Wann ist eine schriftliche Willenserklärung
unter Anwesenden wirksam abgegeben?
Der Beklagte forderte mittels Widerklage von der
Klägerin 2112 M auf Grund einer Bürgschaft, die die Klägerin
für ihren verstorbenen Ehemann übernommen haben sollte. Die Revision
gegen das die Widerklage abweisende Berufungsurteil ist zurückgewiesen
aus folgenden Gründen:
..."Verfehlt ist die Berufung des Beklagten auf
die Bürgschaft, die die Klägerin angeblich am 28. Juni 1902 für
ihren Ehemann dem Beklagten gegenüber übernommen haben soll...
Das Berufungsgericht verneint, daß die Klägerin die Bürgschaft
übernommen habe, indem es ausführt, es sei unter den Parteien
unbestritten, daß eine die Bürgschaftserklärung der Klägerin
enthaltende Urkunde den Vertretern des Beklagten niemals zugegangen, oder
auch nur zur Verfügung gestellt worden ist. Die Revision bezeichnet
dies als in Widerspruch stehend mit den tatbestandsmäßigen Parteibehauptungen.
Der Beklagte hat nach dem Tatbestande des Berufungsurteils
geltend gemacht:"Die Bürgschaftsurkunde sei von der Klägerin
unterzeichnet worden; der Direktor K. habe sie nur um deswillen nicht an
sich genommen, weil in diesem Augenblick der Ehemann der Klägerin
sich erschossen habe; sie habe aber zu seiner Verfügung gestanden."
Die letztere Bemerkung ist ersichtlich nur eine Schlußfolgerung.
In dem vorbereitenden Schriftsatze, aus dem die Behauptung entnommen ist,
erklärt der Beklagte: " In dem Augenblicke, als Klägerin den
Bürgschaftsschein unterzeichnet hatte und im Begriffe stand, ihn dem
Direktor K. zu übergeben, hat sich der Ehemann der Klägerin in
einem Nebenzimmer erschossen. In der durch den Selbstmord entstandenen
Bestürzung entfernte sich K., ohne den auf dem Tische liegen gebliebenen
Bürgschaftsschein an sich genommen zu haben." Es ist anzunehmen, daß
diese Erklärung mit der im Tatbestande wiedergegebenen identisch sein
soll. Daß der Beklagte sein Vorbringen berichtigt oder geändert
habe, dafür liegt nichts vor. Die Klägerin ihrerseits gibt an,
sie wisse nicht, ob sie die Urkunde bereits unterzeichnet hatte, oder nicht.
Geht man von der Darstellung des Beklagten als der ihm günstigeren
aus, so wird sich allerdings Kaum sagen lassen, es sei unstreitig, daß
die Bürgschaftsurkunde dem Direktor K. nicht zugegangen sei; wohl
aber hätte das Berufungsgericht sagen können, es sei dies nach
dem feststehenden Tatbestande unbestreitbar. Zur Gültigkeit des Bürgschaftsvertrags
gehört "schriftliche Erteilung" der Bürgschaftserklärung
(§ 766 BGB). Schriftlich erteilt ist die Erklärung keinesfalls
schon mit der Unterzeichnung des sie enthaltenden Schriftstücks. Die
Herstellung dieses Schriftstücks ist bloße Vorbereitung dieser
Erklärung; sie hat rechtlich keine größere Tragweite als
die vorgängige Niederschrift einer mündlich abzugebenden Erklärung.
Abgegeben wird die schriftliche Erklärung erst durch die Überreichung
an den anwesenden oder die Zusendung an den abwesenden Gläubiger.
Wirksam wird die abgegebene Erklärung erst in dem Zeitpunkt, in dem
sie dem Gläubiger im Sinne des § 130 BGB zugeht, in dem der Gläubiger
die tatsächliche Verfügungsgewalt über das die Erklärung
enthaltende Schriftstück erlangt. Zwar bezieht sich der § 130
BGB nach seinem Wortlaute nur auf Erklärungen gegenüber Abwesenden;
er ist jedoch auch auf Erklärungen unter Anwesenden anwendbar. Der
§ 130 stellt den allgemeinen, die gesamte Lehre vom Abschlusse der
Rechtsgeschäfte beherrschenden Grundsatz auf, daß der Erklärende
nicht gebunden sein soll, solange er in der Lage ist, über das die
Erklärung enthaltende Schriftstück selbst zu verfügen, wohl
aber, sobald der Adressat die tatsächliche Verfügungsgewalt über
das Schriftstück erlangt hat. Wenn in Anwendung dieses Grundsatzes
der Absender berechtigt ist, das bereits einem Boten oder der Post übergebene
Schriftstück zurückzunehmen, so muß auch unter Anwesenden
der Erklärende berechtigt sein, die unterschriebene Urkunde zurückzuhalten
und selbst die dem Adressaten dargereichte Urkunde zurückzuziehen,
solange dieser sie nicht ergriffen oder sonst in seine Verfügungsgewalt
gebracht hat. Darüber besteht auch in der Literatur kein Streit. Streitig
ist, ob das "Zugehen" in diesem Sinne genügt, ob nicht unter Anwesenden
noch die Kenntnisnahme des Adressaten von dem Inhalte hinzukommen muß,
- eine Frage, auf die einzugehen vorliegendenfalls kein Anlaß besteht.
Auch der Beklagte will anscheinend das Erfordernis des "Zugehens" nicht
bestreiten, da er seinen Anspruch gerade auf die Behauptung stützt,
der Bürgschaftsschein habe dem Direktor K. "zur Verfügung gestanden".
Prüft man diese Behauptung im Lichte der
vorstehenden rechtlichen Gesichtspunkte, so ist klar, daß sie in
dem eigenen Vorbringen des Beklagten seine Stütze findet. In dem Augenblick,
als im Nebenzimmer der Schuß fiel, soll die Klägerin im Begriffe
gewesen sein, den Schein dem Direktor K. zu übergeben. Folglich hatte
sie ihre eigene Verfügungsmacht noch nicht aufgegeben. Danach soll
die Urkunde auf dem Tische liegen geblieben sein. Daraus folgt aber mitnichten,
daß sie dem Direktor K. zur Verfügung stand. Dies ließe
sich vielleicht sagen, wenn die Klägerin die Urkunde vor dem Genannten
niedergelegt hätte, in der unverkennbaren Absicht, sie ihm zu überlassen.
Diese Absicht mag auch ohne weiteres vorauszusetzen sein bei der Niederlegung
vor dem Adressaten. Ganz anders, wenn die Klägerin den Schein auf
ihrem eigenen Platze liegen ließ, als sie sich in der Bestürzung
über den gefallenen Schuß erhob. So gut sie beim Fallen des
Schusses die bereits ausgestreckte Hand zurückziehen konnte, so gut
konnte sie dem Direktor die Wegnahme der Urkunde untersagen. Dieser hatte
kein Recht, die daliegende Urkunde als ihm übergeben anzusehen; denn
er konnte nicht annehmen, daß die Wegnahme auch jetzt noch, bei der
gänzlich veränderten Sachlage, dem Willen der Klägerin entspreche.
Er hat denn auch die Urkunde nicht an sich genommen. Nach alledem hat der
Beklagte keinen Vorgang behauptet, aus dem entnommen werden könnte,
daß die Klägerin die Urkunde dem Direktor K. zur Verfügung
gestellt habe; und es kann deshalb von einer wirksam gewordenen Bürgschaftserklärung
der Klägerin keine Rede sein. Demnach erweist sich auch der auf die
Bürgschaft gestützte Widerklageantrag als unbegründet"...