Geschäftsführung ohne Auftrag bei Ausweichen eines Kraftfahrers ("Rettungsfälle")

LG Berlin, Urt. v. 29. 10. 1998 - 58 S 445/97


Leitsatz:

Zur Frage der Geschäftsführung ohne Auftrag des ausweichenden Autofahrers für die Eltern eines Kindes.



Fundstelle:

NJW 1999, 2906
Vgl. auch BGHZ 38, 270



Zum Sachverhalt:

Der Kl. nimmt die Bekl. auf Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 12. 8. 1996 in Anspruch. Er befuhr mit seinem Pkw die W-Straße in Berlin, als der seinerzeit zehn Jahre alte Bekl. zu 1 nur wenige Meter vor ihm zwischen parkenden Autos hindurch mit seinem Fahrrad auf die Fahrbahn fuhr. Der Kl. wich dem Bekl. zu 1 aus und kollidierte mit einem parkenden Fahrzeug. Mit der Klage begehrte der Kl. von dem Bekl. zu 1 und dessen Eltern, den Bekl. zu 2 und 3, Ersatz für die ihm bei der Kollision mit dem geparkten Pkw entstandenen Schäden von 5176,24 DM nebst Zinsen.
Das AG hat der Klage in vollem Umfang gegen alle drei Bekl. stattgegeben und in den Entscheidungsgründen ausgeführt, daß der Kl. alles getan habe, um das Leben des Bekl. zu 1 zu schützen, so daß ihm sowohl der Bekl. zu 1 als auch die Bekl. zu 2 und 3 schadensersatzpflichtig seien. Ein Mitverschulden des Kl. sei nicht zu erkennen, da es sich bei der Geschwindigkeitsüberschreitung durch den Kl. um eine reine Vermutung der Bekl. handele. Mit der hiergegen von allen drei Bekl. eingelegten Berufung hatten nur die Bekl. zu 2 und 3 Erfolg.

Aus den Gründen:

Die zulässige Berufung des Bekl. zu 1 ist unbegründet. Der Bekl. zu 1 schuldet dem Kl. vollen Schadensersatz gem. §§ 823 I, 828 II BGB. Die Handlung des Bekl. zu 1 war kausal für die Eigentumsverletzung des Kl. Da die Bekl. den Vortrag des Kl., der Bekl. zu 1 sei nur wenige Meter vor ihm auf die Straße gefahren, nicht substantiiert unter Angabe eines bestimmten Abstandes in Metern bestritten haben, ist ihr Bestreiten unbeachtlich. Nach dem Vortrag des Kl. ist deshalb davon auszugehen, daß der Bekl. zu 1 so dicht vor dem Kl. auf die Straße fuhr, daß dieser nur noch ausweichen konnte, um den Bekl. zu 1 vor Schäden zu bewahren.
Der Bekl. zu 1 hat sowohl die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht besessen (§ 828 II BGB) als auch fahrlässig gehandelt (§ 276 BGB), als er den Schaden des Kl. verursachte. Der zehnjährige Bekl. hatte schon diejenige Entwicklung erreicht, die ihn befähigte, das Unrechtmäßige seiner Handlung und zugleich die Verpflichtung zu erkennen, in irgendeiner Weise für die Folgen seines Tuns einstehen zu müssen. Der Bekl. zu 1 ist als Großstadtkind den täglichen Umgang mit dem Straßenverkehr und seinen Gefahren gewöhnt. Das gilt sowohl für die Teilnahme am Straßenverkehr als Fußgänger als auch als Fahrradfahrer. Es ist nicht ersichtlich, daß der Bekl. zu 1 im Umgang mit dem Fahrrad unsicher und mit der Bewältigung der Straßenverkehrsverhältnisse in der direkten Umgebung seines Wohnortes überfordert war. Der Bekl. zu 1 trägt selbst vor, daß er von den Bekl. zu 2 und 3 angewiesen worden sei, sich verkehrsgerecht zu verhalten. Kennt ein Jugendlicher aber die Gefährlichkeit einer Handlung, so wird er im allgemeinen auch wissen, daß er zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn er sie dennoch begeht. Nach dem Gesetz (§ 828 II BGB) wird vermutet, daß ein Jugendlicher ab dem siebten Lebensjahr die Fähigkeit zu der Erkenntnis hat, für gefährliches Handeln verantwortlich zu sein. Gründe, die die Annahme rechtfertigen, daß dem soweit ersichtlich normal entwickelten Bekl. zu 1 die zur Erkenntnis seiner Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht gefehlt habe, sind nicht dargetan. Der Bekl. zu 1 handelte auch fahrlässig, da er die Fahrbahn überquerte, ohne sich zuvor sorgfältig darüber vergewissert zu haben, daß diese frei ist und gefahrlos überquert werden kann. Damit hat er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt mißachtet.
Eine Mithaftung des Kl. aufgrund einer Geschwindigkeitsüberschreitung kommt nicht in Betracht. Soweit die Bekl. behaupten, daß der Kl. viel zu schnell gefahren sei, ist ihr Vortrag ebenfalls mangels Substantiierung unbeachtlich. Die Bekl. geben weder an, aus welchen konkreten Tatsachen sie eine Geschwindigkeitsüberschreitung des Kl. ableiten, noch tragen sie konkret vor, wie schnell der Kl. ihrer Auffassung nach gefahren ist.
Der Kl. muß sich die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs nicht anspruchsmindernd entgegenhalten lassen, da der Unfall für ihn unabwendbar gem. § 7 II StVG war. In der konkreten Situation mußte der Kl. nicht damit rechnen, daß ein Radfahrer plötzlich wenige Meter vor ihm auf die Fahrbahn fahren werde. Soweit die Bekl. behaupten, der Abstand sei so groß gewesen, daß der Kl. jederzeit hätte bremsen können, ist dieses Vorbringen - wie bereits ausgeführt - mangels Substantiierung unbeachtlich.
Die Berufung der Bekl. zu 2 und 3 ist zulässig und begründet. Entgegen der Auffassung des Kl. hat das erstinstanzliche Urteil gegenüber den Bekl. zu 2 und zu 3 keine Rechtskraft erlangt. ...
Die Bekl. zu 2 und 3 haben weder gem. § 832 BGB noch gem. §§ 677, 683 BGB für den Schaden des Kl. einzustehen, wobei offen bleiben kann, ob der Unfall für den Kl. unabwendbar war. Der Anspruch aus § 832 BGB scheitert daran, daß die Eltern ihre Aufsichtspflicht gegenüber dem zehnjährigen Bekl. zu 1 erfüllt haben. Eltern sind grundsätzlich bis zur Volljährigkeit ihres Kindes verpflichtet, dieses zu beobachten, zu belehren und auf sein Verhalten Einfluß zu nehmen. Dabei bestimmt sich das Maß der gebotenen Aufsicht danach, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation an erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen treffen müssen, um Schädigungen Dritter durch ihr Kind zu verhindern (BGH, NJW 1993, 1003 = LM § 832 BGB Nr. 19). Die Teilnahme von Kindern am Straßenverkehr mit ihren Fahrrädern ist grundsätzlich unbedenklich, sofern die Kinder ihre Fahrzeuge genügend beherrschen. Etwas anderes gilt nur bei Neigung des Kindes zu Unbesonnenheit oder dummen Streichen. Das OLG Celle lehnte eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern gegenüber einem sechsjährigen Kind ab, da dieses im Radfahren geübt und mit den Verkehrsanforderungen auf dem nahe der Wohnung gelegenen Rad- und Fußweg vertraut war (OLG Celle, NJW-RR 1988, 216). Gemessen an diesen Grundsätzen kann eine Aufsichtspflichtverletzung der Bekl. zu 2 und 3 nicht festgestellt werden. Der Bekl. zu 1 ist als Großstadtkind den Umgang mit dem Straßenverkehr gewöhnt. Er war zum Unfallzeitpunkt bereits einige Jahre schulpflichtig. Es ist davon auszugehen, daß der Bekl. zu 1 in der Schule zu selbständigem Denken und Aufmerksamkeit im Straßenverkehr angehalten wurde, da in den Berliner Schulen regelmäßig eine intensive Verkehrserziehung durchgeführt wird. Unsicherheiten des Bekl. zu 1 im Umgang mit dem Fahrrad sind nicht ersichtlich. Die Unfallstelle lag in der Nähe seines Elternhauses und war dem Bekl. zu 1 vertraut. Er durfte daher auch ohne ständige Überwachung durch die aufsichtspflichtigen Eltern am Straßenverkehr teilnehmen. Gegen die Eltern kann kein Schuldvorwurf erhoben werden.
Soweit der Kl. seinen Anspruch auf §§ 677, 683 BGB stützt, hat die Klage nach Auffassung der Kammer ebenfalls keinen Erfolg, da die Bekl. zu 2 und zu 3 nicht als Geschäftsherrn der Rettungshandlung gegenüber dem Bekl. zu 1 anzusehen sind. Zwar kann ein Kraftfahrer, der in einer plötzlichen Gefahrenlage sich selbst schädigt und dadurch einen anderen davor bewahrt, durch das Kraftfahrzeug überfahren zu werden, von dem Geretteten angemessenen Ersatz nach den Grundsätzen der Geschäftsführung ohne Auftrag verlangen, wenn er den Entlastungsbeweis nach § 7 II StVG führt (BGHZ 38, 270 = NJW 1963, 390 = LM § 683 BGB Nr. 13). Dabei hat der BGH  in dieser Entscheidung jedoch ausdrücklich offen gelassen, ob neben dem geretteten Kind auch dessen Eltern als Geschäftsherrn anzusehen sind, was jedenfalls dann vertretbar erscheint, wenn der Kraftfahrer unter eigener Gefährdung einem Kleinkind ausweicht. In diesem Fall ist es vorstellbar, daß der Kraftfahrer die Rettungshandlung auch für die Eltern des Kindes vornehmen will (BGH, VersR 1958, 168 [169]). Vorliegend ist jedoch eine abweichende rechtliche Beurteilung geboten, da der Bekl. zu 1 im Unfallzeitpunkt bereits zehn Jahre alt war. Er stand zwar rechtlich noch unter der Aufsicht seiner Eltern, war jedoch - wie bereits ausgeführt - im Straßenverkehr schon so selbständig, daß er nicht mehr der ständigen Kontrolle seiner Eltern bedurfte. Die abwesenden Eltern, denen eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht nicht vorzuwerfen ist, waren in der konkreten Situation zwar moralisch, nicht aber rechtlich nach §§ 1626, 1631 BGB verpflichtet, ihr Kind vor einem Schaden zu bewahren. Allein die Tatsache, daß die Bekl. zu 2 und zu 3 aufgrund ihrer Verbundenheit mit dem Bekl. zu 1 an seiner Rettung ein unmittelbares Interesse hatten, begründet noch nicht die Annahme, daß der Kl. bei der Rettungshandlung auch für die Eltern gehandelt hat, so daß diese als Geschäftsherrn anzusehen wären. Eine eigene Haftung der Bekl. zu 2 und zu 3 kann daher unter dem Gesichtspunkt der Geschäftsführung ohne Auftrag nicht begründet werden. Zwar wird die Auffassung vertreten, daß in vergleichbaren Fällen stets auch ein Geschäft der Eltern vorliege, die gem. § 1631 BGB als Personensorgeberechtigte besonders verpflichtet sind, für die Unversehrtheit ihrer Kinder zu sorgen (OLG Oldenburg, VersR 1972, 1178 [1179]). Das Personensorgerecht verpflichtet die Eltern dort zu einer besonderen Wahrnehmung der Interessen ihrer Kinder, wo diese ihre eigenen Belange nicht oder nur ungenügend verwirklichen können (Frank, JZ 1982, 737 [742]). Der Bekl. zu 1 war aber grundsätzlich durchaus in der Lage, den Umgang mit dem Straßenverkehr eigenständig und ohne Hilfe seiner Eltern zu bewältigen. Er war in diesem Bereich der dauernden Aufsichtspflicht seiner Eltern entwachsen. Nach Auffassung der Kammer muß die Inanspruchnahme der Eltern aus Geschäftsführung ohne Auftrag dort ihre Grenze finden, wo die in § 832 BGB normierte Aufsichtspflicht endet. Der Gesetzgeber hat in § 832 BGB ausdrücklich die Voraussetzung einer Haftung der Eltern für deliktische Handlungen ihrer minderjährigen Kinder geregelt. Die Anwendung des Instituts der Geschäftsführung ohne Auftrag darf nicht dazu führen, eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Haftung der Eltern für das Verhalten ihrer Kinder zu begründen (Canaris, JZ 1963, 655 [660]).



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