Wirksamwerden einer schriftlichen Willenserklärung unter Anwesenden
RG vom 27.10.1905, VII 7/05

Fundstelle:

RGZ 61, 415
s. auch BGH, Urteil vom 14. Juli 2004 - XII ZR 68/02 sowie insbesondere
BGH, Urteil vom 10. Juli 2013 - IV ZR 224/12.



Amtl. Leitsatz:

Wann ist eine schriftliche Willenserklärung unter Anwesenden wirksam abgegeben?



Der Beklagte forderte mittels Widerklage von der Klägerin 2112 M auf Grund einer Bürgschaft, die die Klägerin für ihren verstorbenen Ehemann übernommen haben sollte. Die Revision gegen das die Widerklage abweisende Berufungsurteil ist zurückgewiesen aus folgenden Gründen:

..."Verfehlt ist die Berufung des Beklagten auf die Bürgschaft, die die Klägerin angeblich am 28. Juni 1902 für ihren Ehemann dem Beklagten gegenüber übernommen haben soll... Das Berufungsgericht verneint, daß die Klägerin die Bürgschaft übernommen habe, indem es ausführt, es sei unter den Parteien unbestritten, daß eine die Bürgschaftserklärung der Klägerin enthaltende Urkunde den Vertretern des Beklagten niemals zugegangen, oder auch nur zur Verfügung gestellt worden ist. Die Revision bezeichnet dies als in Widerspruch stehend mit den tatbestandsmäßigen Parteibehauptungen.
Der Beklagte hat nach dem Tatbestande des Berufungsurteils geltend gemacht:"Die Bürgschaftsurkunde sei von der Klägerin unterzeichnet worden; der Direktor K. habe sie nur um deswillen nicht an sich genommen, weil in diesem Augenblick der Ehemann der Klägerin sich erschossen habe; sie habe aber zu seiner Verfügung gestanden." Die letztere Bemerkung ist ersichtlich nur eine Schlußfolgerung. In dem vorbereitenden Schriftsatze, aus dem die Behauptung entnommen ist, erklärt der Beklagte: " In dem Augenblicke, als Klägerin den Bürgschaftsschein unterzeichnet hatte und im Begriffe stand, ihn dem Direktor K. zu übergeben, hat sich der Ehemann der Klägerin in einem Nebenzimmer erschossen. In der durch den Selbstmord entstandenen Bestürzung entfernte sich K., ohne den auf dem Tische liegen gebliebenen Bürgschaftsschein an sich genommen zu haben." Es ist anzunehmen, daß diese Erklärung mit der im Tatbestande wiedergegebenen identisch sein soll. Daß der Beklagte sein Vorbringen berichtigt oder geändert habe, dafür liegt nichts vor. Die Klägerin ihrerseits gibt an, sie wisse nicht, ob sie die Urkunde bereits unterzeichnet hatte, oder nicht. Geht man von der Darstellung des Beklagten als der ihm günstigeren aus, so wird sich allerdings Kaum sagen lassen, es sei unstreitig, daß die Bürgschaftsurkunde dem Direktor K. nicht zugegangen sei; wohl aber hätte das Berufungsgericht sagen können, es sei dies nach dem feststehenden Tatbestande unbestreitbar. Zur Gültigkeit des Bürgschaftsvertrags gehört "schriftliche Erteilung" der Bürgschaftserklärung (§ 766 BGB). Schriftlich erteilt ist die Erklärung keinesfalls schon mit der Unterzeichnung des sie enthaltenden Schriftstücks. Die Herstellung dieses Schriftstücks ist bloße Vorbereitung dieser Erklärung; sie hat rechtlich keine größere Tragweite als die vorgängige Niederschrift einer mündlich abzugebenden Erklärung. Abgegeben wird die schriftliche Erklärung erst durch die Überreichung an den anwesenden oder die Zusendung an den abwesenden Gläubiger. Wirksam wird die abgegebene Erklärung erst in dem Zeitpunkt, in dem sie dem Gläubiger im Sinne des § 130 BGB zugeht, in dem der Gläubiger die tatsächliche Verfügungsgewalt über das die Erklärung enthaltende Schriftstück erlangt. Zwar bezieht sich der § 130 BGB nach seinem Wortlaute nur auf Erklärungen gegenüber Abwesenden; er ist jedoch auch auf Erklärungen unter Anwesenden anwendbar. Der § 130 stellt den allgemeinen, die gesamte Lehre vom Abschlusse der Rechtsgeschäfte beherrschenden Grundsatz auf, daß der Erklärende nicht gebunden sein soll, solange er in der Lage ist, über das die Erklärung enthaltende Schriftstück selbst zu verfügen, wohl aber, sobald der Adressat die tatsächliche Verfügungsgewalt über das Schriftstück erlangt hat. Wenn in Anwendung dieses Grundsatzes der Absender berechtigt ist, das bereits einem Boten oder der Post übergebene Schriftstück zurückzunehmen, so muß auch unter Anwesenden der Erklärende berechtigt sein, die unterschriebene Urkunde zurückzuhalten und selbst die dem Adressaten dargereichte Urkunde zurückzuziehen, solange dieser sie nicht ergriffen oder sonst in seine Verfügungsgewalt gebracht hat. Darüber besteht auch in der Literatur kein Streit. Streitig ist, ob das "Zugehen" in diesem Sinne genügt, ob nicht unter Anwesenden noch die Kenntnisnahme des Adressaten von dem Inhalte hinzukommen muß, - eine Frage, auf die einzugehen vorliegendenfalls kein Anlaß besteht. Auch der Beklagte will anscheinend das Erfordernis des "Zugehens" nicht bestreiten, da er seinen Anspruch gerade auf die Behauptung stützt, der Bürgschaftsschein habe dem Direktor K. "zur Verfügung gestanden".
Prüft man diese Behauptung im Lichte der vorstehenden rechtlichen Gesichtspunkte, so ist klar, daß sie in dem eigenen Vorbringen des Beklagten seine Stütze findet. In dem Augenblick, als im Nebenzimmer der Schuß fiel, soll die Klägerin im Begriffe gewesen sein, den Schein dem Direktor K. zu übergeben. Folglich hatte sie ihre eigene Verfügungsmacht noch nicht aufgegeben. Danach soll die Urkunde auf dem Tische liegen geblieben sein. Daraus folgt aber mitnichten, daß sie dem Direktor K. zur Verfügung stand. Dies ließe sich vielleicht sagen, wenn die Klägerin die Urkunde vor dem Genannten niedergelegt hätte, in der unverkennbaren Absicht, sie ihm zu überlassen. Diese Absicht mag auch ohne weiteres vorauszusetzen sein bei der Niederlegung vor dem Adressaten. Ganz anders, wenn die Klägerin den Schein auf ihrem eigenen Platze liegen ließ, als sie sich in der Bestürzung über den gefallenen Schuß erhob. So gut sie beim Fallen des Schusses die bereits ausgestreckte Hand zurückziehen konnte, so gut konnte sie dem Direktor die Wegnahme der Urkunde untersagen. Dieser hatte kein Recht, die daliegende Urkunde als ihm übergeben anzusehen; denn er konnte nicht annehmen, daß die Wegnahme auch jetzt noch, bei der gänzlich veränderten Sachlage, dem Willen der Klägerin entspreche. Er hat denn auch die Urkunde nicht an sich genommen. Nach alledem hat der Beklagte keinen Vorgang behauptet, aus dem entnommen werden könnte, daß die Klägerin die Urkunde dem Direktor K. zur Verfügung gestellt habe; und es kann deshalb von einer wirksam  gewordenen Bürgschaftserklärung der Klägerin keine Rede sein. Demnach erweist sich auch der auf die Bürgschaft gestützte Widerklageantrag als unbegründet"...