Vorvertragliche Aufklärungspflicht und Anspruch auf Vertragsaufhebung aus culpa in contrahendo (Verbindung zur Scientology-Organisation) 
OLG Stuttgart, Urt. v. 22. 6. 1999 - 12 U 3/99 
Fundstelle:

NJW 1999, 3640 


Zentrales Problem:

Im Zentrum der Entscheidung steht der schadensersatzrechtliche Anspruch auf Vertragsaufhebung und auf Rückzahlung des auf den Vertrag geleisteten auf der Basis einer Haftung aus culpa in contrahendo. Zur Haftungsbegründung bedurfte es einer Aufklärungspflicht des Vertragspartners über seine Sektenzugehörigkeit. Das OLG geht hier von der "Zauberformel" des allgemeinen Aufklärungspflichtstatbestandes aus § 242 BGB aus: Grundsätzlich hat sich jeder Verhandlungspartner selbst über die für den Vertragsschluß wesentlichen Tatsachen zu informieren. Nach der gefestigten Rechtsprechung des BGH besteht auch bei Vertragsverhandlungen, in denen die Beteiligten entgegengesetzte Interessen verfolgen, nach § 242 BGB die Pflicht, den anderen Teil über solche Umstände aufzuklären, die den Vertragszweck des anderen vereiteln können und daher für seinen Entschluß von wesentlicher Bedeutung sind, sofern er die Mitteilung nach der Verkehrsauffassung erwarten durfte.
Bei Verletzung der Aufklärungspflicht ist der andere Teil so zu stellen, wie er bei gehöriger Aufklärung gestanden hätte (§ 249 S. 1 BGB). Daraus ergibt sich dann ein Anspruch auf Vertragsaufhebung sowie auf Rückzahlung des Geleisteten, der nicht der Verjährung des § 124 BGB unterliegt. Sofern der Vertragspartner seinerseits Leistungen erbracht hatte, sind diese im Wege der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen.
Denkbar wäre in der vorliegenden Fallkonstellation auch eine Anfechtung nach § 119 II BGB (vgl. LG Darmstadt NJW 1999, 365). Diese ist aber an eine wesentlich kürzere Frist gebunden und hätte u.U. eine Schadensersatzverpflichtung nach § 122 I BGB nach sich gezogen (die aber - je nach Sachlage - i.d.R. an § 122 II BGB scheitern dürfte).
Zum Konkurrenzproblem zwischen c.i.c. und Anfechtung vgl. insbesondere die Anm. zu BGH NJW 1998, 302 sowie  BGH NJW 1998, 898. 



Leitsatz:

Zur Aufklärungspflicht eines Personalberaters über seine Zugehörigkeit zur Scientology-Sekte. 



Zum Sachverhalt:

Die Bekl. hatte mit der Kl. einen Personalberatungsvertrag geschlossen. Danach sollte sie eine besonders qualifizierte Fach- und Führungskraft für die Position eines Architekten/Bauleiters, also eine Führungsposition, bei der Kl. suchen. Sie verschwieg, daß sie Mitglied der Scientology Church ist oder war und deren Ziele jedenfalls zeitweise aktiv gefördert hat. Nachdem die Kl. hiervon Kenntnis erlangt hat, hat sie den mit der Bekl. geschlossenen Vertrag gekündigt. Ihre Forderung auf Rückzahlung des bereits geleisteten Honorars von 12266,67 DM hatte in zweiter Instanz Erfolg.
Aus den Gründen:
Der Kl. steht jedoch ein Anspruch auf Ersatz des ihr entstandenen Schadens von 12 266,67 DM aus culpa in contrahendo zu. Die Bekl. hat die Kl. bei Vertrags-schluß arglistig getäuscht, indem sie ihre Mitgliedschaft in der und ihre enge Verbindung zur Scientology Church verschwiegen hat. Hierüber hätte die Bekl. die Kl. als ihre Vertragspartnerin aufklären müssen.
a) Nach der gefestigten Rechtsprechung des BGH besteht auch bei Vertragsverhandlungen, in denen die Beteiligten entgegengesetzte Interessen verfolgen, die Pflicht, den anderen Teil über solche Umstände aufzuklären, die den Vertragszweck des anderen vereiteln können und daher für seinen Entschluß von wesentlicher Bedeutung sind, sofern er die Mitteilung nach der Verkehrsauffassung erwarten durfte (BGH, NJW 1971, 1795 [1799] = LM § 123 BGB Nr. 42; NJW 1979, 2243 = LM § 123 BGB Nr. 54; NJW 1980, 2460 [2461] = LM § 123 BGB Nr. 57). Das Verschweigen von Tatsachen begründet also nur dann eine Haftung, wenn der andere Teil nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung redlicherweise Aufklärung erwarten durfte (Palandt/Heinrichs, BGB, 58. Aufl. [1999], § 276 Rdnr. 78). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Angesichts der konkreten Umstände des hier zu beurteilenden Falls bestand eine Pflicht der Bekl., die Kl. darüber aufzuklären, daß sie Scientology-Mitglied ist, sie enge Verbindungen zu der Scientology-Organisation hat, insbesondere sich der dem Vertrag zugrunde liegende Dienstleistungsablauf an der von World Institute of Scientology Enterprises (WISE) herausgegebenen detaillierten Vorgehensweise orientiert.
Gegenstand des Vertrags der Parteien war die Suche der Bekl. nach einer besonders qualifizierten Fach- und Führungskraft für die Position eines Architekten/Bauleiters, also eine Führungsposition bei der Kl. Die Suche nach einem geeigneten Bewerber für die hervorgehobene Stelle im Betrieb der Kl. stellt eine Leistung dar, bei der besonderes Vertrauen gefordert ist. Die enge Verbindung der Bekl. zur Scientology Church stellt einen wesentlichen Umstand dar, der geeignet ist, den Vertragszweck der Kl. zu vereiteln, eine fachlich qualifizierte, vertrauenswürdige Person, die nicht mit einer möglichen Verbindung zur Scientology Church belastet ist, auszuwählen und einzustellen. Sie ist für den Vertragsschluß von wesentlicher Bedeutung. Dies wird auch dadurch belegt, daß die Kl. nach Kenntniserlangung auf eine weitere Durchführung des Vertrags, eine weitere Tätigkeit der Bekl. - eine geeignete Person war von der Bekl. noch nicht präsentiert worden - verzichtet und den Vertrag gekündigt hat.
Die Bekl. steht jedenfalls den Gedanken der Scientology-Organisation sehr nahe: Die Bekl. ist Mitglied von Scientology. Der für die Kl. zuständige Mitarbeiter der Bekl. ist ebenfalls Mitglied von Scientology; nach eigenen Angaben der Bekl. ist die Mehrheit ihrer Mitarbeiter Mitglied. Die Bekl. hat auch einen namhaften Betrag, nämlich mindestens 40000 $, in die sogenannte Kriegskasse (für Aktionen gegen Kritiker von Scientology) einbezahlt; denn sie ist in der Zeitschrift "Impact", die von der International Association of Scientology (ISA) herausgegeben wird, als Patron erwähnt. Ein Patron ist eine Person, die einen Mindestbetrag von 40000 $ in die sogeannte Kriegskasse einbezahlt hat. Dies steht aufgrund der in erster Instanz erfolgten Vernehmung der Zeugin L fest. Durch die Unterzeichnung der Beitrittserklärung in Verbindung mit der nicht unerheblichen finanziellen Unterstützung der Scientology Church hat die Bekl. ihre Ubereinstimmung mit deren Zielen zum Ausdruck gebracht (so auch LG Bonn, NJW 1997, 2958 [2961]). Die Bekl. war darüber hinaus unstreitig jedenfalls bis 1993 Mitglied im Verband WISE. Sie hat an diesen Verband Lizenzgebühren bezahlt, hierfür Fragebögen, für welche das Urheberrecht bei WISE liegt, erhalten und ihre Firma nach den Verwaltungsdaten von Hubbard, dem Begründer der Scientology-Bewegung, organisiert. Zielsetzung von WISE ist, Scientology und Scientology-Ethik in der Geschäftswelt zu etablieren. Die Franchisegebühr wird für die Verwendung von Unterlagen von Scientology bezahlt. Dies hat die Vernehmung der Zeugin L in erster Instanz ergeben. Erklärtes Ziel der Scientology-Organisation ist die Übernahme der Wirtschaft auf der gesamten Welt. Hubbard hat hierzu die Handlungsmaxime für Scientologen ausgegeben: "Erobern Sie, egal wie, die Schlüsselpositionen, die Position als Vorsitzende des Frauenverbands, als Personalchef einer Firma, als Leiter eines guten Orchesters, Sekretärin des Direktors, als Berater der Gewerkschaft - irgendeine Schlüsselposition." Für die Umsetzung dieser Strategie in der Wirtschaft ist WISE zuständig (Bauer/Baeck/Merten, BB 1997, 2534, mit Fundstellennachweisen). Aufgrund der Aussagen der Zeugin L steht auch fest, daß in den älteren Veröffentlichungen von WISE die Bekl. als Mitarbeiterin der Organisation geführt wird. Die Bekl. hat ihre Firma X, unter welcher sie den Vertrag mit der Kl. am 28. 2. 1994 noch abgeschlossen hat, etwa im Mai 1994 umfirmiert, nachdem sie, wie sie im Termin vor dem LG bekundet und in der Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt hat, praktisch drei Monate lang mit ihrem Unternehmen unter dem Druck von Presse und Fernsehkameras stand und sie mit dem Logo, daher nicht mehr bestehen konnte. Unstreitig entspricht auch der "Dienstleistungsablauf" der Bekl., welcher Bestandteil des Vertrags zwischen den Parteien vom 28. 2. 1994 ist, den Grundsätzen von WISE. Ob die Bekl. tatsächlich, wie sie behauptet, im Jahr 1993 ihre Mitgliedschaft beim Verband WISE gekündigt hat, kann dahinstehen.
Daß diese alle feststehenden Umstände für den Vertragsschluß von wesentlicher Bedeutung sind, folgt vor allem aus dem engen Zusammenhang zwischen dem Vertragsgegenstand, eine Führungsposition im Betrieb der Kl. zu besetzen, und dem insbesondere dem Verband WISE angelasteten Ziel der Unterwanderung. Hinzu tritt, daß schon die Einschaltung der mit der Scientology-Organisation eng verbundenen Bekl. geeignet ist, die Reputation der Kl. in der Öffentlichkeit erheblich zu beeinträchtigen. Wegen der sich aus den Publikationen der Scientology Church objektiv ergebenden Geisteshaltung empfinden Teile der Bevölkerung eine Bedrohung durch diese Organisation (LG Bonn, NJW 1997, 2958 [2961]) und wird der Scientology Church in der Öffentlichkeit verbreitet der Charakter einer unlauteren Ziele verfolgenden Sekte beigemessen (BVerfG, NJW 1997, 2669 [2670]; vgl. auch AG Hagenow, zit. bei: Abel, NJW 1996, 91 [93 Fußn. 24]).
Da, wie der Bekl. durch die Belagerung ihres Büros durch Presse und Fernsehen vor Vertragsschluß mit der Kl. bekannt war, die Arbeit sehr kritisch betrachtet wird und der Organisation von der Öffentlichkeit, wie dargelegt, der Charakter einer unlauteren Ziele verfolgenden Sekte verbreitet beigemessen wird (BVerfG, NJW 1997, 2669 [2670]; LG Bonn, NJW 1997, 2958 [2961]; BAG, NJW 1996, 143), mußte es sich der Bekl. aufdrängen, daß es sich bei ihrer Mitgliedschaft in der Scientology-Organisation um einen bei ihrer Vertragspartnerin, die mit ihrer Hilfe eine Führungsposition in ihrem Unternehmen besetzen wollte, wesentlichen Umstand handelt. Und auch der Umstand, daß die Kl. in eine geschäftliche Verbindung - zudem im Bereich Personalberatung - mit einem Mitglied der Scientology-Organisation, das sich in der Vergangenheit auch noch als Patron hervorgetan hatte, getreten ist, wirkt sich auf deren Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit negativ aus, was sich der Bekl. aufdrängen mußte.
Es ist davon auszugehen, daß bei Aufklärung die Kl. den Vertrag nicht abgeschlossen hätte. Da die Bekl. schuldhaft diese Aufklärung unterlassen hat, hat die Kl. einen Anspruch auf Rückgängigmachung des Vertrags. Sie kann Rückzahlung des von ihr bei der Auftragserteilung bezahlten Teilbetrags der Gesamtvergütung, nämlich von12 266,67 DM, verlangen.
Der auf der Täuschung durch Verschweigen trotz Aufklärungspflicht beruhende Anspruch der Kl. aufgrund von culpa in contrahendo wird durch den Ablauf der Frist des § 124 BGB nicht berührt (BGH, NJW 1997, 254 = LM § 675 BGB Nr. 233; Palandt/Heinrichs, § 123 Rdnr. 27).
c) Der Bejahung der Aufklärungsverpflichtung der Bekl. steht Art. 4 I, II GG nicht entgegen. Zwar hat das BVerfG (NJW 1997, 2669 [2670]) ausgesprochen, daß die Zugehörigkeit zu einer umstrittenen Organisation, der in der Öffentlichkeit verbreitet der Charakter einer unlautere Ziele verfolgenden Sekte beigemessen wird, die aber nach dem Selbstverständnis der betroffenen Person eine Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaft ist, jedenfalls in den gegen beliebige öffentliche Darstellung geschützten Persönlichkeitsbereich fällt. Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die jedenfalls nach dem eigenen Verständnis der betroffenen Person weltanschaulich oder religiös geprägt ist, rechne ebenso wie die finanzielle Unterstützung einer solchen Organisation prinzipiell zur privaten Lebensgestaltung, also zu dem der Öffentlichkeit abgewandten Bereich (BVerfG, NJW 1997, 2669 [2670]). Jedoch war Gegenstand der Entscheidung des BVerfG die Frage, ob die Veröffentlichung der Mitgliedschaft und des Umstandes einer Spende in die Kriegskasse der Scientologen-Organisation einen Eingriff in die Privatsphäre darstellt. Hier liegt der Sachverhalt anders. Die Bekl. selbst war es, die den Bereich der Privatsphäre verlassen hat. Sie ist selbst aktiv an die Kl., die eine Stellenanzeige aufgegeben hatte, mit dem Wunsch zum Abschluß eines Personalberatungsvertrags herangetreten. Durch ihr Engagement im Geschäftsverkehr gerade im Bereich der Besetzung hervorgehobener Positionen in Unternehmen, also in dem Bereich, in welchem die Scientology-Organisation in der Öffentlichkeit besonders kritisch wegen der erklärten Zielsetzung von WISE, die Wirtschaft zu unterwandern, betrachtet wird, hat sie-den Bereich der Privatsphäre verlassen, so daß ihr insoweit kein durch Art. 4 GG geschützter Bereich zustehen kann. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob es sich bei der Scientology Church um eine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft i. 5. der Art. 140 GG, Art. 137 WRV handelt, was das BAG (NJW 1996, 143) für die ,,Scientology Kirche Hamburg e. V." verneint hat.
d) Die von der Bekl. erhobene Einrede der Verjährung greift nicht. Die Verjährungsfrist beträgt 30 Jahre. § 196 I Nr. 7 BGB gilt nur für Ansprüche der Personen, die gewerbsmäßig Dienste leisten bzw. fremde Geschäfte besorgen, nicht für den Auftraggeber (§§ 195, 196 1 Nr. 7 BGB; Palandt/Heinrichs, § 195 Rdnr. 10). 


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