jugendlicher ab dem siebten Lebensjahr die Fähigkeit zu der Erkenntnis
hat, für gefährliches Handeln verantwortlich zu sein. Gründe,
die die Annahme rechtfertigen, daß dem soweit ersichtlich normal
entwickelten Bekl. zu 1 die zur Erkenntnis seiner Verantwortlichkeit erforderliche
Einsicht gefehlt habe, sind nicht dargetan. Der Bekl. zu 1 handelte auch
fahrlässig, da er die Fahrbahn überquerte, ohne sich zuvor sorgfältig
darüber vergewissert zu haben, daß diese frei ist und gefahrlos
überquert werden kann. Damit hat er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt
mißachtet.
Eine Mithaftung des Kl. aufgrund einer Geschwindigkeitsüberschreitung
kommt nicht in Betracht. Soweit die Bekl. behaupten, daß der Kl.
viel zu schnell gefahren sei, ist ihr Vortrag ebenfalls mangels Substantiierung
unbeachtlich. Die Bekl. geben weder an, aus welchen konkreten Tatsachen
sie eine Geschwindigkeitsüberschreitung des Kl. ableiten, noch tragen
sie konkret vor, wie schnell der Kl. ihrer Auffassung nach gefahren ist.
Der Kl. muß sich die Betriebsgefahr seines
Fahrzeugs nicht anspruchsmindernd entgegenhalten lassen, da der Unfall
für ihn unabwendbar gem. § 7 II StVG war. In der konkreten Situation
mußte der Kl. nicht damit rechnen, daß ein Radfahrer plötzlich
wenige Meter vor ihm auf die Fahrbahn fahren werde. Soweit die Bekl. behaupten,
der Abstand sei so groß gewesen, daß der Kl. jederzeit hätte
bremsen können, ist dieses Vorbringen - wie bereits ausgeführt
- mangels Substantiierung unbeachtlich.
Die Berufung der Bekl. zu 2 und 3 ist zulässig
und begründet. Entgegen der Auffassung des Kl. hat das erstinstanzliche
Urteil gegenüber den Bekl. zu 2 und zu 3 keine Rechtskraft erlangt.
...
Die Bekl. zu 2 und 3 haben weder gem. § 832
BGB noch gem. §§ 677, 683 BGB für den Schaden des Kl. einzustehen,
wobei offen bleiben kann, ob der Unfall für den Kl. unabwendbar war.
Der Anspruch aus § 832 BGB scheitert daran, daß die Eltern ihre
Aufsichtspflicht gegenüber dem zehnjährigen Bekl. zu 1 erfüllt
haben. Eltern sind grundsätzlich bis zur Volljährigkeit ihres
Kindes verpflichtet, dieses zu beobachten, zu belehren und auf sein Verhalten
Einfluß zu nehmen. Dabei bestimmt sich das Maß der gebotenen
Aufsicht danach, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen
in der konkreten Situation an erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen
treffen müssen, um Schädigungen Dritter durch ihr Kind zu verhindern
(BGH, NJW 1993, 1003 = LM § 832 BGB Nr. 19). Die Teilnahme von Kindern
am Straßenverkehr mit ihren Fahrrädern ist grundsätzlich
unbedenklich, sofern die Kinder ihre Fahrzeuge genügend beherrschen.
Etwas anderes gilt nur bei Neigung des Kindes zu Unbesonnenheit oder dummen
Streichen. Das OLG Celle lehnte eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern
gegenüber einem sechsjährigen Kind ab, da dieses im Radfahren
geübt und mit den Verkehrsanforderungen auf dem nahe der Wohnung gelegenen
Rad- und Fußweg vertraut war (OLG Celle, NJW-RR 1988, 216). Gemessen
an diesen Grundsätzen kann eine Aufsichtspflichtverletzung der Bekl.
zu 2 und 3 nicht festgestellt werden. Der Bekl. zu 1 ist als Großstadtkind
den Umgang mit dem Straßenverkehr gewöhnt. Er war zum Unfallzeitpunkt
bereits einige Jahre schulpflichtig. Es ist davon auszugehen, daß
der Bekl. zu 1 in der Schule zu selbständigem Denken und Aufmerksamkeit
im Straßenverkehr angehalten wurde, da in den Berliner Schulen regelmäßig
eine intensive Verkehrserziehung durchgeführt wird. Unsicherheiten
des Bekl. zu 1 im Umgang mit dem Fahrrad sind nicht ersichtlich. Die Unfallstelle
lag in der Nähe seines Elternhauses und war dem Bekl. zu 1 vertraut.
Er durfte daher auch ohne ständige Überwachung durch die aufsichtspflichtigen
Eltern am Straßenverkehr teilnehmen. Gegen die Eltern kann kein Schuldvorwurf
erhoben werden.
Soweit der Kl. seinen Anspruch auf §§
677, 683 BGB stützt, hat die Klage nach Auffassung der Kammer ebenfalls
keinen Erfolg, da die Bekl. zu 2 und zu 3 nicht als Geschäftsherrn
der Rettungshandlung gegenüber dem Bekl. zu 1 anzusehen sind. Zwar
kann ein Kraftfahrer, der in einer plötzlichen Gefahrenlage sich selbst
schädigt und dadurch einen anderen davor bewahrt, durch das Kraftfahrzeug
überfahren zu werden, von dem Geretteten angemessenen Ersatz nach
den Grundsätzen der Geschäftsführung ohne Auftrag verlangen,
wenn er den Entlastungsbeweis nach § 7 II StVG führt (BGHZ
38, 270 = NJW 1963, 390 = LM § 683 BGB Nr. 13). Dabei hat
der BGH in dieser Entscheidung jedoch ausdrücklich offen gelassen,
ob neben dem geretteten Kind auch dessen Eltern als Geschäftsherrn
anzusehen sind, was jedenfalls dann vertretbar erscheint, wenn der Kraftfahrer
unter eigener Gefährdung einem Kleinkind ausweicht. In diesem Fall
ist es vorstellbar, daß der Kraftfahrer die Rettungshandlung auch
für die Eltern des Kindes vornehmen will (BGH, VersR 1958, 168 [169]).
Vorliegend ist jedoch eine abweichende rechtliche Beurteilung geboten,
da der Bekl. zu 1 im Unfallzeitpunkt bereits zehn Jahre alt war. Er stand
zwar rechtlich noch unter der Aufsicht seiner Eltern, war jedoch - wie
bereits ausgeführt - im Straßenverkehr schon so selbständig,
daß er nicht mehr der ständigen Kontrolle seiner Eltern bedurfte.
Die abwesenden Eltern, denen eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht nicht
vorzuwerfen ist, waren in der konkreten Situation zwar moralisch, nicht
aber rechtlich nach §§ 1626, 1631 BGB verpflichtet, ihr Kind
vor einem Schaden zu bewahren. Allein die Tatsache, daß die Bekl.
zu 2 und zu 3 aufgrund ihrer Verbundenheit mit dem Bekl. zu 1 an seiner
Rettung ein unmittelbares Interesse hatten, begründet noch nicht die
Annahme, daß der Kl. bei der Rettungshandlung auch für die Eltern
gehandelt hat, so daß diese als Geschäftsherrn anzusehen wären.
Eine eigene Haftung der Bekl. zu 2 und zu 3 kann daher unter dem Gesichtspunkt
der Geschäftsführung ohne Auftrag nicht begründet werden.
Zwar wird die Auffassung vertreten, daß in vergleichbaren Fällen
stets auch ein Geschäft der Eltern vorliege, die gem. § 1631
BGB als Personensorgeberechtigte besonders verpflichtet sind, für
die Unversehrtheit ihrer Kinder zu sorgen (OLG Oldenburg, VersR 1972, 1178
[1179]). Das Personensorgerecht verpflichtet die Eltern dort zu einer besonderen
Wahrnehmung der Interessen ihrer Kinder, wo diese ihre eigenen Belange
nicht oder nur ungenügend verwirklichen können (Frank, JZ 1982,
737 [742]). Der Bekl. zu 1 war aber grundsätzlich durchaus in der
Lage, den Umgang mit dem Straßenverkehr eigenständig und ohne
Hilfe seiner Eltern zu bewältigen. Er war in diesem Bereich der dauernden
Aufsichtspflicht seiner Eltern entwachsen. Nach Auffassung der Kammer muß
die Inanspruchnahme der Eltern aus Geschäftsführung ohne Auftrag
dort ihre Grenze finden, wo die in § 832 BGB normierte Aufsichtspflicht
endet. Der Gesetzgeber hat in § 832 BGB ausdrücklich die Voraussetzung
einer Haftung der Eltern für deliktische Handlungen ihrer minderjährigen
Kinder geregelt. Die Anwendung des Instituts der Geschäftsführung
ohne Auftrag darf nicht dazu führen, eine vom Gesetzgeber nicht gewollte
Haftung der Eltern für das Verhalten ihrer Kinder zu begründen
(Canaris, JZ 1963, 655 [660]).