Prozeßaufrechnung und
entgegenstehende Rechtshängigkeit nach Art. 21 EuGVÜ/Art. 27 EuGVVO
EuGH, Urt. v. 8.5.2003, Rs.
C-111/01 (Gantner Electronic GmbH ./. Basch Exploitatie Maatschappij BV)
Fundstelle:
NJW 2003, 2596 ff (dort nicht vollständig wiedergegeben)
Tenor:
Artikel 21 des
Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit
und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und
Handelssachen in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den
Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs
Großbritannien und Nordirland, des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über
den Beitritt der Republik Griechenland, des Übereinkommens vom 26. Mai 1989
über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik
und des Übereinkommens vom 29. November 1996 über den Beitritt der Republik
Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden ist dahin
auszulegen, dass für die Frage, ob zwei Klagen, die zwischen denselben
Parteien bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten anhängig gemacht
werden, denselben Gegenstand haben, nur die Klageansprüche des jeweiligen
Klägers und nicht auch die vom Beklagten erhobenen Einwendungen zu
berücksichtigen sind.
Zentrale Probleme:
Der Kl. klagt vor einem
österreichischen Gericht eine Forderung ein. Die Bekl. erklärt in diesem
Prozeß die Aufrechnung mit Forderungen, die Gegenstand eines bereits in den
Niederlanden rechtshängigen Verfahrens mit umgekehrten Parteirollen sind.
Der österreichische OGH hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob der
Prozeßaufrechung die Rechtshängigkeit der Aufrechnungsforderung
(Aktivforderung) in den Niederlanden nach Art. 21 EuGVÜ entgegensteht. Der
EuGH hat diese Frage (zutreffend) verneint.
Das EuGVÜ ist zum
1.3.2002 durch die VO EG Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche
Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in
Zivil- und Handelssachen (EuGVVO) ersetzt worden. Art. 21 EuGVÜ wurde
wortgleich in Art. 27 EuGVVO übernommen.
Verfahrensrechtlich von
Interesse ist auch die Ablehnung der Beantwortung der dritten Vorlagefrage
durch den EuGH mangels Entscheidungserheblichkeit
Zur (ebenfalls zu verneinenden) Frage der Rechtshängigkeit einer
Aufrechnungsforderung (Aktivforderung) im nationalen Zivilprozeßrecht s. die
Anm. zu BGH NJW 1999, 1179 sowie zu
BGHZ 57, 242 ff.
Zum (fraglichen) Erfordernis der internationalen Zuständigkeit des Gerichts
in Bezug auf die Aktivforderung s. die Anm. zu BGH
NJW 2002, 2182.
©sl 2003
Aus den Gründen:
1. Der Oberste Gerichtshof hat mit Beschluss vom 22. Februar 2001, beim
Gerichtshof eingegangen am 12. März 2001, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni
1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über
die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof (im
Folgenden: Protokoll) drei Fragen nach der Auslegung von Artikel 21 des
genannten Übereinkommens vom 27. September 1968 (ABl. 1972, L 299, S. 32) in
der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des
Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien
und Nordirland (ABl. L 304, S. 1, und - geänderter Text - S. 77), des
Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik
Griechenland (ABl. L 388, S. 1), des Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über
den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (ABl.
L 285, S. 1) und des Übereinkommens vom 29. November 1996 über den Beitritt
der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden
(ABl. 1997, C 15, S. 1) (im Folgenden: Übereinkommen) zur Vorabentscheidung
vorgelegt.
2. Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Gesellschaft
österreichischen Rechts Gantner Electronic GmbH (im Folgenden: Klägerin) und
der Gesellschaft niederländischen Rechts Basch Exploitatie Maatschappij BV
(im Folgenden: Beklagte).
Rechtlicher Rahmen
Das Übereinkommen
3. Wie sich aus seiner Präambel ergibt, soll das Übereinkommen gemäß Artikel
293 EG die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher
Entscheidungen erleichtern und innerhalb der Europäischen Gemeinschaft den
Rechtsschutz der dort ansässigen Personen verstärken. Der Präambel zufolge
ist es zu diesem Zweck geboten, die internationale Zuständigkeit der
Gerichte der Vertragsstaaten festzulegen.
4. Die Regeln über die Zuständigkeit finden sich im Titel II des
Übereinkommens. Abschnitt 8 dieses Titels - Rechtshängigkeit und im
Zusammenhang stehende Verfahren - bezweckt, einander widersprechende
Entscheidungen zu vermeiden und so eine geordnete Rechtspflege in der
Gemeinschaft sicherzustellen.
5. Artikel 21 des Übereinkommens [Anm.: gleichlautend nunmehr Art. 27 EuGVVO],
der die Rechtshängigkeit betrifft, bestimmt:
Werden bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen wegen desselben
Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später
angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit
des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.
Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt
sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für
unzuständig.
6. Artikel 22 des Übereinkommens [Anm.: ähnlich nunmehr Art. 28 EuGVVO]
betrifft im Zusammenhang stehende Verfahren und bestimmt:
Werden bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen, die im
Zusammenhang stehen, erhoben, so kann das später angerufene Gericht das
Verfahren aussetzen, solange beide Klagen im ersten Rechtszug anhängig sind.
Das später angerufene Gericht kann sich auf Antrag einer Partei auch für
unzuständig erklären, wenn die Verbindung im Zusammenhang stehender
Verfahren nach seinem Recht zulässig ist und das zuerst angerufene Gericht
für beide Klagen zuständig ist.
Klagen stehen im Sinne dieses Artikels im Zusammenhang, wenn zwischen ihnen
eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und
Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten
Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.
Nationales Recht
7. Im niederländischen und im österreichischen Recht kann die Aufrechnung
nur durch einseitige Erklärung der einen Partei gegenüber der anderen
erfolgen. Die in anderen europäischen innerstaatlichen Rechtsordnungen
bekannte Legalkompensation, die durch das Erlöschen der gegenseitigen
Forderungen kraft Gesetzes gekennzeichnet ist, gibt es im niederländischen
und im österreichischen Recht nicht. Die Erklärung kann wahlweise
außergerichtlich oder im Rahmen eines Prozesses erfolgen. Sie hat
Rückwirkung: Die beiden Forderungen gelten als zu dem Zeitpunkt erloschen,
zu dem die Voraussetzungen der Aufrechnung vorlagen, und nicht zum Zeitpunkt
der Aufrechnungserklärung; der Richter beschränkt sich darauf,
festzustellen, dass die Aufrechnung erfolgt ist.
Ausgangsrechtsstreit und Vorabentscheidungsfragen
8. Die Klägerin produziert und vertreibt Brieftaubenuhren. Im Rahmen ihrer
Geschäftsbeziehung zu der Beklagten lieferte sie dieser ihre Waren zum
Verkauf in den Niederlanden.
9. Da sie der Auffassung war, die Beklagte habe den Kaufpreis für die bis
Juni 1999 erfolgten und in Rechnung gestellten Warenlieferungen nicht
beglichen, beendete die Klägerin die Geschäftsbeziehung.
10. Mit Klageschrift vom 7. September 1999, die der Klägerin am 2. Dezember
1999 zugestellt wurde, erhob die Beklagte Klage bei der
Arrondissementsrechtbank Dordrecht (Niederlande) und beantragte, die
Klägerin zu verurteilen, ihr Schadensersatz in Höhe von 5 555 143,60 NLG (2
520 814,26 Euro) zu leisten. Sie macht geltend, zur Kündigung ihrer seit
mehr als 40 Jahren bestehenden Vertragsbeziehung hätte die Klägerin eine
längere Kündigungsfrist einhalten müssen.
11. Aus dem Vorlagebeschluss ergibt sich, dass die Beklagte meinte, Anspruch
auf einen Betrag von 5 950 962 NLG (2 700 428,82 Euro) zu haben. Nach Abzug
von für berechtigt erachteten Forderungen der Klägerin in Höhe von 376 509
NLG (170 852,34 Euro) machte sie vor Gericht 5 555 143,60 NLG (2 520 814,26
Euro) geltend. Sie rechnete also durch Abgabe einer Willenserklärung auf.
12. Im Verfahren vor der Arrondissementsrechtbank Dordrecht wandte die
Klägerin keine Forderung gegen die Forderungen der Beklagten ein.
13. Mit Klageschrift vom 22. September 1999, die der Beklagten am 21.
Dezember 1999 zugestellt wurde, erhob die Klägerin beim Landesgericht
Feldkirch (Österreich) Klage und beantragte, die Beklagte zu verurteilen,
ihr 11 523 703,30 ATS (837 460,18 Euro) als Kaufpreis für die bis 1999 an
sie gelieferten und noch unbezahlten Waren zu zahlen.
14. Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Sie trug vor, dass der
Teil der Forderung der Klägerin, den sie für berechtigt halte (170 852,34
Euro), durch ihre außergerichtliche Aufrechnung in den Niederlanden
erloschen sei. Hinsichtlich des Restbetrags der Klageforderung (666 607,84
Euro) machte die Beklagte geltend, dieser werde, falls er wider Erwarten für
begründet erachtet werden sollte, jedenfalls mit dem Rest ihrer eigenen
Schadensersatzforderung aufgerechnet, die Gegenstand des bei der
Arrondissementsrechtbank Dordrecht anhängigen Rechtsstreits sei. Außerdem
beantragte die Beklagte beim Landesgericht, das Verfahren wegen
Rechtshängigkeit nach Artikel 21 oder wegen rechtlichen Zusammenhangs nach
Artikel 22 des Übereinkommens auszusetzen.
15. Das Landesgericht lehnte die Aussetzung des gesamten bei ihm anhängigen
Verfahrens ab. Es setzte jedoch das Verfahren über das von der Beklagten
eingewendete Verteidigungsmittel der Aufrechnung mit der Forderung aus,
deren Beitreibung diese vor der Arrondissementsrechtbank Dordrecht verfolgt.
16. Die Beklagte erhob gegen die Entscheidung des Landesgerichts, nicht das
gesamte Verfahren auszusetzen, beim Oberlandesgericht Innsbruck (Österreich)
Rekurs.
17. Da das Oberlandesgericht der Auffassung war, das Verteidigungsmittel der
von der Beklagten in den Niederlanden vorgenommenen außergerichtlichen
Aufrechnung habe zwischen den beiden Rechtsstreitigkeiten möglicherweise
eine Rechtshängigkeitsbeziehung entstehen lassen, hob es die
erstinstanzliche Entscheidung insoweit auf, als mit dieser der
Aussetzungsantrag der Beklagten nach Artikel 21 des Übereinkommens
abgewiesen worden war. Dagegen bestätigte es die Zurückweisung des
Aussetzungsantrags der Beklagten nach Artikel 22; diese Zurückweisung ist
rechtskräftig.
18. Die Klägerin erhob gegen diese Entscheidung Rekurs zum Obersten
Gerichtshof.
19. Dieser ist erstens der Auffassung, dass die jeweiligen Klagen der
Klägerin und der Beklagten nicht auf einem identischen oder gleichartigen
Sachverhalt beruhten. Vor dem niederländischen Gericht begehre die Beklagte
den Ersatz ihres Schadens wegen rechtswidriger Auflösung des angeblichen
Vertragshändlervertrags durch die Klägerin. In dem Verfahren, das die
Klägerin später bei den österreichischen Gerichten anhängig gemacht habe,
begehre diese die Zahlung des Kaufpreises für die im Zeitraum vor dem
Abbruch der Geschäftsbeziehung gelieferten Waren. Begrifflich beruhten diese
Klagebegehren nicht auf einander widersprechenden Beurteilungen desselben
Sachverhalts und derselben Handlungen, sondern auf unterschiedlichen
Sachverhalten und Handlungen, die unterschiedliche Rechte begründeten.
20. Der Oberste Gerichtshof fragt sich jedoch, ob angesichts der
Rechtsprechung des Gerichtshofes auf diesem Gebiet (vgl. Urteile vom 8.
Dezember 1987 in der Rechtssache 144/86, Gubisch Maschinenfabrik, Slg. 1987,
4861, Randnrn. 16 bis 18, und vom 6. Dezember 1994 in der Rechtssache
C-406/92, Tatry, Slg. 1994, I-5439, Randnrn. 30 bis 34) im vorliegenden Fall
nicht die Voraussetzungen der Rechtshängigkeit als erfüllt anzusehen seien.
21. Zweitens stellt der Oberste Gerichtshof fest, dass die Beklagte ein
Dauerschuldverhältnis geltend mache, während die Klägerin auf eine Reihe von
Einzelkaufverträgen verweise.
22. Insoweit werfe die von der Beklagten bei dem niederländischen Gericht
erhobene Klage die Frage des Bestehens eines Dauerschuldverhältnisses
lediglich als Vorfrage auf. Es müsse daher geklärt werden, ob die
Entscheidung, die das niederländische Gericht über das zu treffen habe, was
die in der österreichischen Lehre noch überwiegende Ansicht als schlichte
Vorfrage qualifiziere, Bindungswirkung im Folgeprozess in Österreich
entfalte. Der Oberste Gerichtshof betont, dass diese Frage im
österreichischen Recht äußerst umstritten sei.
23. Der Oberste Gerichtshof hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen
und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Erstreckt sich der Begriff derselbe Anspruch in Artikel 21 des
Übereinkommens auch auf den Einwand des Beklagten, einen Teil der
eingeklagten Forderung durch außergerichtliche Aufrechnung getilgt zu haben,
wenn der nach den Behauptungen noch ungetilgte Teil dieser Gegenforderung
Gegenstand eines Rechtsstreits zwischen denselben Parteien aufgrund einer in
einem anderen Vertragsstaat bereits früher eingebrachten Klage ist?
2. Ist für die Prüfung der Frage, ob derselbe Anspruch anhängig gemacht
wurde, nur das Vorbringen des Klägers in dem durch die spätere Klage
eingeleiteten Prozess maßgebend und sind daher die Einwendungen und Anträge
des Beklagten unbeachtlich, insbesondere auch das Verteidigungsmittel der
prozessualen Aufrechnungseinrede betreffend eine Forderung, die Gegenstand
eines Rechtsstreits zwischen denselben Parteien aufgrund einer in einem
anderen Vertragsstaat bereits früher eingebrachten Klage ist?
3. Wird aufgrund einer auf Schadensersatz gerichteten Leistungsklage wegen
rechtswidriger Kündigung eines Dauerschuldverhältnisses bindend für einen
Folgeprozess zwischen denselben Parteien auch über die Frage abgesprochen,
ob ein solches Dauerschuldverhältnis überhaupt bestand?
Zu den ersten beiden Vorabentscheidungsfragen
24. Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das
vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 21 des Übereinkommens dahin auszulegen
ist, dass für die Frage, ob zwei Klagen, die zwischen denselben Parteien bei
Gerichten verschiedener Vertragsstaaten anhängig gemacht werden, denselben
Gegenstand haben, nicht nur die Ansprüche des jeweiligen Klägers, sondern
auch die Einwendungen des Beklagten zu berücksichtigen sind.
25. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass Artikel 21 des Übereinkommens
seinem Wortlaut nach Anwendung findet, wenn die Parteien der beiden
Rechtsstreitigkeiten dieselben sind und wenn beide Klagen wegen desselben
Anspruchs anhängig gemacht worden sind (vgl. Urteil Gubisch Maschinenfabrik,
Randnr. 14). Ferner besteht der Gegenstand im Sinne dieser Bestimmung in dem
Zweck der Klage (vgl. Urteil Tatry, Randnr. 41).
26. Seinem Wortlaut nach erwähnt Artikel 21 des Übereinkommens somit nur die
jeweiligen Klageansprüche in den Rechtsstreitigkeiten und nicht die
möglicherweise vom Beklagten vorgebrachten Einwendungen.
27. Sodann ergibt sich aus dem Urteil vom 7. Juni 1984 in der Rechtssache
129/83 (Zelger, 1984, 2397, Randnrn. 10 bis 15), dass, soweit die in
Randnummer 25 dieses Urteils genannten materiellen Voraussetzungen erfüllt
sind, Rechtshängigkeit ab dem Zeitpunkt vorliegt, zu dem vor zwei Gerichten
verschiedener Vertragsstaaten endgültig Klage erhoben worden ist, d. h.,
bevor die Beklagten ihren Standpunkt haben geltend machen können.
28. Obwohl sie zeitlich nicht auf das Ausgangsverfahren anwendbar ist,
bestätigt die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000
über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung
von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) diese
Auslegung.
29. Diese Verordnung regelt nämlich u. a. für die Zwecke der Anwendung der
Vorschriften über die Rechtshängigkeit, wann ein Gericht als angerufen gilt.
Nach Artikel 30 der Verordnung liegt die Anrufung entweder zu dem Zeitpunkt
vor, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges
Schriftstück bei Gericht eingereicht worden ist, vorausgesetzt, dass der
Kläger es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu
treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Beklagten zu bewirken,
oder, falls die Zustellung an den Beklagten vor Einreichung des
Schriftstücks bei Gericht zu bewirken ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem die für
die Zustellung verantwortliche Stelle das Schriftstück erhalten hat,
vorausgesetzt, dass der Kläger es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm
obliegenden Maßnahmen zu treffen, um das Schriftstück bei Gericht
einzureichen.
30. Schließlich ist der objektive und automatische Charakter des Mechanismus
der Rechtshängigkeit hervorzuheben. Wie die Regierung des Vereinigten
Königreichs zutreffend ausgeführt hat, stellt Artikel 21 des Übereinkommens
ein klares System zur Verfügung, um zu Beginn eines Rechtsstreits zu
ermitteln, welches der angerufenen Gerichte letztlich über den Rechtsstreit
zu entscheiden hat. Das später angerufene Gericht ist verpflichtet, das
Verfahren von Amts wegen auszusetzen, bis die Zuständigkeit des zuerst
angerufenen Gerichts feststeht. Wenn diese feststeht, hat das später
angerufene Gericht sich zugunsten dieses Gerichts für unzuständig zu
erklären. Die Zielsetzung des Artikels 21 des Übereinkommens würde verkannt,
wenn Inhalt und Art des Klagebegehrens durch die zwangsläufig zu einem
späteren Zeitpunkt eingereichten Anträge des Beklagten verändert werden
könnten. Neben Verzögerungen und Kosten würde dies dazu führen, dass das
nach diesem Artikel zuerst als zuständig bezeichnete Gericht sich in der
Folge für unzuständig erklären müsste.
31. Sonach können für die Frage, ob im Verhältnis zweier
Rechtsstreitigkeiten zueinander Rechtshängigkeit besteht, Einwendungen
gleich welcher Art, insbesondere die Aufrechnungseinrede, die ein Beklagter
nach der endgültigen Anrufung des Gerichts gemäß den für dieses geltenden
nationalen Rechtsvorschriften erheben könnte, nicht berücksichtigt werden.
32. Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf die ersten beiden
Vorlagefragen zu antworten, dass Artikel 21 des Übereinkommens dahin
auszulegen ist, dass für die Frage, ob zwei Klagen, die zwischen denselben
Parteien bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten anhängig gemacht
werden, denselben Gegenstand haben, nur die Klageansprüche des jeweiligen
Klägers und nicht auch die vom Beklagten erhobenen Einwendungen zu
berücksichtigen sind.
Zur dritten Frage
33. Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die
Entscheidung eines Gerichts eines Vertragsstaats, das zum Zweck der
Entscheidung über eine Klage die Rechtsnatur der Beziehungen zwischen den
Parteien zu beurteilen hatte, das Gericht eines anderen Vertragstaats
bindet, das später mit einem Rechtsstreit zwischen denselben Parteien
befasst wurde, in dem die genaue Rechtsnatur derselben vertraglichen
Beziehungen zwischen den Parteien strittig ist.
34. Vorab ist daran zu erinnern, dass es nach ständiger Rechtsprechung im
Rahmen der durch Artikel 234 EG geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem
Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem
Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen
Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im
Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit
einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die
Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen.
Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des
Gemeinschaftsrechts, so ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber
zu befinden (vgl. insbesondere Urteile vom 15. Dezember 1995 in der
Rechtssache C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Randnr. 59, vom 13. März
2001 in der Rechtssache C-379/98, PreussenElektra, Slg. 2001, I-2099, Randnr.
38, und vom 22. Januar 2002 in der Rechtssache C-390/99, Canal Satélite
Digital, Slg. 2002, I-607, Randnr. 18).
35. Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass es ihm in
Ausnahmefällen obliegt, zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die
Umstände zu untersuchen, unter denen er vom nationalen Gericht angerufen
wird (Urteile PreussenElektra, Randnr. 39, und Canal Satélite Digital,
Randnr. 19). Denn der Geist der Zusammenarbeit, in dem das
Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen ist, verlangt, dass das vorlegende
Gericht auf die dem Gerichtshof übertragene Aufgabe Rücksicht nimmt, die
darin besteht, zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht
aber, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben (Urteile
Bosman, Randnr. 60, und vom 21. März 2002 in der Rechtssache C-451/99, Cura
Anlagen, Slg. 2002, I-3193, Randnr. 26).
36. Der Gerichtshof kann somit die Entscheidung über die Vorlagefrage eines
nationalen Gerichts u. a. dann ablehnen, wenn das Problem hypothetischer
Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben
verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen
erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteile PreussenElektra, Randnr. 39,
und Canal Satélite Digital, Randnr. 19).
37. Damit der Gerichtshof eine sachdienliche Auslegung des
Gemeinschaftsrechts geben kann, ist es zweckmäßig, dass das nationale
Gericht vor der Vorlage den Sachverhalt und die ausschließlich nach
nationalem Recht zu beurteilenden Fragen klärt (vgl. Urteil vom 10. März
1981 in den verbundenen Rechtssachen 36/80 und 71/80, Irish Creamery Milk
Suppliers Association u. a., Slg. 1981, 735, Randnr. 6). Außerdem ist es
unerlässlich, dass das vorlegende Gericht die Gründe darlegt, aus denen es
eine Beantwortung seiner Fragen als für die Entscheidung des Rechtsstreits
erforderlich ansieht (vgl. Urteile vom 12. Juni 1986 in den Rechtssachen
98/85, 162/85 und 258/85, Bertini u. a., Slg. 1986, 1885, Randnr. 6, und vom
16. Juli 1992 in der Rechtssache C-343/90, Lourenço Dias, Slg. 1992, I-4673,
Randnr. 19).
38. Diese Rechtsprechung ist auf die durch das Protokoll geregelte Vorlage
zur Vorabentscheidung übertragbar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27.
Februar 1997 in der Rechtssache C-220/95, Van den Boogaard, Slg. 1997,
I-1147, Randnr. 16, vom 20. März 1997 in der Rechtssache C-295/95, Farrell,
Slg. 1997, I-1683, Randnr. 11, und vom 16. März 1999 in der Rechtssache
C-159/97, Castelletti, Slg. 1999, I-1597, Randnr. 14).
39. Im Ausgangsverfahren sind die österreichischen Gerichte mit einer Klage
auf Zahlung des Kaufpreises für Warenlieferungen befasst. Aus dem
Vorlagebeschluss ergibt sich nicht, inwiefern die genaue Rechtsnatur des
Vertrages, auf den die Klägerin sich stützt, für die Entscheidung über ein
solches Begehren erheblich sein soll.
40. Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der Gerichtshof nicht
über genügend Angaben verfügt, aus denen deutlich würde, inwiefern eine
Antwort auf die dritte Frage erforderlich ist.
41. Daher ist diese Frage unzulässig.
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