LG Darmstadt: Anfechtung nach § 119 II BGB wegen Irrtums über verkehrswesentliche Eigenschaften einer Person

Urt. v. 18. 12. 1996 - 2 b 114/96 
1.) Anfechtbarkeit eines Beratervertrags nach § 119 II BGB wegen Sektenzugehörigkeit des anderen Teils.
2.) Keine Aufklärungspflicht des anderen Teils bezüglich seiner Sektenzugehörigkeit, daher keine Anfechtung nach § 123 I BGB
3.) Schadensersatzpflicht des Anfechtungsgegners aus c.i.c. (in casu verneint)

Fundstelle:

NJW 1999, 365 f


Zentralprobleme des Falles:

Im Zentrum des Falle steht die Anfechtung nach § 119 II BGB wegen des Irrtums über die verkehrswesentliche Eigenschaft einer Person. Die maßgebenden Kriterien werden hier lehrbuchartig dargestellt und subsumiert. Auch die Ausführungen zur (fehlenden) Aufklärungspflicht und die daraus folgende Verneinung einer Anfechtungbarkeit nach § 123 I BGB sind schulmäßig. Die Entscheidung übergeht allerdings bezüglich der Widerklage, daß der Beklaget ja bereits einen Teil seiner Beraterleistung gegenüber der Beklagten erbracht hatte. Diesbezüglich wäre eine Bereicherungsanspruch des Beklagten hinsichtlich des Wertersatzes bereits geleisteter Dienste bzw. erbrachter Tätigkeiten aus §§ 812 I 1 Alt. 1, 818 II BGB zumindest zu prüfen gewesen.
Denkbar ist in einer solchen Fallkonstellation ein Schadensersatzanspruch aus c.i.c. wegen Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht, vgl. OLG Stuttgart NJW 1999, 3640.



Zum Sachverhalt:

Die Parteien schlossen unter dem 23. 12. 1994 einen Vertrag, nach dem sich der Bekl. verpflichtete, für die Kl. einen Mitarbeiter, nämlich einen Projektleiter für schlüsselfertiges Bauen zu  suchen. Für diese Tätigkeit schuldete die Kl. dem Bekl. ein Honorar von 20000 DM zuzüglich Insertionskosten. In der Folgezeit erstellte der Bekl., teilweise in Zusammenarbeit mit der Kl., verschiedene "Profile" (Firmen-, Arbeitsplatz-, Stellen-, Anforderungs- und Projektprofil) und konzipierte dann gemeinsam mit der Firma D eine Stellenanzeige, die in mehreren Zeitungen erschien. Die Kl. zahlte an den Bekl. einen Abschlag in Höhe von 10000 DM und an die Firma D die reinen Insertionskosten in Höhe von 5630,81 DM. Danach ging bei der Kl. ein anonymes Schreiben ein, in dem auf Verbindungen des Bekl. zur Scientology-Sekte hingewiesen wurde. Nachdem der Bekl. auf Nachfrage der Kl. seine Zugehörigkeit zu dieser Sekte bestätigt hatte, kündigte die Kl. den Beratungsvertrag mit Anwaltsschreiben und focht ihn gleichzeitig aus allen rechtlichen Gründen an. Auch die Firma D steht - wie die Kl. später durch Einsichtnahme in eine sogenannte WISE-Liste erfüht - der Scientology-Sekte nahe. Die Kl. meint, der Bekl. habe sie arglistig getäuscht, indem er ihr seine Zugehörigkeit zur Scientology-Sekte verschwiegen habe. Da eines der Ziele der Scientology-Sekte die Unterwanderung der Wirtschaft sei und der Bekl. die Ziele dieser Bewegung verfolge, sei es für die Kl. unzumutbar mit Hilfe des Bekl. als Personalberater eine Führungsposition in ihrem Unternehmen zu besetzen. Es sei zudem rufschädigend für die Kl., wenn bekannt würde, daß sie mit Mitgliedern der Scientology-Sekte zusammenarbeite. Sie fordert die Rückzahlung der bisher geleisteten 15630,81 DM nebst Zinsen. Der Bekl. hat demgegenüber Widerklage auf Zahlung von 4400 DM nebst Zinsen erhoben. Er meint, seine Zugehörigkeit zur Scientology-Sekte sei seine Privatsache. Er habe nie versucht, Mitglieder der Scientology-Sekte als Mitarbeiter bei der Kl. einzuschleusen. 60% seiner Arbeit für die Kl. habe er bereits geleistet gehabt, als die Kl. die weitere Zusammenarbeit verweigerte; für die restlichen 40% der Arbeit lasse er sich 70% ersparte Aufwendungen anrechnen, so daß die Kl. an ihn noch Zahlungen in Höhe der Widerklageforderung leisten müsse
Das LG hat der Klage teilweise stattgegeben und die Widerklage abgewiesen.

Aus den Gründen:

Der Anspruch der Kl. auf Rückzahlung der 10000 DM, die die Kl. als Honorarabschlag bereits an den Bekl. gezahlt hat, ergibt sich aus § 812 I BGB. Die Kl. hat den zwischen den Parteien am 23. 12. 1994 abgeschlossenen Beratervertrag wirksam angefochten. Das Anfechtungsrecht der Kl. ergibt sich aus § 11911 BGB. Die Kl. war bei Vertrags-schluß im Irrtum über eine Eigenschaft der Person des Bekl., die im Verkehr als wesentlich angesehen wird, weil sie nicht wußte, daß der Bekl. der Scientology-Sekte angehört. Bei der Prüfung, welche Eigenschaften verkehrswesentlich sind, ist nach Sinn und Zweck des § 119 II BGB von dem konkreten Rechtsgeschäft auszugehen (vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 56. Aufl., § 119 Rdnr. 25); es ist also zu prüfen, ob die Eigenschaft für das konkrete Geschäft von Bedeutung ist (vgl. Soergel/Hefermehl, BGB, § 119 Rdnr. 38). Dies ist im vorliegenden Fall zu bejahen. Der Bekl. war als Unternehmens- und Personalberater für die Kl. tätig. Wie sich aus den vorgelegten Unterlagen zur "Vereinbarten Vorgehensweise" ergibt, erhielt der Bekl. zahlreiche Informationen über die Firma der Kl. Insbesondere in der ersten Phase der Vertrags-ausführung teilte die Kl. dem Bekl. Firmeninterna mit, indem sie ihm auf der Grundlage der vom Bekl. entworfenen Fragebögen zu den verschiedenen Profilen Informationen gab. Fragen nach der Zielsetzung und den Zukunftsplänen der Firma, nach Führungsstil und Betriebsklima ließen für den Bekl. tief-gehende Einblicke in die Firma der Kl. zu. Damit der Bekl. seine konkrete Aufgabe, nämlich die Suche nach einem geeigneten leitenden Mitarbeiter erfüllen konnte, brachte die Kl. ihm Vertrauen durch Offenlegung von Firmeninterna entgegen. Bei dieser Sachlage sind persönliche Eigenschaften des Bekl. eher als verkehrswesentlich anzusehen als in Fällen, in denen es um einen reinen Warenaustausch geht. Die Art der vereinbarten Tätigkeit mit der geschilderten Notwendigkeit, Vertrauen zu gewähren und in Anspruch zu nehmen, läßt die Sektenzugehörigkeit des Bekl. im vorliegenden Fall als verkehrs- wesentlich erscheinen: Hätte die Kl. gewußt, daß der Bekl. der Scientology-Sekte angehört, hätte sie ihm den Beratungsauftrag nicht erteilt, da sie nicht wollte, daß ein Mitglied dieser Sekte Einblick in ihre Firmeninterna nahm. Zudem befürchtete die Kl. eine Schädigung ihres guten Rufs in ihrer Branche, wenn bekannt werden würde, daß sie mit Hilfe eines Mitglieds der Scientology-Sekte nach Führungskräften suchte.
Allein die Tatsache, daß der Bekl. der Scientology-Sekte angehört, ist somit im vorliegenden Fall als verkehrswesentliche Eigenschaft anzusehen, so daß die Kl. zur Anfechtung berechtigt war. Auf die zwischen den Parteien streitige Frage, ob der Bekl. es tatsächlich versucht hat oder versucht hätte, einer der Scientology-Sekte nahestehenden Person eine Anstellung bei der Kl. zu verschaffen, kommt es daher nicht an.
Ein Anfechtungsrecht aus § 123 BGB steht der Kl. dagegen nicht zu. Der Bekl. hat die Kl. nicht arglistig getäuscht. Für eine Täuschung durch positives Tun sind konkrete Anhaltspunkte nicht ersichtlich. Eine arglistige Täuschung durch Unterlassen könnte nur angenommen werden, wenn der Bekl. eine Rechtspflicht zur Aufklärung der Kl. über seine Zugehörigkeit zur Scientology-Sekte gehabt hätte. Eine solche Aufklärungspflicht des Bekl. ist zu verneinen. Nach Treu und Glauben sowie nach der Verkehrsanschauung kann nicht erwartet werden, daß ein Mitglied der Scientology-Sekte seine Sektenzugehörigkeit ungefragt offenbart. Grundsätzlich ist es nämlich Sache jeder Partei, ihre eigenen Interessen selbst wahrzunehmen. Ungefragt muß ein möglicher Geschäftspartner Dinge, die die Entschließung des anderen Teils in einer bestimmten Richtung beeinflussen könnten, grundsätzlich nicht offenbaren (vgl. Palandt/Heinrichs, § 123 Rdnr. 5). Eine Frage nach der Sektenzugehörigkeit hat die Kl. dem Bekl. unstreitig nicht gestellt. Ein Anfechtungsrecht aus § 123 BGB scheidet damit aus. Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß der Bekl. der Kl. die Rückzahlung des Honorarabschlags aus §§ 119 II, 142, 812 I BGB schuldet.
Ein Anspruch der Kl. auf Rückzahlung der Insertionskosten, die die Kl. an die Firma D gezahlt hat, besteht nicht. Ein Anspruch aus § 812 BGB gegenüber dem Bekl. scheidet aus, da der Bekl. um die Insertionskosten nicht bereichert ist. Ein Schadensersatzanspruch aus culpa in contrahendo steht der Kl. gegen den Bekl. nicht zu. Zwar kann ein solcher Anspruch einem Anfechtenden dann zustehen, wenn der Vertragspartner ihn schuldhaft in die Irre geführt hat (vgl. hierzu Kramer, in: MünchKomm, § 122 Rdnr. 6), jedoch kann im vorliegenden Fall von einem schuldhaften Verhalten des Bekl. der Kl. gegenüber nicht ausgegangen werden. Wie oben dargelegt, hatte der Bekl. nicht die Rechtspflicht, die Kl. über seine Sektenzugehörigkeit zu informieren. Durch das Unterlassen dieser Information hat er somit auch keine schuldhafte Pflichtverletzung begangen. Das Anfechtungsrecht der Kl. beruht, wie dargelegt, auf einem vom Verschulden des Bekl. unabhängigen Eigenschaftsirrtum der Kl.
Weitere Anspruchsgrundlage, auf die die Kl. ihren Anspruch auf Rückzahlung der Insertionskosten stützen könnte, sind nicht ersichtlich. Insbesondere kommt ein Anspruch aus § 122 BGB nicht in Betracht, da dieser ein Recht des Anfechtungsgegners normiert. Für deliktische Ansprüche, etwa aus § 823 II BGB, § 263 StGB, fehlt es - mangels Bestehens einer Aufklärungspflicht - an einem Täuschungsvorsatz des Bekl.
Die Widerklage ist unbegründet. Den Beratungsvertrag, aus dem der Bekl. seinen restlichen Honoraranspruch herleitet, hat die Kl., wie oben dargelegt, gem. § 119 II BGB wirksam angefochten, so daß er nicht mehr besteht. Auch aus § 122 BGB ergibt sich nicht der vom Bekl. hier geltend gemachte Anspruch auf restliche Vergütung abzüglich ersparter Aufwendungen. Nach § 122 BGB wird nämlich nur das negative Interesse ersetzt, also der Vertrauensschaden. Der entgangene Gewinn dagegen gehört nicht zu den nach § 122 BGB ersatzfähigen Schäden.



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