IPR: Internationales
Gesellschaftsrecht und Niederlassungsfreiheit: Sitzverlegung einer
Gesellschaft aus dem Gründungsstaat; EG-Konformität der Sitztheorie
EuGH v. 16.12.2008 - Rs.
C-210/06 (Cartesio)
Fundstelle:
noch nicht bekannt
Leitsatz:
Die Art. 43 EG und 48 EG
sind beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts dahin auszulegen, dass
sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die es
einer nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegründeten
Gesellschaft verwehren, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu
verlegen und dabei ihre Eigenschaft als Gesellschaft des nationalen Rechts
des Mitgliedstaats, nach dessen Recht sie gegründet wurde, zu behalten.
Urteil (Auszug):
1 Das Vorabentscheidungsersuchen
betrifft die Auslegung der Art. 43 EG, 48 EG und 234 EG.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsmittels der CARTESIO Oktató és Szolgáltató
bt (im Folgenden: Cartesio), einer Gesellschaft mit Sitz in Baja (Ungarn),
gegen die Entscheidung, mit der ihr Antrag auf Eintragung der Verlegung
ihres Sitzes nach Italien in das Handelsregister abgelehnt worden war.
Nationales Recht
...
Gesellschaftsrecht
...
Internationales Privatrecht
20 Art. 18 des Gesetzesdekrets Nr. 13/1979 über das internationale
Privatrecht (a nemzetközi magánjogról szóló 1979. évi 13. törvényerejű
rendelet) bestimmt:
„(1) Die Rechtsfähigkeit juristischer Personen, ihre handelsrechtliche
Stellung, die aus ihrer Rechtspersönlichkeit abgeleiteten Rechte und die
Rechtsbeziehungen zwischen ihren Mitgliedern richten sich nach ihrem
Personalstatut.
(2) Personalstatut der juristischen Personen ist das Recht des Staates, in
dem sie eingetragen sind.
(3) Ist die juristische Person nach dem Recht mehrerer Staaten eingetragen
worden oder ist nach den Vorschriften des Staates, in dem die Gesellschaft
laut Satzung ihren Sitz hat, die Eintragung nicht erforderlich, ist ihr
Personalstatut das Recht des Sitzstaats.
(4) Ist in der Satzung der juristischen Person kein Sitz angegeben oder hat
die juristische Person mehrere Sitze und ist nach dem Recht eines dieser
Staaten die Eintragung nicht erforderlich, ist ihr Personalstatut das Recht
des Staates, in dem sich die Hauptverwaltung befindet.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
21 Cartesio wurde am 20. Mai 2004 in der Rechtsform einer „betéti társaság“
(Kommanditgesellschaft) ungarischen Rechts gegründet. Als ihr Sitz wurde
Baja (Ungarn) festgelegt. Sie wurde am 11. Juni 2004 ins Handelsregister
eingetragen.
22 Kommanditist – der nur zur Kapitaleinlage verpflichtet ist − und
Komplementär − der unbeschränkt für die Schulden der Gesellschaft haftet −
der Gesellschaft sind zwei natürliche Personen, die in Ungarn ansässig sind
und die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen. Die Gesellschaft ist u. a.
in den Bereichen Humanressourcen, Sekretariat, Übersetzung, Unterricht und
Bildung tätig.
23 Am 11. November 2005 stellte Cartesio beim Bács-Kiskun Megyei Bíróság
(Bezirksgericht Bács-Kiskun) als Cégbíróság (Handelsregistergericht) einen
Antrag, die Verlegung ihres Sitzes nach Gallarate (Italien) zu bestätigen
und die Sitzangabe im Handelsregister entsprechend zu ändern.
24 Mit Entscheidung vom 24. Januar 2006 wurde dieser Antrag mit der
Begründung abgelehnt, dass eine in Ungarn gegründete Gesellschaft nach
geltendem ungarischem Recht ihren Sitz nicht unter Beibehaltung des
ungarischen Personalstatuts ins Ausland verlegen könne.
25 Cartesio hat gegen diese Entscheidung Berufung beim Szegedi Ítélőtábla
(Regionalgericht Szeged) eingelegt.
26 Unter Bezugnahme auf das Urteil vom 13. Dezember 2005, SEVIC Systems
(C‑411/03, Slg. 2005, I‑10805), machte Cartesio vor dem vorlegenden Gericht
geltend, dass das ungarische Gesetz insoweit, als es Handelsgesellschaften
unterschiedlich behandele, je nachdem, in welchem Mitgliedstaat sich ihr
Sitz befinde, gegen die Art. 43 EG und 48 EG verstoße. Aus diesen Artikeln
ergebe sich, dass das ungarische Gesetz den ungarischen Gesellschaften nicht
vorschreiben könne, Ungarn als Sitzland zu wählen.
...
34 Zum Kern des Ausgangsverfahrens führt das vorlegende Gericht unter
Bezugnahme auf das Urteil vom 27. September 1988, Daily Mail and General
Trust (81/87, Slg. 1988, 5483), aus, dass die in den Art. 43 EG und 48 EG
vorgesehene Niederlassungsfreiheit einer Gesellschaft, die nach dem Recht
eines Mitgliedstaats gegründet ist und in diesem eingetragen ist, nicht das
Recht gewähre, ihre Hauptverwaltung und damit ihre Hauptniederlassung in
einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und dabei ihre Rechtspersönlichkeit
und ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit zu behalten, wenn sich die
zuständigen Behörden dem widersetzten.
35 Der Gerichtshof, so das vorlegende Gericht, könnte diesen Grundsatz
jedoch in seiner späteren Rechtsprechung modifiziert haben.
36 In diesem Zusammenhang weist es auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs
hin, wonach Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften
alle Maßnahmen sind, die die Ausübung dieser Freiheit verbieten, behindern
oder weniger attraktiv machen, und bezieht sich dabei insbesondere auf das
Urteil vom 5. Oktober 2004, CaixaBank France (C‑442/02, Slg. 2004, I‑8961,
Randnrn. 11 und 12).
37 Außerdem habe der Gerichtshof im Urteil SEVIC Systems entschieden, dass
die Art. 43 EG und 48 EG dem entgegenstünden, dass in einem Mitgliedstaat
die Eintragung einer Verschmelzung durch Auflösung ohne Abwicklung einer
Gesellschaft und durch Übertragung ihres Vermögens als Ganzes auf eine
andere Gesellschaft in das nationale Handelsregister generell verweigert
werde, wenn eine der beiden Gesellschaften ihren Sitz in einem anderen
Mitgliedstaat habe, während eine solche Eintragung, sofern bestimmte
Voraussetzungen erfüllt seien, möglich sei, wenn beide an der Verschmelzung
beteiligten Gesellschaften ihren Sitz im erstgenannten Mitgliedstaat hätten.
38 Es sei ferner ein in der Rechtsprechung des Gerichtshofs fest verankerter
Grundsatz, dass die nationalen Rechtsordnungen die Gesellschaften nicht
unterschiedlich behandeln dürften, je nach der Staatsangehörigkeit
desjenigen, der ihre Eintragung in das Handelsregister beantrage.
39 Schließlich sähen die Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates vom 25. Juli
1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen
Interessenvereinigung (EWIV) (ABl. L 199, S. 1) und die Verordnung (EG) Nr.
2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen
Gesellschaft (SE) (ABl. L 294, S. 1) für die mit ihnen geschaffenen Arten
von Gemeinschaftsunternehmen flexiblere und weniger kostenträchtige
Bestimmungen vor, die es ihnen erlaubten, ihren Sitz oder ihre Niederlassung
ohne vorherige Liquidation in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.
40 Da das Szegedi Ítélőtábla der Auffassung ist, dass das Ergebnis des bei
ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts
abhängt, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof
die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist ein Gericht des zweiten Rechtszugs, das über ein Rechtsmittel gegen
den Beschluss eines mit der Führung des Handelsregisters betrauten Gerichts
in einem Verfahren betreffend die Änderung von Registereintragungen zu
entscheiden hat, befugt, ein Vorabentscheidungsersuchen im Sinne von Art.
234 EG einzureichen, wenn weder das Verfahren, in dem der Beschluss des
erstinstanzlichen Gerichts ergeht, noch das Rechtsmittelverfahren streitigen
Charakter haben?
2. Falls das Gericht des zweiten Rechtszugs unter den Begriff des Gerichts
fällt, das nach Art. 234 EG zur Vorlage einer Vorabentscheidungsfrage befugt
ist, handelt es sich dann bei diesem Gericht um ein letztinstanzlich
entscheidendes Gericht, das gemäß Art. 234 EG bei Fragen nach der Auslegung
des Gemeinschaftsrechts verpflichtet ist, den Gerichtshof anzurufen?
3. Kann und darf die – unmittelbar aus Art. 234 EG abgeleitete – Befugnis
der ungarischen Gerichte zur Vorlage von Vorabentscheidungsfragen durch eine
einzelstaatliche Bestimmung eingeschränkt werden, aufgrund deren gegen einen
Vorlagebeschluss Rechtsmittel nach nationalen Rechtsvorschriften eingelegt
werden kann, wenn das mit dem Rechtsmittel befasste höhere nationale Gericht
diesen Beschluss abändern, das Vorabentscheidungsersuchen außer Kraft setzen
und das Gericht, das den Vorlagebeschluss erlassen hat, anweisen kann, das
ausgesetzte nationale Verfahren fortzusetzen?
4. a) Handelt es sich bei der Absicht einer in Ungarn nach ungarischem
Gesellschaftsrecht gegründeten und in das ungarische Handelsregister
eingetragenen Gesellschaft, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat der
Europäischen Union zu verlegen, um eine Frage, deren Regelung unter das
Gemeinschaftsrecht fällt, oder ist mangels Harmonisierung der
Rechtsvorschriften ausschließlich das nationale Recht anwendbar?
b) Kann sich eine ungarische Gesellschaft bei der Verlegung ihres Sitzes in
einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union unmittelbar auf das
Gemeinschaftsrecht (hier die Art. 43 EG und 48 EG) berufen? Wenn ja, kann
die Sitzverlegung – sei es durch den Herkunftsstaat, sei es durch den
Aufnahmestaat – von einer Bedingung oder einer Genehmigung abhängig gemacht
werden?
c) Sind die Art. 43 EG und 48 EG dahin auszulegen, dass eine nationale
Regelung oder Praxis mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, wonach
Handelsgesellschaften in Bezug auf die Ausübung ihrer Rechte unterschiedlich
behandelt werden, je nachdem, in welchem Mitgliedstaat sie ansässig sind?
d) Sind die Art. 43 EG und 48 EG dahin auszulegen, dass eine nationale
Regelung oder Praxis mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, wonach es
einer Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats verwehrt ist, ihren Sitz
in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu verlegen?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
41 Mit Schriftsatz, der am 9. September 2008 bei der Kanzlei des
Gerichtshofs eingegangen ist, hat Irland beantragt, der Gerichtshof möge
nach Art. 61 der Verfahrensordnung in Bezug auf die vierte Vorlagefrage die
Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung anordnen.
42 Diesen Antrag stützt Irland darauf, dass die Vorlageentscheidung, anders
als der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen meine, nicht dahin zu
verstehen sei, dass sich die vierte Frage auf die Verlegung des
Gesellschaftssitzes beziehe, der nach ungarischem Recht als Ort der
Hauptverwaltung und damit als tatsächlicher Sitz der Gesellschaft definiert
sei.
43 Aus der Vorlageentscheidung in der englischen Übersetzung gehe vielmehr
hervor, dass diese Frage die Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes betreffe.
44 Daher sei eine der tatsächlichen Prämissen, auf denen die Würdigung des
Generalanwalts beruhe, unrichtig.
45 Sollte sich der Gerichtshof jedoch auf diese Prämisse stützen wollen,
müsse er die mündliche Verhandlung wiedereröffnen, um den am vorliegenden
Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich auf der Grundlage dieser
Prämisse zu äußern.
46 Nach der Rechtsprechung kann der Gerichtshof gemäß Art. 61 seiner
Verfahrensordnung von Amts wegen, auf Vorschlag des Generalanwalts oder auf
Antrag der Parteien die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung anordnen,
wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder ein zwischen den
Parteien nicht erörtertes Vorbringen als entscheidungserheblich ansieht
(vgl. insbesondere Urteil vom 26. Juni 2008, Burda, C‑284/06, Slg. 2008,
I‑0000, Randnr. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Insoweit ist erstens festzustellen, dass sich der Vorlageentscheidung als
Ganzes entnehmen lässt, dass die vierte Frage nicht die Verlegung des
satzungsmäßigen Sitzes der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden
Gesellschaft, sondern die Verlegung ihres tatsächlichen Sitzes betrifft.
48 So ergibt sich, wie in der Vorlageentscheidung ausgeführt, aus den
ungarischen Rechtsvorschriften über die Eintragung von Gesellschaften, dass
der Sitz einer Gesellschaft im Sinne dieser Vorschriften als der Ort, an dem
sich die Hauptverwaltung befindet, definiert ist.
49 Darüber hinaus hat das vorlegende Gericht das Ausgangsverfahren in den
Kontext des dem Urteil Daily Mail and General Trust zugrunde liegenden
Falles gestellt, den es dahin gehend beschreibt, dass eine Gesellschaft, die
nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet und in diesem Mitgliedstaat
eingetragen ist, ihre Hauptverwaltung und damit ihre Hauptniederlassung
unter Beibehaltung ihrer Rechtspersönlichkeit und ihrer ursprünglichen
Staatsangehörigkeit in einen anderen Mitgliedstaat verlegen will, die
zuständigen Behörden sich dem jedoch widersetzen. Es stellt sich ihm
insbesondere die Frage, ob der in diesem Urteil aufgestellte Grundsatz, dass
die Art. 43 EG und 48 EG den Gesellschaften nicht das Recht auf eine solche
Verlegung ihrer Hauptverwaltung unter Beibehaltung ihrer
Rechtspersönlichkeit, wie sie ihnen im Staat ihrer Gründung verliehen wurde,
durch die spätere Rechtsprechung des Gerichtshofs modifiziert wurde.
50 Zweitens wurde Irland, wie auch die anderen Beteiligten, vom Gerichtshof
ausdrücklich dazu aufgefordert, in seinen mündlichen Ausführungen davon
auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren aufgeworfene Frage die Verlegung
des tatsächlichen Sitzes der betroffenen Gesellschaft, d. h. des Ortes, an
dem sich die Geschäftsleitung befindet, in einen anderen Mitgliedstaat
betrifft.
51 Zwar ist Irland in seinen Ausführungen dennoch davon ausgegangen, dass im
vorliegenden Fall die Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes einer
Gesellschaft in Rede steht, es hat aber, wenn auch nur kurz, seine
Auffassung zur Hypothese, dass das Ausgangsverfahren die Verlegung des
tatsächlichen Sitzes der Gesellschaft betrifft, dargelegt, die es im Übrigen
in seinem Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung wiederholt
hat.
52 Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof nach Anhörung des
Generalanwalts der Ansicht, dass er über alle erforderlichen Angaben
verfügt, um die Vorlagefragen beantworten zu können und dass die Rechtssache
nicht auf der Grundlage eines zwischen den Parteien nicht erörterten
Vorbringens entschieden werden muss.
53 Es besteht daher keine Veranlassung, die Wiedereröffnung der mündlichen
Verhandlung anzuordnen.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
......
Zur vierten Frage
99 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die
Art. 43 EG und 48 EG dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften
eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die es einer nach dem innerstaatlichen
Recht dieses Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft verwehren, ihren Sitz
in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und dabei ihre Eigenschaft als
Gesellschaft, die dem innerstaatlichen Recht des Mitgliedstaats unterliegt,
nach dessen Recht sie gegründet wurde, behält.
100 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass Cartesio, eine nach
ungarischem Recht gegründete Gesellschaft, die bei ihrer Gründung ihren Sitz
in Ungarn genommen hat, diesen nach Italien verlegt hat, dabei aber ihre
Eigenschaft als Gesellschaft ungarischen Rechts behalten möchte.
101 Nach dem Gesetz über die Handelsregistereintragung befindet sich der
Sitz einer Gesellschaft ungarischen Rechts an dem Ort, an dem sich die
Hauptverwaltung befindet.
102 Das vorlegende Gericht führt aus, dass der Antrag von Cartesio auf
Eintragung der Änderung ihres Sitzes im Handelsregister vom
Handelsregistergericht abgelehnt worden sei, weil eine in Ungarn gegründete
Gesellschaft nach ungarischem Recht nicht ihren Sitz, wie er in dem
genannten Gesetz definiert sei, ins Ausland verlegen und zugleich das
ungarische Recht als Personalstatut behalten könne.
103 Eine solche Verlegung erfordere, dass die Gesellschaft zunächst zu
bestehen aufhöre und dann nach dem Recht des Landes, in das der Sitz verlegt
werden solle, neu gegründet werde.
104 In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof in Randnr. 19 des Urteils
Daily Mail and General Trust ausgeführt, dass eine aufgrund einer nationalen
Rechtsordnung gegründete Gesellschaft jenseits der nationalen Rechtsordnung,
die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, keine Realität hat.
105 In Randnr. 20 des genannten Urteils hat der Gerichtshof ausgeführt, dass
hinsichtlich dessen, was für die Gründung einer Gesellschaft an Verknüpfung
mit dem nationalen Gebiet erforderlich ist, wie hinsichtlich der Möglichkeit
einer nach einem nationalen Recht gegründeten Gesellschaft, diese
Verknüpfung nachträglich zu ändern, erhebliche Unterschiede im Recht der
Mitgliedstaaten bestehen. In einigen Mitgliedstaaten muss nicht nur der
satzungsmäßige, sondern auch der wahre Sitz, also die Hauptverwaltung der
Gesellschaft, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats liegen; die
Verlegung der Geschäftsleitung aus diesem Gebiet hinaus setzt somit die
Liquidierung der Gesellschaft mit allen Folgen voraus, die eine solche
Liquidierung auf gesellschaftsrechtlichem Gebiet mit sich bringt. Andere
Mitgliedstaaten gestehen den Gesellschaften das Recht zu, ihre
Geschäftsleitung ins Ausland zu verlegen, aber einige beschränken dieses
Recht; die rechtlichen Folgen der Verlegung sind in jedem Mitgliedstaat
anders.
106 Der Gerichtshof hat in Randnr. 21 des Urteils Daily Mail and General
Trust weiter ausgeführt, dass der EWG-Vertrag diesen Unterschieden im
nationalen Recht Rechnung trägt. Bei der Definition der Gesellschaften,
denen die Niederlassungsfreiheit zugutekommt, in Art. 58 EWG-Vertrag
(zunächst Art. 58 EG‑Vertrag, jetzt Art. 48 EG) werden der satzungsmäßige
Sitz, die Hauptverwaltung und die Hauptniederlassung einer Gesellschaft als
Anknüpfung gleich geachtet.
107 Im Urteil vom 5. November 2002, Überseering
(C‑208/00, Slg. 2002, I‑9919, Randnr. 70), hat der Gerichtshof unter
Bestätigung dieser Erwägungen festgestellt, dass sich die Möglichkeit für
eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft, ihren
satzungsmäßigen Sitz oder ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen
anderen Mitgliedstaat zu verlegen, ohne die ihr durch die Rechtsordnung des
Gründungsmitgliedstaats zuerkannte Rechtspersönlichkeit zu verlieren, und
gegebenenfalls die Modalitäten dieser Verlegung nach den nationalen
Rechtsvorschriften beurteilen, nach denen diese Gesellschaft gegründet
worden ist. Er hat daraus den Schluss gezogen, dass ein Mitgliedstaat die
Möglichkeit hat, einer nach seiner Rechtsordnung gegründeten Gesellschaft
Beschränkungen hinsichtlich der Verlegung ihres tatsächlichen
Verwaltungssitzes aus seinem Hoheitsgebiet aufzuerlegen, damit sie die ihr
nach dem Recht dieses Staates zuerkannte Rechtspersönlichkeit beibehalten
kann.
108 Zu diesem Schluss ist der Gerichtshof auch auf der Grundlage des Art. 58
EWG-Vertrag gelangt. Denn bei der Definition der Gesellschaften, denen die
Niederlassungsfreiheit zugutekommt, in dieser Vorschrift betrachtet der
EWG-Vertrag die Unterschiede, die die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten
hinsichtlich der für ihre Gesellschaften erforderlichen Anknüpfung sowie der
Möglichkeit und gegebenenfalls der Modalitäten einer Verlegung des
satzungsmäßigen oder wahren Sitzes einer Gesellschaft nationalen Rechts von
einem Mitgliedstaat in einen anderen aufweisen, als Probleme, die durch die
Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit nicht gelöst sind, sondern
einer Lösung im Wege der Rechtsetzung oder des Vertragsschlusses bedürfen;
dazu ist es jedoch bisher noch nicht gekommen (vgl. in diesem Sinne Urteile
Daily Mail and General Trust, Randnrn. 21 bis 23, und Überseering, Randnr.
69).
109 In Ermangelung einer einheitlichen gemeinschaftsrechtlichen Definition
der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugutekommt, anhand
einer einheitlichen Anknüpfung, nach der sich das auf eine Gesellschaft
anwendbare Recht bestimmt, ist die Frage, ob Art. 43 EG auf eine
Gesellschaft anwendbar ist, die sich auf die dort verankerte
Niederlassungsfreiheit beruft, ebenso wie im Übrigen die Frage, ob eine
natürliche Person ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist und sich
aus diesem Grund auf diese Freiheit berufen kann, daher gemäß Art. 48 EG
eine Vorfrage, die beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nur nach
dem geltenden nationalem Recht beantwortet werden kann. Nur wenn die Prüfung
ergibt, dass dieser Gesellschaft in Anbetracht der in Art. 48 EG genannten
Voraussetzungen tatsächlich die Niederlassungsfreiheit zugutekommt, stellt
sich die Frage, ob sich die Gesellschaft einer Beschränkung dieser Freiheit
im Sinne des Art. 43 EG gegenübersieht.
110 Ein Mitgliedstaat kann somit sowohl die Anknüpfung bestimmen, die
eine Gesellschaft aufweisen muss, um als nach seinem innerstaatlichen Recht
gegründet angesehen werden und damit in den Genuss der
Niederlassungsfreiheit gelangen zu können, als auch die Anknüpfung, die für
den Erhalt dieser Eigenschaft verlangt wird. Diese Befugnis umfasst die
Möglichkeit für diesen Mitgliedstaat, es einer Gesellschaft seines
nationalen Rechts nicht zu gestatten, diese Eigenschaft zu behalten, wenn
sie sich durch die Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat
dort neu organisieren möchte und damit die Anknüpfung löst, die das
nationale Recht des Gründungsmitgliedstaats vorsieht.
111 Der Fall einer solchen Verlegung des Sitzes einer nach dem Recht eines
Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat ohne
Änderung des für sie maßgeblichen Rechts ist jedoch von dem Fall zu
unterscheiden, dass eine Gesellschaft aus einem Mitgliedstaat in einen
anderen Mitgliedstaat unter Änderung des anwendbaren nationalen Rechts
verlegt und dabei in eine dem nationalen Recht des zweiten Mitgliedstaats
unterliegende Gesellschaftsform umgewandelt wird.
112 Denn in diesem zweiten Fall kann die in Randnr. 110 des vorliegenden
Urteils angesprochene Befugnis – die keinesfalls irgendeine Immunität des
nationalen Rechts über die Gründung und Auflösung von Gesellschaften im
Hinblick auf die Vorschriften des EG-Vertrags über die
Niederlassungsfreiheit impliziert – insbesondere nicht rechtfertigen, dass
der Gründungsmitgliedstaat die Gesellschaft dadurch, dass er ihre Auflösung
und Liquidation verlangt, daran hindert, sich in eine Gesellschaft nach dem
nationalen Recht dieses anderen Mitgliedstaats umzuwandeln, soweit dies nach
diesem Recht möglich ist.
113 Ein solches Hemmnis für die tatsächliche Umwandlung, ohne vorherige
Auflösung und Liquidation, einer solchen Gesellschaft in eine Gesellschaft
des nationalen Rechts des Mitgliedstaats, in den sie sich begeben möchte,
stellt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit der betreffenden
Gesellschaft dar, die, wenn sie nicht zwingenden Gründen des
Allgemeininteresses entspricht, nach Art. 43 EG verboten ist (vgl. in diesem
Sinne insbesondere Urteil CaixaBank France, Randnrn. 11 und 17).
114 Darüber hinaus ist festzustellen, dass die in den Art. 44 Abs. 2 Buchst.
g EG und 293 EG vorgesehenen legislativen und vertraglichen Arbeiten im
Bereich des Gesellschaftsrechts seit den Urteilen Daily Mail and General
Trust und Überseering bisher nicht die in diesen Urteilen aufgezeigten
Unterschiede der nationalen Rechtsvorschriften betroffen haben, so dass
diese nach wie vor bestehen.
115 Die Kommission trägt jedoch vor, das vom Gerichtshof in Randnr. 23 des
Urteils Daily Mail and General Trust festgestellte Fehlen einer
entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Regelung sei durch
Gemeinschaftsvorschriften über die Sitzverlegung in einen anderen
Mitgliedstaat ausgeglichen worden, die in Verordnungen wie den Verordnungen
Nrn. 2137/85 und 2157/2001 über die EWIV bzw. die Europäische Gesellschaft
oder der Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 über das
Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE) (ABl. L 207, S. 1) sowie in den
nach diesen Verordnungen erlassenen ungarischen Rechtsvorschriften enthalten
seien.
116 Diese Regeln könnten, ja müssten entsprechende Anwendung auf die
grenzüberschreitende Verlegung des wahren Sitzes einer nach dem nationalen
Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft finden.
117 Hierzu ist festzustellen, dass diese auf der Grundlage von Art. 308 EG
erlassenen Verordnungen zwar tatsächlich eine Regelung enthalten, wonach die
mit ihnen eingeführten neuen Rechtsformen ihren satzungsmäßigen Sitz und
damit auch ihren wahren Sitz, die nämlich in demselben Mitgliedstaat gelegen
sein müssen, in einen anderen Mitgliedstaat verlegen können, ohne dass dies
zur Auflösung der ursprünglichen juristischen Person und zur Schaffung einer
neuen juristischen Person führt, dass eine solche Verlegung aber dennoch
zwangsläufig die Änderung des auf die betreffende Einheit anwendbaren
nationalen Rechts mit sich bringt.
118 Dies ergibt sich z. B. für eine Europäische Gesellschaft aus den Art. 7
bis 9 Abs. 1 Buchst. c Ziff. ii der Verordnung Nr. 2157/2001.
119 Im vorliegenden Fall möchte Cartesio jedoch nur ihren wahren Sitz von
Ungarn nach Italien verlegen und zugleich eine Gesellschaft ungarischen
Rechts bleiben, also ohne dass sich das anwendbare nationale Recht änderte.
120 Eine entsprechende Anwendung der von der Kommission angeführten
Gemeinschaftsvorschriften, selbst wenn sie im Fall der grenzüberschreitenden
Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft des nationalen Rechts eines
Mitgliedstaats geboten sein sollte, kann daher in einem Fall wie dem des
Ausgangsverfahrens jedenfalls nicht zu dem gewünschten Ergebnis führen.
121 Darüber hinaus ist zur Bedeutung des Urteils SEVIC Systems für den in
den Urteilen Daily Mail and General Trust und Überseering aufgestellten
Grundsatz festzustellen, dass diese Urteile nicht dasselbe Problem
behandeln, so dass nicht geltend gemacht werden kann, dass das erstgenannte
die Tragweite der beiden letztgenannten präzisiert habe.
122 Die Rechtssache SEVIC Systems betraf nämlich die Anerkennung – im
Mitgliedstaat der Gründung einer Gesellschaft – der Niederlassung dieser
Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat im Wege einer
grenzüberschreitenden Verschmelzung, eine Fallkonstellation, die sich
grundlegend von der der Rechtssache Daily Mail and General Trust
unterscheidet. Damit ähnelt der Fall, um den es in der Rechtssache SEVIC
Systems ging, anderen Urteilen des Gerichtshofs zugrunde liegenden Fällen
(vgl. Urteil vom 9. März 1999, Centros, C‑212/97, Slg. 1999, I‑1459, Urteil
Überseering, Urteil vom 30. September 2003, Inspire Art, C‑167/01, Slg.
2003, I‑10155).
123 In solchen Fällen stellt sich jedoch nicht die in Randnr. 109 des
vorliegenden Urteils angeführte Vorfrage, ob die betreffende Gesellschaft
als eine Gesellschaft anzusehen ist, die die Nationalität des Mitgliedstaats
hat, nach dessen Recht sie gegründet wurde, sondern vielmehr, ob sich diese
Gesellschaft, die unstreitig eine Gesellschaft des nationalen Rechts eines
Mitgliedstaats ist, in der Ausübung ihres Rechts auf Niederlassung in einem
anderen Mitgliedstaat einer Beschränkung gegenübersieht oder nicht.
124 Nach alledem ist auf die vierte Vorlagefrage zu antworten, dass die
Art. 43 EG und 48 EG beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts dahin
auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht
entgegenstehen, die es einer nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats
gegründeten Gesellschaft verwehren, ihren Sitz in einen anderen
Mitgliedstaat zu verlegen und dabei ihre Eigenschaft als Gesellschaft des
nationalen Rechts des Mitgliedstaats, nach dessen Recht sie gegründet wurde,
zu behalten.
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