Äquivalenz,
Adäquanz und der Schutzzweck der Norm: Ein abschreckendes Beispiel
(nicht nur für Fußballprofis)
LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 18. 5.
1999- 13 S 9987/98
Fundstelle:
NJW 1999, 3721
Zentrales Problem:
Zentrale Frage des Falles ist diejenige
der haftungsbegründenden Kausalität im Deliktsrecht, da eine
Haftung des Beklagten aus § 830 I 1, II BGB mangels bewußten
und gewollten Zusammenwirkens mit dem unmittelbaren Schädiger nicht
in Frage kam:
Der Anspruchsgegner kann wegen einer
Rechtsgutverletzung nach § 823 I BGB nur dann in Anspruch genommen
werden, wenn er sie kausal verursacht hat und sie ihm auch zugerechnet
werden kann.
Hierbei gilt folgendes:
I. Ausgangspunkt der Zurechenbarkeit
ist die Prüfung der Kausalität nach der sog. Äquivalenztheorie.
Danach ist eine Handlung kausal,wenn sie nicht hinweggedacht werden kann,
ohne daß der konkrete Erfolg entfiele.
Kann von zwei Umständen jeder
für sich, d. h. alternativ, hinweggedacht werden, ohne daß der
konkrete Erfolg entfällt, können aber nicht beide Umstände
zusammen hinweggedacht werden, so sind beide Umstände kausal — sog.
alternative Kausalität, führen beide Umstände nur
durch ihr Zusammenwirken zum Erfolg, so sind ebenfalls beide Umstände
kausal — sog. kumulative Kausalität. Ist die Kausalität
nach der Aquivalenztheorie nicht feststellbar, so kann die Rechtsgutverletzung
dem Anspruchsgegner grds. nicht angerechnet werden. Ausnahme: § 830
Abs. 1 S. 2.
II. Bei nicht vorsätzlicher Erfolgsherbeiführung
ist der fast grenzenlose Kausalzusammenhang i.S.d. Äquivalenz kein
ausreichendes Zurechnungskriterium. Die Zurechnung wird in diesen Fällen
durch die sog. Adäquanztheorie beschränkt (vgl. hierzu
etwa den sehr instruktiven Geldtransporter-Fall: BGH
NJW 1997, 865.)
Adäquat kausal ist jeder Umstand,
der vom Standpunkt des optimalen Beobachters und nach den dem Handelnden
bekannten Umständen generell geeignet ist, einen solchen Erfolg allein
oder im Zusammenwirken mit anderen Umständen herbeizuführen.
Bei vorsätzlicher Erfolgsherbeiführung
reicht für die Zurechnung die Kausalität i.S.d. Äquivalenztheorie
aus, denn für gewollte Folgen braucht die Zurechnung nicht eingeschränkt
zu werden, wenn auch der Erfolgseintritt noch so unwahrscheinlich gewesen
ist. Vorsätzlich herbeigeführte Tatfolgen sind immer adäquat.
Bei der reinen Gefährdungshaftung
kommt es nach hM auf die Adäquanz nicht an, weil sie aufgrund der
Anknüpfung an die Vorhersehbarkeit auf das Verschulden zugeschnitten
ist. Entscheidend ist für die Zurechnung, ob es sich bei dem Verletzungserfolg
um eine spezifische Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich
derer der Rechtsverkehr nach Sinn und Zweck der Haftungsvorschrift schadlos
gehalten werden soll (Schutzzweck der Norm).
III. Trotz der Adäquanz erfolgt
nach hM keine Zurechnung, wenn die Rechtsgutverletzung erst aufgrund des
Hinzutretens besonderer Umstände eingetreten ist und deshalb außerhalb
des Schutzzwecks der verletzten Norm liegt.
Ob die Zurechnung nach dem Schutzzweck
der Norm entfällt, ist durch eine Wertung zu ermitteln.
1.) Verhaltensbezogene Wertung:
Zurechnung des Erfolges trotz Adäquanz
bei einer mittelbar schädigenden Handlung nur dann, wenn der (mittelbar)
Handelnde die in einem speziellen Schutzgesetz aufgestellte Verhaltenspflicht
oder die allg. Verkehrssicherungspflicht obj. verletzt hat.
In den sog. Verfolgerfällen
Zurechnung nach der sog. Herausforderungsformel nur dann, wenn
-
Verfolgter eine mit dem Gesetz im Einklang
stehende Verfolgung herausgefordert hat,
-
zwischen dem Zweck der Verfolgung und
den damit verbundenen Risiken ein angemessenes Verhältnis besteht
und
-
die Rechtsgutverletzung durch die mit
der Verfolgung verbundenen Risiken eingetreten ist
2.) Erfolgsbezogene Wertung:
Ein sog. anlagebedingter Verletzungserfolg
ist ausnahmsweise nur in Extremfällen nicht zurechenbar, z. B. extreme
Schadensanfälligkeit und nur psychische Einwirkung; Schaden durch
einen ganz geringfügigen, normalerweise nie zu einer derartigen Verletzung
führenden Anlaß entstanden.
Die Entscheidung erörtert zwar
die richtigen Probleme, im Ergebnis ist sie aber vollkommen abwegig. Richtigerweise
besteht im vorliegenden Fall sicherlich keine adäquate Kausalität.
Der Vergleich mit den "Retterfällen" ist vollkommen falsch. Es ist
zwar zutreffend, daß auch das vorsätzliche Handeln Dritter die
Kausalität nicht ausschließt (vgl. BGH NJW 1992, 1381). Das
setzt aber ein fortwirkendes typisches Schadensrisiko der Erstschädigung
voraus (Schutzzweck der Norm). Wenn ein Schaden zwar bei rein naturwissenschaftlicher
Betrachtung in einem kausalen Zusammenhang mit der Handlung des
Schädigers steht, jedoch - wie hier - entscheidend durch ein völlig
ungewöhnliches und unsachgemäßes Verhalten anderer Personen
ausgelöst worden ist, ist die Grenze überschritten, bis zu welcher
dem Erstschädiger der Zweiteingriff und der Folgeschaden zugerechnet
werden können (BGH aaO). Es ist zwar u.U. voraussehbar,
daß ein "Retter" im Handgemenge mit dem Verletzer zu Schaden kommt,
nicht aber, daß ein unbeteiligter Dritter vorsätzlich und rechtswidrig
den "Retter" in der hier vorliegenden Weise (Faustschlag mit Kieferbruch!)
verletzt. Auch der Vergleich mit den "Verfolgerfällen"
hinkt, denn es hat sich gerade kein spezifisches Risiko
verwirklicht.
(Eigener) Leitsatz:
Zur Haftung des Schädigers für die
vorsätzliche Verletzung eines Rettungswilligen durch einen Dritten
Zum Sachverhalt:
Der Bekl. wurde vom Zeugen K in einer Hotelbar
in H. provoziert. Nachdem der Zeuge K die Hotelbar verlassen harte, eilte
ihm der Bekl. nach, um diesen zu verprügeln. Der M, der zuvor mit
dem Bekl. in der Hotelbar zusammengesessen hatte, folgte dem K und dem
Bekl. Als der Bekl. (der von Beruf Fußballspieler ist) den Zeugen
K, der davonlief, eingeholt hatte, riß er diesen zu Boden und trat
ihn mehrmals mit den Füßen gegen Kopf und Bauch. Der Zeuge S,
der das Geschehen beobachtet hatte, wollte eingreifen und lief in Richtung
Tatort. Noch bevor es dem Zeugen S gelang, in Eingriffsweite des Geschehens
zu gelangen, stellte sich diesem der M in den Weg und schlug ihm mit der
Faust ins Gesicht. Der Zeuge S, der zu dieser Zeit seinen Zivildienst ableistete,
erlitt einen Kieferbruch und war mehrere Wochen arbeitsunfähig. Die
Kl., die als Dienstherrin des Zeugen S diesem gegenüber zur Tragung
der Behandlungskosten und zur Fortzahlung der Bezüge verpflichtet
war, forderte vom Bekl. mangels Solvenz des unmittelbaren Schädigers
M Schadensersatz aus unerlaubter Handlung. Das AG gab der Klage statt.
Die Berufung des Bekl. blieb erfolglos.
Aus den Gründen:
I. Der Bekl. hat nach §§ 823, 249, 840,
842 BGB gesamtschuldnerisch mit dem Zeugen M Ersatz für den Schaden
zu leisten, der durch die Verletzung des Zeugen S entstanden ist.
1. Der Bekl. hat die Verletzung des Zeugen zurechenbar
herbeigeführt.
a) Die Handlung des Bekl., nämlich die unstreitige
vorsätzliche Verletzung des Zeugen K, ist äquivalent kausal für
die Verletzung des Zeugen S. Denn ohne sie wäre es nicht zur Verletzung
des Zeugen S gekommen. Nach der Äquivalenztheorie ist jede Bedingung,
die zum Erfolg beigetragen hat, kausal. Die Verletzung des S ist also eine
Folge seines Nothilfeversuchs und des Bemühens des Zeugen M, diese
Nothilfe zu vereiteln. Ohne die Notlage des Zeugen K, die der Bekl. verursacht
hat, wäre es zu der Verletzung nicht gekommen. Der Bekl. ließ
zwar bestreiten, daß der Zeuge S in Ausübung seiner Helfertätigkeit
verletzt worden sei. Dies erfolgte jedoch im Zusammenhang mit der rechtlichen
Wertung, daß der Zeuge M aufgrund eines exzessiven Tatentschlusses
gehandelt habe. Ein Bestreiten der eigentlichen detailliert geschilderten
Vorgänge erfolgte jedoch nicht.
Unerheblich ist insoweit die streitige Frage,
in welcher Entfernung der Vorfall stattfand, und ob der Bekl. diese Ereignisse
wahrgenommen hat oder ob der Zeuge M bei der Tat im Einverständnis
mit dem Bekl. handelte.
b) Das Verhalten des Bekl. ist auch adäquat
kausal für die Verletzung.
Es ist anerkannt, daß die Kausalität
nach der Äquivalenztheorie einer wertenden Einschränkung durch
die Adäquanztheorie bedarf (vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 57. Aufl.,
Vorb. § 249 Rdnr. 58). Dabei kommt es, anders als beim Verschulden,
nicht auf die Einsicht und Voraussicht des Bekl. an, sondern auf eine nachträgliche
objektive Prognose, wobei alle dem Optimalbetrachter zur Zeit des Eintritts
des Schadens erkennbaren Umstände zu berücksichtigen sind (vgl.
Palandt/Heinrichs, Vorb. § 249 Rdnr. 58; Erman, BGB, 9. Aufl., Vorb.
§ 249 Rdnr. 32).
Die Adäquanztheorie bejaht einen Ursachenzusammenhang,
wenn ein Verhalten oder ein Ereignis im allgemeinen und nicht nur unter
besonders eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen
Verlauf der Dinge ganz außer Betracht zu lassenden Umständen
zur Herbeiführung des Erfolgs geeignet war. Lediglich ganz unwahrscheinliche
Folgen dürfen dem Schädiger nicht zugerechnet werden (Erman,
Vorb. § 249 Rdnr. 32). Positiv bedeutet dies, daß das Verhalten
die Möglichkeit des Erfolgs der eingetretenen Art generell nicht ganz
unerheblich erhöht haben muß (vgl. Palandt/Heinrichs, Vorb.
§ 249 Rdnr. 58). Es muß eine besondere Gefahrenlage geschaffen
worden sein, die ein Eingreifen Dritter, wenn schon nicht wahrscheinlich
gemacht, so noch tendenziell begünstigt hat (vgl. Grunsky, in: MünchKomm,
2. Aufl., Vorb. § 249 Rdnrn. 57 f.). Negativ bedeutet das, daß
die Möglichkeit des Schadensereignisses nicht so weit entfernt sein
darf, daß sie nach der Erfahrung des Lebens vernünftigerweise
nicht in Betracht kommen kann (vgl. Palandt/Heinrichs, Vorb. § 249
Rdnr. 58). Es wurde bereits entschieden, daß der Schädiger dem
Nothelfer für Schäden einzustehen hat, die ihm bei einer mit
einer Risikoerhöhung verbundenen Rettungsversuch entstanden sind (Palandt/Heinrichs,
Vorb. § 249 Rdnr. 78). Dabei ist entscheidend, daß der Schädiger
dem Geschädigten eine im Ansatz billigenswerte Motivation zu dessen
selbstgefährdendem Verhalten gesetzt, also eine Gefahrenlage geschaffen
hat (vgl. BGH, VersR 1978, 183). Vorliegend wurde der Zeuge S bei dem Versuch,
dem Zeugen K gegen den Bekl. zu helfen, geschädigt. Es wurde bereits
auch entschieden, daß selbst ein durch vorsätzliches Verhalten
Dritter entstandener Schaden dem Erstschädiger zuzurechnen sein kann
(vgl. Palandt/Heinrichs, Vorb. § 249 Rdnr. 76).
Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Kombination
aus beiden Fallgestaltungen. Der Schaden eines Dritten, der durch ein vorwerfbares
Verhalten eines Vierten entstanden ist, wurde auch schon vom BGH dem Erstschädiger
zugerechnet, als durch einen Unfall ein nachfolgendes Fahrzeug zum Stehen
gezwungen wurde und ein weiteres Fahrzeug diesem Fahrzeug auffuhr (vgl.
BGHZ 43, 181 = NJW 1965, 1177). Entscheidend war, daß durch den ersten
Unfall eine Gefahrenlage für einen gleichartigen weiteren Unfall geschaffen
wurde. So liegt der Fall auch hier. Wer einen Menschen körperlich
auf offener Straße angreift, muß mit einem Einschreiten Dritter
allgemein rechnen. Es liegt dann auch nicht fern, daß ein Vierter
den Dritten am Einschreiten mit körperlicher Gewalt hindern will,
sei es aus rechtswidriger Solidarität mit dem Erstschädiger,
in Verkennung der Situation aus vermeintlicher Nothilfe oder nur um eine
Ausweitung des Konflikts zu verhindern. Die Verletzungen des S sind hier
zudem den Verletzungen des Zeugen K gleichartig. Es ist daher nicht entscheidend,
ob der Bekl. und M mit gemeinschaftlichem Vorsatz den Zeugen K verfolgten
oder den Vorsatz gefaßt hatten, auch Helfer des K zu verletzen. Es
ist auch nicht entscheidend, ob der Bekl. wußte, daß der Zeuge
M ihm folgte. Anzumerken ist allerdings, daß er damit insbesondere
dann hätte rechnen können, wenn sein Vortrag zutrifft, daß
es K war, der zuerst den Bekl. im Lokal angriff.
2. Die Handlung des Bekl. war nicht gerechtfertigt.
Der behauptete Angriff des Zeugen K war abgeschlossen, als K das Lokal
verließ und der Bekl. ihn verfolgte. Eine Notwehr war nicht mehr
erforderlich.
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