Rechts- und Parteifähigkeit
ausländischer Gesellschaften - Sitztheorie oder Gründungstheorie?
("Überseering")
EuGH, Urt. v. 5.11.2002, Rs.
C-208/00 ("Überseering")
Fundstelle:
NJW 2002, 3614
S. auch
EuGH Urteil v.
9.3.1999, Rs. C-212/97 "Centros", Slg. I 1999, 1459 = NJW 1999, 2027
Zum Fortgang des Ausgangsverfahrens s.
BGH NJW 2003, 1461
Zur Zulässigkeit materiellrechtlicher Beschränkungen der
Niederlassungsfreiheit s. jetzt EuGH, Urt. v.
30.9.2003, Rs. C-167/01 ("Inspire Art").
S. auch BGH v. 14.3.2005 - II ZR 5/03.
Zur Geltung der Gründungstheorie im Verhältnis zu den EFTA-Staaten s.
BGH v. 19.9.2005 - II ZR 372/03. Zur
Geltung der Sitztheorie ggü. nicht EG-Staaten s.
BGH v. 27.10.2008 - II ZR 158/06.
Tenor:
1. Es verstößt gegen die Artikel 43 EG und 48 EG, wenn einer
Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet
sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach
dem Recht eines anderen Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die
Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit vor seinen nationalen Gerichten
für das Geltendmachen von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem
Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft abgesprochen wird.
2. Macht eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet
worden ist, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, in
einem anderen Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch, so ist
dieser andere Mitgliedstaat nach den Artikeln 43 EG und 48 EG verpflichtet,
die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten, die diese
Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungstaats besitzt.
- 1.
Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 30. März 2000, bei der Kanzlei
des Gerichtshofes eingegangen am 25. Mai 2000, gemäß Artikel 234 EG zwei
Fragen nach der Auslegung der Artikel 43 EG und 48 EG zur Vorabentscheidung
vorgelegt.
- 2.
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Überseering
BV (im Folgenden: Überseering), einer am 22. August 1990 in das
Handelsregister von Amsterdam und Haarlem eingetragenen Gesellschaft
niederländischen Rechts, und der Nordic Construction Company Baumanagement
GmbH (im Folgenden: NCC), einer Gesellschaft mit Sitz in Deutschland, über die
Beseitigung von Mängeln bei der Ausführung von Bauarbeiten in Deutschland, mit
der Überseering NCC beauftragt hatte.
Nationales Recht
- 3.
Nach der ZPO ist die Klage einer Partei, die nicht parteifähig ist, als
unzulässig abzuweisen. Nach § 50 Absatz 1 ZPO ist parteifähig, wer rechtsfähig
ist, d. h. die Fähigkeit besitzt, Träger von Rechten und Pflichten zu sein;
dies gilt auch für Gesellschaften.
- 4.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der die
herrschende Lehre in Deutschland folgt, beurteilt sich die Frage, ob eine
Gesellschaft rechtsfähig ist, im Gegensatz zur Gründungstheorie, nach der sich
die Rechtsfähigkeit nach dem Recht des Staates bestimmt, in dem die
Gesellschaft gegründet worden ist, nach demjenigen Recht, das am Ort ihres
tatsächlichen Verwaltungssitzes gilt (Sitztheorie).Dies gilt auch dann, wenn
eine Gesellschaft in einem anderen Staat wirksam gegründet worden ist und
anschließend ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in die Bundesrepublik
Deutschland verlegt.
- 5.
Eine solche Gesellschaft kann, soweit ihre Rechtsfähigkeit nach deutschem
Recht zu beurteilen ist, weder Träger von Rechten und Pflichten noch Partei in
einem Gerichtsverfahren sein, es sei denn, sie gründet sich in der
Bundesrepublik Deutschland in einer Weise neu, die zur Rechtsfähigkeit nach
deutschem Recht führt.
Ausgangsrechtsstreit
- 6.
Im Oktober 1990 erwarb Überseering ein Grundstück in Düsseldorf, das sie
gewerblich nutzte. Mit Generalübernehmervertrag vom 27. November 1992
beauftragte Überseering NCC mit der Sanierung eines Garagengebäudes und eines
Motels, die auf diesem Grundstück befinden. Die Leistungen sind erbracht,
Überseering macht aber Mängel der Malerarbeiten geltend.
- 7.
Im Dezember 1994 erwarben zwei in Düsseldorf wohnhafte deutsche
Staatsangehörige sämtliche Geschäftsanteile an Überseering.
- 8.
Nachdem Überseering NCC vergeblich aufgefordert hatte, die festgestellten
Mängel zu beseitigen, verklagte sie 1996 NCC aus dem zwischen beiden
bestehenden Generalübernehmervertrag beim Landgericht Düsseldorf auf Zahlung
von 1 163 657,77 DM zuzüglich Zinsen als Ersatz der Kosten der Beseitigung der
angeblichen Mängel und der Folgeschäden.
- 9.
Das Landgericht wies die Klage ab. Das Oberlandesgericht Düsseldorf wies
die Berufung zurück. Nach seinen Feststellungen hatte Überseering aufgrund des
Erwerbs ihrer Geschäftsanteile durch zwei deutsche Staatsangehörige ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz nach Düsseldorf verlegt. Es vertrat die Ansicht,
dass Überseering als Gesellschaft niederländischen Rechts in Deutschland nicht
rechtsfähig und demnach auch nicht parteifähig sei.
- 10.
Das Oberlandesgericht hielt die Klage von Überseering daher für
unzulässig.
- 11.
Überseering legte gegen dieses Urteil des Oberlandesgerichts Revision beim
Bundesgerichtshof ein.
- 12.
Aus den Erklärungen von Überseering ergibt sich ferner, dass sie parallel
zum derzeit beim Bundesgerichtshof anhängigen Verfahren nach nicht näher
bezeichneten sonstigen deutschen Rechtsvorschriften bei einem deutschen
Gericht verklagt wurde. So sei sie vom Landgericht Düsseldorf - wahrscheinlich
aufgrund ihrer Eintragung vom 11. September 1991 in das Grundbuch Düsseldorf
als Eigentümerin des Grundstücks, auf dem das Garagengebäude und das Motel
stünden, die NCC saniert habe, - verurteilt worden, Architektenhonorare zu
begleichen.
Vorlagefragen
- 13.
Der Bundesgerichtshof stellt fest, dass seine in den Randnummern 4 und 5
dieses Urteils dargelegte Rechtsprechung in unterschiedlicher Hinsicht von
einem Teil des deutschen Schrifttums abgelehnt werde, hält es aber aus
verschiedenen Gründen für vorzugswürdig, beim derzeitigen Stand des
Gemeinschaftsrechts und des Gesellschaftsrechts innerhalb der Europäischen
Union daran festzuhalten.
- 14.
Zunächst seien alle Lösungsansätze abzulehnen, bei denen durch
Berücksichtigung unterschiedlicher Anknüpfungspunkte die Rechtsstellung einer
Gesellschaft nach mehreren Rechtsordnungen beurteilt werde. Solche
Lösungsansätze führten zu Rechtsunsicherheit, weil sich die Regelungsbereiche,
die verschiedenen Rechtsordnungen unterstellt werden sollten, nicht eindeutig
voneinander abgrenzen ließen.
- 15.
Ferner komme die Anknüpfung an den Ort der Gründung den Gründern der
Gesellschaft entgegen, die gleichzeitig mit dem Gründungsort die ihnen genehme
Rechtsordnung wählen könnten. Hierin liege die entscheidende Schwäche der
Gründungstheorie, die vernachlässige, dass die Gründung und Betätigung einer
Gesellschaft auch die Interessen dritter Personen und des Staates berührten,
in dem sich der tatsächliche Verwaltungssitz befinde, sofern dieser sich in
einem anderen Staat als demjenigen befinde, in dem die Gesellschaft gegründet
worden sei.
- 16.
Demgegenüber könne durch die Anknüpfung an den tatsächlichen
Verwaltungssitz verhindert werden, dass die gesellschaftsrechtlichen
Vorschriften des Staates des tatsächlichen Verwaltungssitzes, mit denen
bestimmte grundlegende Interessen geschützt werden sollten, durch eine
Gründung im Ausland umgangen würden. Im vorliegenden Fall wolle das deutsche
Recht u. a. die Interessen der Gläubiger der Gesellschaft schützen. Die
Rechtsvorschriften über die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH)
gewährten diesen Schutz durch detaillierte Regelungen über die Einzahlung und
Erhaltung des Gesellschaftskapitals. Schutzbedürftig seien weiter bei
Verbindungen von Unternehmen auch die abhängigen Gesellschaften und deren
Minderheitsgesellschafter; diesem Schutz dienten in Deutschland u. a. die
Regeln des Konzernrechts oder bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen
die Regeln zur Entschädigung und zur Abfindung der durch diese Verträge
benachteiligten Gesellschafter. Dem Schutz der von der Gesellschaft
beschäftigten Arbeitnehmer dienten schließlich die Vorschriften über die
Mitbestimmung. Vergleichbare Regelungen bestünden nicht in allen
Mitgliedstaaten.
- 17.
Für den Bundesgerichtshof stellt sich jedoch die Frage, ob bei der
grenzüberschreitenden Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes nicht die
in den Artikeln 43 EG und 48 EG garantierte Niederlassungsfreiheit der
Anknüpfung der Rechtsstellung der Gesellschaft an das Recht des
Mitgliedstaats, in dem sich ihr tatsächlicher Verwaltungssitz befindet,
entgegensteht. Die Beantwortung dieser Fragekann nach seiner Ansicht der
Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht eindeutig entnommen werden.
- 18.
In seinem Urteil vom 27. September 1988 in der Rechtssache 81/87 (Daily
Mailand General Trust, Slg. 1988, 5483) habe der
Gerichtshof ausgeführt, dass Gesellschaften von ihrer Niederlassungsfreiheit
durch Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften
sowie dadurch Gebrauch machen könnten, dass sie ihr Kapital vollständig auf
eine in einem anderen Mitgliedstaat neu gegründete Gesellschaft übertrügen;
auch habe er festgestellt, dass Gesellschaften im Gegensatz zu natürlichen
Personen jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre
Existenz regele, keine Realität hätten. Aus diesem Urteil gehe ferner hervor,
dass der EG-Vertrag die Unterschiedlichkeit der nationalen Kollisionsregeln
hingenommen und die Lösung der damit verbundenen Probleme zukünftiger
Rechtsetzung vorbehalten habe.
- 19.
Im Urteil vom 9. März 1999 in der Rechtssache C-212/97 (Centros, Slg.
1999, I-1459) habe der Gerichtshof die Weigerung einer dänischen Behörde
beanstandet, die Zweigniederlassung einer im Vereinigten Königreich wirksam
gegründeten Gesellschaft in das Handelsregister einzutragen. Der
Bundesgerichtshof weist jedoch darauf hin, dass diese Gesellschaft nicht ihren
Sitz verlegt habe, da sich von der Gründung an der satzungsmäßige Sitz im
Vereinigten Königreich und der tatsächliche Verwaltungssitz in Dänemark
befunden hätten.
- 20.
Der Bundesgerichtshof fragt sich angesichts des Urteils Centros, ob die
Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit bei einem
Sachverhalt wie im Ausgangsverfahren dann der Anwendung der Kollisionsregeln
entgegenstehen, die in dem Mitgliedstaat gelten, in dem sich der tatsächliche
Verwaltungssitz einer in einem anderen Mitgliedstaat wirksam gegründeten
Gesellschaft befindet, wenn diese Kollisionsregeln zur Folge haben, dass in
diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit der Gesellschaft und damit ihre
Parteifähigkeit zu dem Zweck, dort Ansprüche aus einem Vertrag geltend zu
machen, nicht anerkannt wird.
- 21.
Der Bundesgerichtshof hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem
Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind die Artikel 43 EG und 48 EG dahin auszulegen, dass es im
Widerspruch zur Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften steht, wenn die
Rechtsfähigkeit und die Parteifähigkeit einer Gesellschaft, die nach dem Recht
eines Mitgliedstaats wirksam gegründet worden ist, nach dem Recht des Staates
beurteilt werden, in den die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
verlegt hat, und wenn sich aus dessen Recht ergibt, dass sie vertraglich
begründete Ansprüche dort nicht mehr gerichtlich geltend machen kann?
2. Sollte der Gerichtshof diese Frage bejahen:
Gebietet es die Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften (Artikel 43 EG
und 48 EG), die Rechtsfähigkeit und die Parteifähigkeit nach dem Recht des
Gründungsstaats zu beurteilen?
Zur ersten Vorlagefrage
- 22.
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es gegen
die Artikel 43 EG und 48 EG verstößt, wenn einer Gesellschaft, die nach dem
Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen
Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
in diesen verlegt hat, dort die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit
vor den nationalen Gerichten für das Geltendmachen von Ansprüchen aus einem
Vertrag mit einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft abgesprochen
wird.
Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen
- 23.
Nach Ansicht von NCC sowie der deutschen, der spanischen und der
italienischen Regierung verstößt es nicht gegen die Bestimmungen des
EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit, wenn die Rechtsfähigkeit und die
Parteifähigkeit einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats wirksam gegründeten
Gesellschaft nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats, in den sie ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz verlegt haben soll, beurteilt werden und die
Gesellschaft gegebenenfalls in diesem anderen Mitgliedstaat Ansprüche aus
einem Vertrag mit einer dort ansässigen Gesellschaft nicht gerichtlich geltend
machen kann.
- 24.
Zum einen stützen sie sich auf Artikel 293 Absatz 3 EG, der bestimmt:
Soweit erforderlich, leiten die Mitgliedstaaten untereinander Verhandlungen
ein, um zugunsten ihrer Staatsangehörigen Folgendes sicherzustellen:
...
- die gegenseitige Anerkennung der Gesellschaften im Sinne des Artikels 48
Absatz 2, die Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit bei Verlegung des Sitzes
von einem Staat in einen anderen ...
- 25.
Nach Auffassung von NCC liegt Artikel 293 EG die von allen Mitgliedstaaten
getragene Erkenntnis zugrunde, dass eine in einem Mitgliedstaat gegründete
Gesellschaft bei Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat ihre
Rechtspersönlichkeit nicht ohne weiteres beibehält, sondern dass es hierzu
eines gesonderten - bisher nicht geschlossenen - Übereinkommens der
Mitgliedstaaten bedarf. Der Verlust der Rechtspersönlichkeit einer
Gesellschaft bei Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen
anderen Mitgliedstaat sei daher mit den Gemeinschaftsvorschriften über die
Niederlassungsfreiheit vereinbar. Die Weigerungeines Mitgliedstaats, die
ausländische Rechtspersönlichkeit einer in einem anderen Mitgliedstaat
gegründeten Gesellschaft anzuerkennen, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
in sein Hoheitsgebiet verlegt habe, stelle keine Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit dar, da diese Gesellschaft die Möglichkeit habe, sich
nach dem Recht dieses Mitgliedstaats neu zu gründen. Die
Niederlassungsfreiheit schütze allein das Recht, sich in diesem Mitgliedstaat
neu zu gründen oder Niederlassungen zu errichten.
- 26.
Nach Meinung der deutschen Regierung haben die Verfasser des EG-Vertrags
die Artikel 43 EG und 48 EG in voller Kenntnis der großen Unterschiede
zwischen den Gesellschaftsrechten der Mitgliedstaaten und mit der Absicht in
den Vertrag aufgenommen, die nationale Zuständigkeit und die Maßgeblichkeit
des nationalen Rechts fortbestehen zu lassen, solange keine Rechtsangleichung
erfolgt sei. Zwar gebe es zahlreiche auf der Grundlage des Artikels 44 EG
erlassene Harmonisierungsrichtlinien auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts;
für die Sitzverlegung stehe eine solche Richtlinie noch aus, und es sei auch
noch kein multilaterales Übereinkommen gemäß Artikel 293 EG auf diesem Gebiet
geschlossen worden. Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts seien die
Anwendung der Theorie des wahren oder tatsächlichen Verwaltungssitzes in
Deutschland und ihre Auswirkung auf die Anerkennung der Rechtsfähigkeit und
der Parteifähigkeit von Gesellschaften mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar.
- 27.
Auch nach Ansicht der italienischen Regierung zeigt die Tatsache, dass
Artikel 293 EG den Abschluss von Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten
vorsieht, um u. a. sicherzustellen, dass eine Gesellschaft bei Verlegung des
Sitzes von einem Staat in einen anderen ihre Rechtspersönlichkeit beibehält,
dass die Frage der Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit nach Verlegung des
Gesellschaftssitzes nicht durch die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts über
die Niederlassungsfreiheit geklärt worden ist.
- 28.
Die spanische Regierung weist darauf hin, dass das am 29. Februar 1968 in
Brüssel unterzeichnete Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von
Gesellschaften und juristischen Personen nie in Kraft getreten sei. Mangels
eines von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Artikels 293 EG
geschlossenen Übereinkommens bestehe daher keine Harmonisierung auf
Gemeinschaftsebene, die die Frage der Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit
einer Gesellschaft im Fall der Sitzverlegung entscheiden könnte. Die Artikel
43 EG und 48 EG enthielten nichts in dieser Hinsicht.
- 29.
Ferner machen NCC sowie die deutsche, die spanische und die italienische
Regierung geltend, ihre Analyse werde durch das genannte Urteil Daily Mailand General Trust gestützt, insbesondere durch
dessen Randnummern 23 und 24:
... der EWG-Vertrag [betrachtet] die Unterschiede, die die Rechtsordnungen
der Mitgliedstaaten hinsichtlich der für ihre Gesellschaften erforderlichen
Anknüpfung sowie der Möglichkeit und gegebenenfalls der Modalitäten einer
Verlegung des satzungsmäßigen oder wahren Sitzes einer Gesellschaft nationalen
Rechts von einemMitgliedstaat in einen anderen aufweisen, als Probleme, die
durch die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit nicht gelöst sind,
sondern einer Lösung im Wege der Rechtssetzung oder des Vertragsschlusses
bedürfen; eine solche wurde jedoch noch nicht gefunden.
Somit gewähren die Artikel 52 [EWG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43
EG)] und 58 EWG-Vertrag [jetzt Artikel 48 EG] den Gesellschaften nationalen
Rechts kein Recht, den Sitz ihrer Geschäftsleitung unter Bewahrung ihrer
Eigenschaft als Gesellschaften des Mitgliedstaats ihrer Gründung in einen
anderen Mitgliedstaat zu verlegen.
- 30.
Die deutsche Regierung ist der Ansicht, das Urteil
Daily Mailand
General Trust betreffe zwar die Beziehungen zwischen einer Gesellschaft und
dem Mitgliedstaat, nach dessen Recht sie gegründet worden sei, in dem Fall der
Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes dieser Gesellschaft in einen
anderen Mitgliedstaat; die Erwägungen des Gerichtshofes in diesem Urteil seien
aber auf die Frage nach den Beziehungen zwischen einer in einem Mitgliedstaat
wirksam gegründeten Gesellschaft und einem anderen Mitgliedstaat, in den sie
ihren tatsächlichen Verwaltungssitz verlege (dem Aufnahmestaat im Gegensatz
zum Staat der Gründung der Gesellschaft), übertragbar. Auf dieser Grundlage
trägt sie vor, wenn eine in einem ersten Mitgliedstaat wirksam gegründete
Gesellschaft von ihrem Niederlassungsrecht in einem anderen Mitgliedstaat
durch Abtretung aller ihrer Geschäftsanteile an Staatsangehörige dieses
Mitgliedstaats, in dem sie auch wohnten, Gebrauch mache, unterliege die Frage,
ob im Aufnahmestaat das nach den Kollisionsregeln anwendbare Recht diese
Gesellschaft fortbestehen lasse, nicht den Vorschriften über die
Niederlassungsfreiheit.
- 31.
Auch die italienische Regierung ist der Ansicht, dass sich aus dem Urteil
Daily Mailand General Trust ergebe, dass die Kriterien zur
Feststellung der Identität von Gesellschaften nicht von der Ausübung des in
den Artikeln 43 EG und 48 EG enthaltenen Niederlassungsrechts umfasst würden,
sondern in die Regelungsbefugnis der nationalen Rechtsordnungen fielen.
Folglich könne man sich nicht auf die Vorschriften über die
Niederlassungsfreiheit berufen, um die Anknüpfungspunkte zu harmonisieren;
deren Festlegung falle beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts
ausschließlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Sofern für
Gesellschaften Anknüpfungspunkte zu mehreren Staaten bestünden, müsse jede
nationale Rechtsordnung festlegen, wann eine Gesellschaft ihren Regelungen
unterliege.
- 32.
Für die spanische Regierung ist es nicht mit Artikel 48 EG unvereinbar,
dass eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft dort
ihren tatsächlichen Verwaltungssitz haben muss, um in einem anderen
Mitgliedstaat als Gesellschaft angesehen zu werden, die das
Niederlassungsrecht ausüben kann.
- 33.
Artikel 48 Absatz 1 EG stelle zwei Voraussetzungen dafür auf, dass die in
Absatz 2 dieses Artikels definierten Gesellschaften in gleicher Weise wie die
Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten das Niederlassungsrecht ausüben
könnten; sie müssen zumeinen nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats
gegründet worden sein und zum anderen ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre
Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben.
Die zweite Voraussetzung sei durch das am 18. Dezember 1961 in Brüssel
beschlossene Allgemeine Programm zur Aufhebung der Beschränkungen der
Niederlassungsfreiheit (ABl. 1962, Nr. 2, S. 36, im Folgenden: Allgemeines
Programm) geändert worden.
- 34.
Das Allgemeine Programm bestimme in seinem Abschnitt I Begünstigte:
durch die ... Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit
[werden] begünstigt:
...
- die Gesellschaften, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats
... gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder
ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft oder in einem überseeischen
Land oder Hoheitsgebiet haben,
im Hinblick auf die tatsächliche Niederlassung zur Ausübung einer
selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats;
...
- die oben genannten Gesellschaften; sollten diese Gesellschaften indessen
nur ihren satzungsmäßigen Sitz innerhalb der Gemeinschaft oder in einem
überseeischen Land oder Hoheitsgebiet haben, so muss ihre Tätigkeit in
tatsächlicher und dauerhafter Verbindung mit der Wirtschaft eines
Mitgliedstaats oder eines überseeischen Landes oder Hoheitsgebiets stehen;
diese Verbindung darf aber nicht von der Staatsangehörigkeit ... abhängig
gemacht werden;
im Hinblick auf die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder
Tochtergesellschaften im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats.
- 35.
Auch wenn das Allgemeine Programm die Anwendung des Kriteriums der
tatsächlichen und dauerhaften Verbindung nur dazu vorsehe, von der Freiheit,
eine Zweitniederlassung zu gründen, Gebrauch zu machen, so müsse ein solches
Kriterium auch für die Hauptniederlassung gelten, damit die für die Ausübung
des Niederlassungsrechts aufgestellten Anknüpfungsvoraussetzungen homogen
seien.
- 36.
Nach Ansicht von Überseering, der niederländischen Regierung und der
Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission und der
EFTA-Überwachungsbehörde verstößt es gegen Artikel 43 EG in Verbindung mit
Artikel 48 EG, wenn im Fall einer nach dem Recht eines ersten Mitgliedstaats
wirksam gegründeten Gesellschaft, von der nach dem Recht eines zweiten
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
in diesen zweiten Mitgliedstaat verlegt hat, die dortgeltenden
Kollisionsregeln vorsehen, dass die Rechtsfähigkeit und die Parteifähigkeit
dieser Gesellschaft nach dem Recht dieses Staates zu beurteilen sind. Dies sei
der Fall, wenn nach dem Recht des zweiten Mitgliedstaats dieser Gesellschaft
die Möglichkeit vorenthalten werde, Rechte aus einem Vertrag mit einer in
diesem Staat ansässigen Gesellschaft gerichtlich geltend zu machen. Sie tragen
hierfür Folgendes vor.
- 37.
Erstens macht die Kommission geltend, nach dem Wortlaut des Artikels 293
EG sei die Einleitung von Verhandlungen zur Beseitigung der Unterschiede
zwischen den nationalen Rechtsvorschriften über die Anerkennung ausländischer
Gesellschaften nur soweit erforderlich vorgesehen. Hätte im Jahr 1968 eine
einschlägige Rechtsprechung bestanden, wäre es nicht erforderlich gewesen, von
Artikel 293 EG Gebrauch zu machen. Dies erkläre die entscheidende Bedeutung,
die heute der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofes für die
Ermittlung des Inhalts und der Tragweite der in den Artikeln 43 EG und 48 EG
verankerten Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften zukomme.
- 38.
Zweitens vertreten Überseering, die Regierung des Vereinigten Königreichs,
die Kommission und die EFTA-Überwachungsbehörde die Ansicht, dass das Urteil
Daily Mailand General Trust in der vorliegenden Rechtssache
nicht einschlägig sei.
- 39.
Wie sich aus dem diesem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt ergebe, sei
zu prüfen gewesen, welche Rechtsfolgen im Mitgliedstaat der Gründung einer
Gesellschaft die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes dieser
Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat habe, so dass dieses Urteil nicht
als Grundlage für die Prüfung der Frage dienen könne, welche Rechtsfolgen eine
solche Verlegung im Aufnahmemitgliedstaat habe.
- 40.
Das Urteil Daily Mailand General Trust gelte nur für
die Beziehung zwischen dem Gründungsmitgliedstaat und der Gesellschaft, die
diesen Staat unter Wahrung der Rechtspersönlichkeit verlassen möchte, die ihr
nach dem Recht dieses Staates zuerkannt worden sei. Da Gesellschaften
Schöpfungen des nationalen Rechts seien, müssten sie weiterhin die nach dem
Recht ihres Gründungsstaats bestehenden Anforderungen beachten. Das Urteil
Daily Mailand General Trust erkenne somit das Recht des
Mitgliedstaats der Gründung einer Gesellschaft an, nach seinem internationalen
Privatrecht die Gründung und die rechtliche Existenz von Gesellschaften zu
regeln. Es entscheide dagegen nicht die Frage, ob eine nach dem Recht eines
Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft von einem anderen Mitgliedstaat
anerkannt werden müsse.
- 41.
Drittens ist nach Ansicht von Überseering, der Regierung des Vereinigten
Königreichs, der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde für die
Beantwortung der in der vorliegenden Rechtssache gestellten Frage nicht auf
das Urteil Daily Mailand General Trust, sondern auf das
Urteil Centros abzustellen. In dem diesem Urteil zugrunde liegenden
Ausgangsrechtsstreit sei es nämlich wie in der vorliegenden Rechtssache darum
gegangen, wie im Aufnahmemitgliedstaat eine Gesellschaft behandelt werde,
dienach dem Recht eines anderen Mitgliedstaaten gegründet worden sei und ihr
Niederlassungsrecht ausübe.
- 42.
Die Rechtssache Centros betreffe die Zweitniederlassung einer
Gesellschaft, der Centros Ltd, in Dänemark als Aufnahmemitgliedstaat, die
wirksam im Vereinigten Königreich gegründet worden sei, in dessen
Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz gehabt habe, ohne dort eine
wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben. Die Centros Ltd habe in Dänemark eine
Zweigniederlassung gründen wollen, um dort den wesentlichen Teil ihrer
wirtschaftlichen Tätigkeiten auszuüben. Die dänischen Behörden hätten die
Existenz dieser Gesellschaft nach englischem Recht nicht in Zweifel gezogen,
ihr aber das Recht, in Dänemark durch Gründung einer Zweigniederlassung von
ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen, verweigert, da festgestanden
habe, dass über diese Form der Zweitniederlassung die Anwendung der dänischen
Vorschriften über die Gründung von Gesellschaften, u. a. in Bezug auf die
Einzahlung eines Mindestkapitals, hätten umgangen werden sollen.
- 43.
Im Urteil Centros habe der Gerichtshof entschieden, dass ein Mitgliedstaat
(der Aufnahmestaat) hinnehmen müsse, dass eine wirksam in einem anderen
Mitgliedstaat gegründete Gesellschaft, die dort ihren satzungsmäßigen Sitz
habe, in seinem Hoheitsgebiet eine weitere Niederlassung eintragen lasse (im
gegebenen Fall eine Zweigniederlassung), von der aus sie ihre gesamte
Tätigkeit entfalten könne. Deswegen könne der Aufnahmemitgliedstaat einer
wirksam in einem anderen Mitgliedstaat gegründeten Gesellschaft nicht sein
eigenes materielles Gesellschaftsrecht, insbesondere die Vorschriften über das
Gesellschaftskapital, entgegenhalten. Nach Ansicht der Kommission muss es sich
ebenso verhalten, wenn sich der Aufnahmemitgliedstaat auf sein internationales
Gesellschaftsrecht beruft.
- 44.
Nach Auffassung der niederländischen Regierung stehen die Bestimmungen des
EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit nicht der Anwendung der
Sitztheorie als solcher entgegen. Dagegen stellten die Folgen, die das
deutsche Recht an das knüpften, was es als Verlegung des Sitzes einer
Gesellschaft nach Deutschland betrachte, die im Übrigen ihre
Rechtspersönlichkeit aufgrund ihrer Gründung in einem anderen Mitgliedstaat
besitze, eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, wenn sie dazu
führten, dass die Rechtspersönlichkeit dieser Gesellschaft nicht anerkannt
werde.
- 45.
Im EG-Vertrag stünden die drei Anknüpfungspunkte satzungsmäßiger Sitz,
tatsächlicher Verwaltungssitz (Hauptverwaltung) und Hauptniederlassung auf
gleicher Stufe. Im Vertrag finde sich kein Hinweis, dass der satzungsmäßige
Sitz und die Hauptverwaltung in ein und demselben Mitgliedstaat liegen
müssten, damit von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch gemacht werden könne.
Folglich stehe das Niederlassungsrecht auch einer Gesellschaft zu, deren
tatsächlicher Verwaltungssitz sich nicht mehr im Staat der Gründung dieser
Gesellschaft befinde. Es verstoße daher gegen die Bestimmungen des EG-Vertrags
über die Niederlassungsfreiheit, wenn sich ein Mitgliedstaat weigere, die
Rechtsfähigkeit einer in einem anderen Mitgliedstaat wirksam gegründeten
Gesellschaft anzuerkennen, die in seinem Hoheitsgebiet von ihrer Freiheit der
Zweitniederlassung Gebrauch mache.
- 46.
Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht geltend, die im
Ausgangsverfahren in Rede stehenden deutschen Regeln verstießen gegen die
Artikel 43 EG und 48 EG, da sie bewirkten, dass eine Gesellschaft wie
Überseering daran gehindert werde, ihre Tätigkeiten über eine Agentur oder
eine Zweigniederlassung in Deutschland auszuüben, wenn diese Agentur oder
diese Zweigniederlassung nach deutschem Recht als tatsächlicher
Verwaltungssitz der Gesellschaft betrachtet werde, denn sie führten zum
Verlust der Rechtsfähigkeit, ohne die eine Gesellschaft nicht funktionieren
könne.
- 47.
Die EFTA-Überwachungsbehörde weist ergänzend darauf hin, dass die
Niederlassungsfreiheit nicht nur das Recht auf Zweitniederlassung in einem
anderen Mitgliedstaat umfasse, sondern für eine Gesellschaft, die ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlege, auch das
Recht, ihre ursprüngliche Niederlassung in dem Mitgliedstaat beizubehalten, in
dem sie gegründet worden sei. Die deutschen Regeln, die im Ausgangsfall
maßgeblich seien, würden bewirken, dass die Niederlassungsfreiheit in eine
Niederlassungspflicht verwandelt würde, damit die Rechtsfähigkeit der
Gesellschaft und damit ihre Parteifähigkeit erhalten werde. Sie stellten daher
eine Beschränkung der im EG-Vertrag vorgesehenen Niederlassungsfreiheit dar.
Dieses Ergebnis bedeute nicht, dass die Mitgliedstaaten keinen
Anknüpfungspunkt zwischen einer Gesellschaft und ihrem Hoheitsgebiet schaffen
dürften; bei Ausübung dieser Befugnisse müssten sie aber den EG-Vertrag
beachten.
- 48.
Die niederländische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs
und die EFTA-Überwachungsbehörde heben außerdem den Umstand hervor, dass
Überseering ihren tatsächlichen Verwaltungssitz im Sinne des deutschen Rechts
nicht nach Deutschland habe verlegen wollen. Überseering trägt vor, dass sie
sich nicht in den Niederlanden habe auflösen wollen, um sich in Deutschland
neu zu gründen, und dass sie weiterhin als Gesellschaft mit beschränkter
Haftung nach niederländischem Recht (BV) existieren wolle. Es sei außerdem
widersprüchlich, dass das deutsche Recht sie als solche betrachte, wenn es
darum gehe, sie zur Zahlung von Architektenhonoraren zu verurteilen.
- 49.
Die niederländische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung geltend
gemacht, dass es sich nach niederländischem Recht in einer Situation wie im
Ausgangsverfahren um die Gründung einer Zweigniederlassung, also einer
Zweitniederlassung, handele. Es sei falsch, bei der Prüfung der vorliegenden
Rechtssache von der Prämisse auszugehen, dass es aufgrund der bloßen Abtretung
der Geschäftsanteile an in Deutschland wohnende deutsche Staatsangehörige zu
einer Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes von Überseering nach
Deutschland gekommen sei. Eine solche Analyse sei nämlich eine solche des
deutschen Privatrechts. Nichts deute darauf hin, dass Überseering die Absicht
gehabt habe, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach Deutschland zu verlegen.
Wenn so argumentiert werde, als handele es sich um eine Hauptniederlassung,
ziele dies darauf ab, dem Urteil Centros, in dem es um die sekundäre Form der
Niederlassung gegangen sei, die sich aus der Gründung einer Zweigniederlassung
ergebe, seine Bedeutung zu nehmen und zu versuchen, dievorliegende Rechtssache
mit der Rechtssache Daily Mailand General Trust gleichzusetzen.
- 50.
Die Regierung des Vereinigten Königreichs weist darauf hin, dass
Überseering in den Niederlanden wirksam gegründet worden sei, immer im
Handelsregister von Amsterdam und Haarlem als Gesellschaft niederländischen
Rechts eingetragen gewesen sei und nicht versucht habe, ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz nach Deutschland zu verlegen. Sie habe lediglich aufgrund
einer Eigentumsübertragung seit 1994 den Großteil ihrer Tätigkeiten in
Deutschland ausgeübt und dort bestimmte Versammlungen abgehalten. Sie müsse in
der Praxis also so angesehen werden, als habe sie in Deutschland über eine
Agentur oder Zweigniederlassung gehandelt. Diese Sachlage unterscheide sich
grundlegend von derjenigen, die der Rechtssache Daily Mailand
General Trust zugrunde gelegen habe, in der es um einen bewussten Versuch
gegangen sei, den Sitz einer Gesellschaft englischen Rechts und die Kontrolle
über die Gesellschaft aus dem Vereinigten Königreich in einen anderen
Mitgliedstaat zu verlegen und dabei zwar den Status einer im Vereinigten
Königreich wirksam gegründeten Gesellschaft beizubehalten, aber nicht den
steuerlichen Anforderungen unterworfen zu sein, die im Vereinigten Königreich
mit der Verlegung der Verwaltung einer Gesellschaft und der Kontrolle über sie
ins Ausland verbunden seien.
- 51.
Nach Auffassung der EFTA-Überwachungsbehörde zeigt sich darin, dass
Überseering aufgrund der offenbar ungebetenen Verlegung ihres tatsächlichen
Verwaltungssitzes nach Deutschland dort ihre Parteifähigkeit abgesprochen
werde, die Unsicherheit, die die Anwendung der unterschiedlichen
internationalen Privatrechte der Mitgliedstaaten für grenzüberschreitende
Geschäfte mit sich bringen kann. Da die Bestimmung des tatsächlichen
Verwaltungssitzes weitgehend auf der Grundlage von Tatsachen erfolge, sei es
immer möglich, dass unterschiedliche nationale Rechtssysteme, und in diesen
sogar verschiedene Gerichte, unterschiedlich beurteilten, was einen
tatsächlichen Verwaltungssitz darstelle. Außerdem werde es immer schwieriger,
den tatsächlichen Verwaltungssitz in einer globalisierten und
computerbeherrschten Wirtschaft zu bestimmen, in der die persönliche
Anwesenheit der Entscheidungsträger immer weniger erforderlich sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
Zur Anwendbarkeit der Bestimmungen des EG-Vertrags über die
Niederlassungsfreiheit
- 52.
Vorab ist entgegen der Ansicht von NCC sowie der deutschen, der spanischen
und der italienischen Regierung klarzustellen, dass im Fall einer
Gesellschaft, die wirksam in einem ersten Mitgliedstaat gegründet worden ist,
dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat und von der nach dem Recht eines zweiten
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie nach der Abtretung aller ihrer
Geschäftsanteile an Staatsangehörige dieses Staates, in dem diese auch wohnen,
ihren tatsächlichen Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, die Regeln, die der
zweite Mitgliedstaat auf diese Gesellschaft anwendet, beim gegenwärtigen Stand
des Gemeinschaftsrechts nicht aus dem Anwendungsbereich der
Gemeinschaftsvorschriften über die Niederlassungsfreiheit fallen.
- 53.
Insoweit ist erstens das auf Artikel 293 EG gestützte Vorbringen von NCC
sowie der deutschen, der spanischen und der italienischen Regierung
zurückzuweisen.
- 54.
Wie der Generalanwalt in Nummer 42 seiner Schlussanträge ausführt, stellt
Artikel 293 EG nämlich keinen Rechtsetzungsvorbehalt zugunsten der
Mitgliedstaaten dar. Diese Vorschrift fordert die Mitgliedstaaten zwar auf,
Verhandlungen einzuleiten, u. a. um die Lösung der Probleme zu erleichtern,
die sich aus der Unterschiedlichkeit der Rechtsvorschriften über die
gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und über die Aufrechterhaltung
ihrer Rechtspersönlichkeit bei grenzüberschreitender Sitzverlegung ergeben,
dies aber nur, soweit erforderlich, also für den Fall, dass die Bestimmungen
des EG-Vertrags nicht die Erreichung der Vertragsziele ermöglichen.
- 55.
Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Übereinkünfte, zu deren
Abschluss Artikel 293 EG anregt, genau wie die in Artikel 44 EG vorgesehenen
Harmonisierungsrichtlinien die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit
erleichtern können, das Gebrauchmachen von dieser Freiheit aber nicht vom
Abschluss solcher Übereinkünfte abhängen kann.
- 56.
Wie der Gerichtshof bereits bei anderer Gelegenheit ausgeführt hat,
umfasst die Niederlassungsfreiheit, die Artikel 43 EG den
Gemeinschaftsangehörigen zuerkennt, das Recht zur Aufnahme und Ausübung
selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie zur Errichtung von Unternehmen und zur
Ausübung der Unternehmertätigkeit nach den Bestimmungen, die im
Niederlassungsstaat für dessen eigene Angehörigen gelten. Außerdem stehen nach
dem Wortlaut des Artikels 48 EG für die Anwendung [der Bestimmungen des
EG-Vertrags über das Niederlassungsrecht] die nach den Rechtsvorschriften
eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen
Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der
Gemeinschaft haben, den natürlichen Personen gleich, die Angehörige der
Mitgliedstaaten sind.
- 57.
Hieraus folgt unmittelbar, dass diese Gesellschaften das Recht haben, ihre
Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, wobei ihr satzungsmäßiger
Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung, ebenso wie die
Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen, dazu dient, ihre Zugehörigkeit
zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zu bestimmen.
- 58.
Auf diese Prämissen hat der Gerichtshof seine Erwägungen im Urteil Centros
(Randnrn. 19 und 20) gestützt.
- 59.
Die Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit setzt zwingend die
Anerkennung dieser Gesellschaften durch alle Mitgliedstaaten voraus, in denen
sie sich niederlassen wollen.
- 60.
Es ist daher nicht erforderlich, dass die Mitgliedstaaten eine
Übereinkunft über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften schließen,
damit die Gesellschaften, diedie in Artikel 48 EG genannten Voraussetzungen
erfüllen, von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch machen können, die ihnen in
den seit Ablauf der Übergangszeit unmittelbar anwendbaren Artikeln 43 EG und
48 EG zuerkannt wird. Folglich kann kein Rechtfertigungsgrund für eine
Beschränkung der vollen Wirksamkeit dieser Artikel daraus hergeleitet werden,
dass bis heute keine Übereinkunft über die gegenseitige Anerkennung von
Gesellschaften auf der Grundlage des Artikels 293 EG geschlossen worden ist.
- 61.
Zweitens ist das Vorbringen zu prüfen, das sich auf das Urteil
Daily Mailand General Trust, das im Mittelpunkt der
Erörterungen vor dem Gerichtshof gestanden hat, stützt. Dieses Vorbringen ist
insoweit zu prüfen, als es darauf gerichtet ist, der dem Urteil Daily Mailand General Trust zugrunde liegenden Situation in
gewisser Weise die Sachlage gleichzusetzen, aus der das deutsche Recht den
Verlust der Rechtsfähigkeit und den Verlust der Parteifähigkeit einer nach dem
Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft ableitet.
- 62.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Urteil
Daily Mailand
General Trust die Beziehungen zwischen einer Gesellschaft und einem
Mitgliedstaat, nach dessen Recht sie gegründet worden ist, in dem Fall
betrifft, in dem die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz unter
Wahrung der ihr in ihrem Gründungsstaat zuerkannten Rechtspersönlichkeit in
einen anderen Mitgliedstaat verlegen wollte. Hingegen handelt es sich im
Ausgangsrechtsstreit um die Anerkennung einer nach dem Recht eines
Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft durch einen anderen Mitgliedstaat;
dabei wird einer solchen Gesellschaft in diesem Mitgliedstaat die
Rechtsfähigkeit abgesprochen, da er davon ausgeht, dass sie ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz in sein Hoheitsgebiet verlegt hat, ohne dass es
hierfür darauf ankäme, ob die Gesellschaft tatsächlich eine Sitzverlegung
vornehmen wollte.
- 63.
Wie sowohl die niederländische Regierung und die Regierung des Vereinigten
Königreichs als auch die Kommission und die EFTA-Überwachungsbehörde geltend
machen, hat Überseering nie die Absicht bekundet, ihren Sitz nach Deutschland
zu verlegen. Ihre rechtliche Existenz ist nach dem Recht ihres Gründungsstaats
durch die Abtretung ihrer sämtlichen Geschäftsanteile an in Deutschland
wohnende Personen nie in Frage gestellt worden. Insbesondere ist sie nicht
Gegenstand von Auflösungsmaßnahmen nach niederländischem Recht gewesen, nach
dem sie nie aufgehört hat, wirksam zu bestehen.
- 64.
Selbst wenn man den Ausgangsrechtsstreit so verstünde, als ginge es um die
grenzüberschreitende Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes, ist daher
die von NCC sowie der deutschen, der spanischen und der italienischen
Regierung vertretene Auslegung des Urteils Daily Mailand
General Trust unzutreffend.
- 65.
In der Rechtssache, in der dieses Urteil erging, wollte die
Daily Mailand General Trust PLC, eine nach dem Recht des
Vereinigten Königreich gegründete Gesellschaft, die dort sowohl ihren
satzungsmäßigen Sitz als auch ihren tatsächlichen Verwaltungssitz hatte,
Letzteren in einen anderen Mitgliedstaat verlegen, ohne
ihreRechtspersönlichkeit oder ihre Eigenschaft als Gesellschaft englischen
Rechts zu verlieren; die dafür erforderliche Genehmigung der zuständigen
britischen Behörden wurde ihr verweigert. Sie verklagte diese Behörden daher
beim High Court of Justice, Queen's Bench Division (Vereinigtes Königreich),
und machte geltend, dass die Artikel 52 und 58 des EWG-Vertrags ihr das Recht
zuerkennen würden, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz ohne vorherige
Genehmigung und ohne Verlust ihrer Rechtspersönlichkeit in einen anderen
Mitgliedstaat zu verlegen.
- 66.
Anders als im Ausgangsverfahren ging es somit in der Rechtssache, in der
das Urteil Daily Mailand General Trust erging, nicht
darum, wie ein Mitgliedstaat eine in einem anderen Mitgliedstaat wirksam
gegründete Gesellschaft zu behandeln hat, die im ersten Mitgliedstaat von
ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch macht.
- 67.
Im Zusammenhang mit der Frage des High Court of Justice, ob die
Bestimmungen des Vertrages über die Niederlassungsfreiheit einer Gesellschaft
das Recht zuerkennen, ihre Geschäftsleitung in einen anderen Mitgliedstaat zu
verlegen, erinnert der Gerichtshof in Randnummer 19 des Urteils Daily Mailand General Trust daran, dass eine aufgrund einer
nationalen Rechtsordnung gegründete Gesellschaft jenseits der nationalen
Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, keine Realität hat.
- 68.
In Randnummer 20 dieses Urteils unterstreicht der Gerichtshof die
Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsordnungen hinsichtlich dessen, was
für die Gründung einer Gesellschaft an Verknüpfung mit dem nationalen Gebiet
erforderlich ist, wie hinsichtlich der Möglichkeit einer nach einem nationalen
Recht gegründeten Gesellschaft, diese Verknüpfung nachträglich zu ändern.
- 69.
In Randnummer 23 dieses Urteils kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis,
dass der EG-Vertrag diese Unterschiede als Probleme betrachtet, die durch die
Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit nicht gelöst
sind, sondern einer Lösung im Wege der Rechtssetzung oder des
Vertragsschlusses bedürfen; eine solche war jedoch noch nicht gefunden worden.
- 70.
Dabei hat sich der Gerichtshof darauf beschränkt, festzustellen, dass sich
die Möglichkeit für eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete
Gesellschaft, ihren satzungsmäßigen Sitz oder ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, ohne die ihr durch
die Rechtsordnung des Gründungsmitgliedstaats zuerkannte Rechtspersönlichkeit
zu verlieren, und gegebenenfalls die Modalitäten dieser Verlegung nach den
nationalen Rechtsvorschriften beurteilen, nach denen diese Gesellschaft
gegründet worden ist. Er zog daraus den Schluss, dass ein Mitgliedstaat die
Möglichkeit hat, einer nach seiner Rechtsordnung gegründeten Gesellschaft
Beschränkungen hinsichtlich der Verlegung ihres tatsächlichen
Verwaltungssitzes aus seinem Hoheitsgebiet aufzuerlegen, damit sie die ihr
nach dem Recht dieses Staates zuerkannte Rechtspersönlichkeit beibehalten
kann.
- 71.
Der Gerichtshof hat sich dagegen nicht zu der Frage geäußert, ob in einem
Fall wie im Ausgangsverfahren, in dem von einer nach dem Recht eines
Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
in diesen verlegt hat, dieser andere Mitgliedstaat sich weigern darf, die
Rechtspersönlichkeit anzuerkennen, die ihr nach der Rechtsordnung ihres
Gründungsstaats zuerkannt wird.
- 72.
Ungeachtet des allgemein gehaltenen Wortlauts der Randnummer 23 des
Urteils
Daily
Mail and General Trust wollte der Gerichtshof den
Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit einräumen, die tatsächliche
Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit in ihrem Hoheitsgebiet durch in
anderen Mitgliedstaaten wirksam gegründete Gesellschaften, von denen sie
annehmen, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in ihr Hoheitsgebiet
verlegt haben, von der Beachtung ihres nationalen Gesellschaftsrechts abhängig
zu machen.
- 73.
Dem Urteil
Daily
Mail and General Trust kann daher nicht
entnommen werden, dass in dem Fall, dass eine Gesellschaft, die nach dem Recht
eines Mitgliedstaats gegründet worden ist und der dort Rechtspersönlichkeit
zuerkannt wird, von ihrer Niederlassungsfreiheit in einem anderen
Mitgliedstaat Gebrauch macht, die Frage der Anerkennung ihrer Rechtsfähigkeit
und ihrer Parteifähigkeit im Mitgliedstaat der Niederlassung nicht den
Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit unterliegt. Dies
gilt selbst dann, wenn von dieser Gesellschaft nach dem Recht des
Mitgliedstaats der Niederlassung angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz dorthin verlegt hat.
- 74.
Drittens ist das Vorbringen der spanischen Regierung zurückzuweisen, in
einer Situation wie im Ausgangsverfahren mache das Allgemeine Programm in
seinem Titel I die Inanspruchnahme der durch den EG-Vertrag garantierten
Niederlassungsfreiheit vom Bestehen einer tatsächlichen und dauerhaften
Verbindung mit der Wirtschaft eines Mitgliedstaats abhängig.
- 75.
Wie sich nämlich aus dem Wortlaut des Allgemeinen Programms ergibt,
verlangt dieses eine tatsächliche und dauerhafte Verbindung allein für den
Fall, dass die Gesellschaft nur ihren satzungsmäßigen Sitz innerhalb der
Gemeinschaft hat. Bei Überseering, die sowohl ihren satzungsmäßigen Sitz als
auch ihren tatsächlichen Verwaltungssitz innerhalb der Gemeinschaft hat,
verhält es sich unbestreitbar nicht so. Der Gerichtshof hat für diese
Fallkonstellation in Randnummer 19 des Urteils Centros festgestellt, dass
Artikel 58 EG-Vertrag die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten
Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre
Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, den natürlichen Personen
gleichstellt, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind.
- 76.
Nach alledem beruft sich Überseering zu Recht auf die
Niederlassungsfreiheit, um sich dagegen zur Wehr zu setzen, dass das deutsche
Recht sie nicht als parteifähige juristische Person ansieht.
- 77.
Ferner ist daran zu erinnern, dass der Erwerb von Geschäftsanteilen an
einer in einem Mitgliedstaat gegründeten und ansässigen Gesellschaft durch
eine oder mehrere natürliche Personen mit Wohnort in einem anderen
Mitgliedstaat grundsätzlich den Bestimmungen des EG-Vertrags über den freien
Kapitalverkehr unterliegt, wenn eine solche Beteiligung ihnen nicht einen
gewissen Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft verleiht und sie
deren Tätigkeiten nicht bestimmen können. Wenn dagegen der Erwerb sämtliche
Geschäftsanteile einer Gesellschaft mit satzungsmäßigem Sitz in einem anderen
Mitgliedstaat umfasst und eine solche Beteiligung einen gewissen Einfluss auf
die Entscheidungen der Gesellschaft verleiht und es diesen Personen
ermöglicht, deren Tätigkeiten zu bestimmen, sind die Bestimmungen des
EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit anwendbar (vgl. in diesem Sinne
Urteil vom 13. April 2000 in der Rechtssache C-251/98, Baars, Slg. 2000,
I-2787, Randnrn. 21 und 22).
Zum Vorliegen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
- 78.
Sodann ist zu prüfen, ob die Weigerung der deutschen Gerichte, einer nach
dem Recht eines anderen Mitgliedstaats wirksam gegründeten Gesellschaft die
Rechts- und Parteifähigkeit zuzuerkennen, eine Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit darstellt.
- 79.
In einer Situation wie im Ausgangsverfahren hat eine Gesellschaft, die
nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats als der Bundesrepublik Deutschland
wirksam gegründet worden ist und in diesem anderen Mitgliedstaat ihren
satzungsmäßigen Sitz hat, nach deutschem Recht keine andere Wahl, als sich in
Deutschland neu zu gründen, wenn sie vor einem deutschen Gericht Ansprüche aus
einem Vertrag mit einer Gesellschaft deutschen Rechts geltend machen möchte.
- 80.
Überseering, die in den Niederlanden wirksam gegründet worden ist und dort
ihren satzungsmäßigen Sitz hat, genießt aufgrund der Artikel 43 EG und 48 EG
das Recht, als Gesellschaft niederländischen Rechts in Deutschland von ihrer
Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen. Insoweit ist es unbeachtlich, dass
nach der Gründung dieser Gesellschaft deren gesamtes Kapital von in
Deutschland ansässigen deutschen Staatsangehörigen erworben wurde, denn dieser
Umstand hat offenbar nicht zum Verlust der Rechtspersönlichkeit geführt, die
ihr die niederländische Rechtsordnung zuerkennt.
- 81.
Ihre Existenz hängt sogar untrennbar mit ihrer Eigenschaft als
Gesellschaft niederländischen Rechts zusammen, da eine Gesellschaft, wie
bereits ausgeführt wurde, jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre
Gründung und ihre Existenz regelt, keine Realität hat (in diesem Sinne Urteil
Daily
Mail and General Trust, Randnr. 19). Das Erfordernis,
dieselbe Gesellschaft in Deutschland neu zu gründen, kommt daher der Negierung
der Niederlassungsfreiheit gleich.
- 82.
Unter diesen Umständen stellt es eine mit den Artikeln 43 EG und 48 EG
grundsätzlich nicht vereinbare Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar,
wenn ein Mitgliedstaat sich u. a. deshalb weigert, die Rechtsfähigkeit einer
Gesellschaft, die nach dem Rechteines anderen Mitgliedstaats gegründet worden
ist und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, anzuerkennen, weil die
Gesellschaft im Anschluss an den Erwerb sämtlicher Geschäftsanteile durch in
seinem Hoheitsgebiet wohnende eigene Staatsangehörigen, ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz in sein Hoheitsgebiet verlegt haben soll, mit der Folge, dass
die Gesellschaft im Aufnahmemitgliedstaat nicht zu dem Zweck parteifähig ist,
ihre Ansprüche aus einem Vertrag geltend zu machen, es sei denn, dass sie sich
nach dem Recht dieses Aufnahmestaats neu gründet.
Zur eventuellen Rechtfertigung der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
- 83.
Schließlich ist zu prüfen, ob eine solche Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit durch die sowohl vom vorlegenden Gericht als auch von
der deutschen Regierung angeführten Gründe gerechtfertigt sein kann.
- 84.
Die deutsche Regierung macht hilfsweise für den Fall, dass der Gerichtshof
die Anwendung der Sitztheorie als eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
ansehen sollte, geltend, dass diese Beschränkung ohne Diskriminierung
angewandt werde, durch zwingende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sei und
in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehe.
- 85.
Der nicht diskriminierende Charakter ergebe sich daraus, dass die sich aus
der Sitztheorie ergebenden Rechtsregeln nicht nur für ausländische
Gesellschaften gelten würden, die sich durch Verlegung ihres tatsächlichen
Verwaltungssitzes nach Deutschland dort niederließen, sondern auch für
Gesellschaften deutschen Rechts, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz aus
Deutschland heraus verlegten.
- 86.
Zu den zwingenden Gründen des Gemeinwohls, die zur Rechtfertigung der
angeblichen Beschränkung angeführt würden, sei zu bemerken, dass das
abgeleitete Gemeinschaftsrecht in anderen Bereichen voraussetze, dass der
Verwaltungssitz und der satzungsmäßige Sitz identisch seien. Das
Gemeinschaftsrecht habe somit grundsätzlich anerkannt, dass die Einheit von
satzungsmäßigem Sitz und Verwaltungssitz berechtigt sei.
- 87.
Die Regeln des deutschen internationalen Gesellschaftsrechts dienten der
Rechtssicherheit und dem Gläubigerschutz. Auf Gemeinschaftsebene seien die
Modalitäten des Schutzes des Gesellschaftskapitals von Gesellschaften mit
beschränkter Haftung nicht harmonisiert, und diese Gesellschaften unterlägen
in anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland zum Teil
wesentlich geringeren Anforderungen. Die im deutschen Recht angewandte
Sitztheorie stelle in diesem Zusammenhang sicher, dass eine Gesellschaft,
deren Tätigkeitsschwerpunkt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland liege,
mit einem bestimmten Mindestkapital ausgestattet sei, was zur Sicherung ihrer
Vertragspartner und Gläubiger beitrage. Außerdem würden damit
Wettbewerbsverzerrungen verhindert, da alle schwerpunktmäßig in Deutschland
tätigen Gesellschaften gleichen rechtlichen Rahmenbedingung unterworfen
würden.
- 88.
Eine weitere Rechtfertigung stelle der Schutz der
Minderheitsgesellschafter dar. Mangels eines Gemeinschaftsstandards für diesen
Schutz müsse es einem Mitgliedstaat möglich sein, bei allen Gesellschaften,
deren Tätigkeitsschwerpunkt in seinem Hoheitsgebiet liege, die gleichen
rechtlichen Rahmenbedingungen für den Schutz von Minderheitsgesellschaftern
durchzusetzen.
- 89.
Auch der Arbeitnehmerschutz durch die Mitbestimmung im Unternehmen gemäß
den gesetzlich festgelegten Bedingungen rechtfertige die Anwendung der
Sitztheorie. Die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer nach dem
Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft nach Deutschland
könnte, wenn die Gesellschaft ihre Eigenschaft als Gesellschaft dieses Rechts
bewahren würde, die Gefahr einer Umgehung der deutschen
Mitbestimmungsvorschriften mit sich bringen, die es den Arbeitnehmern unter
bestimmten Voraussetzungen ermöglichten, im Aufsichtsrat der Gesellschaft
vertreten zu sein. Ein solches Organ gebe es bei den Gesellschaften der
anderen Mitgliedstaaten nicht immer.
- 90.
Schließlich rechtfertigten die Fiskalinteressen die Beschränkung, die sich
eventuell aus der Anwendung der Sitztheorie ergebe. Die Gründungstheorie
ermögliche in größerem Umfang als die Sitztheorie die Gründung von
Gesellschaften mit doppelter Ansässigkeit, die deshalb in zwei oder mehr
Mitgliedstaaten unbeschränkt steuerpflichtig seien. Bei solchen Gesellschaften
bestehe die Gefahr, dass sie in mehreren Mitgliedstaten parallel
Steuervorteile beanspruchten und erlangten. Als Beispiel sei die
grenzüberschreitende Verrechnung von Verlusten auf Gewinne zwischen
verbundenen Unternehmen zu nennen.
- 91.
Nach Ansicht der niederländischen Regierung und der Regierung des
Vereinigten Königreichs, der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde ist
die fragliche Beschränkung nicht gerechtfertigt. Das Ziel des
Gläubigerschutzes sei auch von den dänischen Behörden in der Rechtssache
Centros angeführt worden, um die Weigerung zu rechtfertigen, in Dänemark die
Zweigniederlassung einer Gesellschaft einzutragen, die im Vereinigten
Königreich wirksam gegründet worden sei und deren sämtliche Tätigkeiten in
Dänemark hätten ausgeübt werden sollen, ohne die Anforderungen des dänischen
Rechts in Bezug auf die Gründung und die Einzahlung eines
Mindestgesellschaftskapitals zu erfüllen. Es sei außerdem zweifelhaft, dass
die Anforderungen hinsichtlich eines Mindestgesellschaftskapitals ein
wirksames Mittel zum Schutz von Gläubigern darstellten.
- 92.
Es lässt sich nicht ausschließen, dass zwingende Gründe des Gemeinwohls,
wie der Schutz der Interessen der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter,
der Arbeitnehmer oder auch des Fiskus, unter bestimmten Umständen und unter
Beachtung bestimmter Voraussetzungen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit
rechtfertigen können.
- 93.
Solche Ziele können es jedoch nicht rechtfertigen, dass einer
Gesellschaft, die in einem anderen Mitgliedstaat ordnungsgemäß gegründet
worden ist und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, die Rechtsfähigkeit und
damit die Parteifähigkeitabgesprochen wird. Eine solche Maßnahme kommt nämlich
der Negierung der den Gesellschaften in den Artikeln 43 EG und 48 EG
zuerkannten Niederlassungsfreiheit gleich.
- 94.
Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass es gegen die Artikel 43
EG und 48 EG verstößt, wenn einer Gesellschaft, die nach dem Recht des
Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat,
gegründet worden ist und von der nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats
angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz dorthin verlegt
hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit
vor seinen nationalen Gerichten für das Geltendmachen von Ansprüchen aus einem
Vertrag mit einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft abgesprochen
wird.
Zur zweiten Vorlagefrage
- 95.
Aus der Antwort auf die erste Vorlagefrage folgt, dass in dem Fall, dass
eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet worden ist,
in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, in einem anderen
Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch macht, dieser andere
Mitgliedstaat nach den Artikeln 43 EG und 48 EG verpflichtet ist, die
Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten, die diese
Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungstaats besitzt.
Kosten
- 96.
Die Auslagen der deutschen, der spanischen, der italienischen und der
niederländischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie
der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde, die vor dem Gerichtshof
Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des
Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher
Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 30. März 2000
vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Es verstößt gegen die Artikel 43 EG und 48 EG, wenn einer
Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet
sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach
demRecht eines anderen Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die
Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit vor seinen nationalen Gerichten
für das Geltendmachen von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem
Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft abgesprochen wird.
2. Macht eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet
worden ist, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, in
einem anderen Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch, so ist
dieser andere Mitgliedstaat nach den Artikeln 43 EG und 48 EG verpflichtet,
die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten, die diese
Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungstaats besitzt.
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