IPR und Europarecht: Sitztheorie im
Internationalen Gesellschaftsrecht und Niederlassungsfreiheit des EG-Vertrags
(Art. 43 EGV, ex-Art. 52 EGV)
EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97
Fundstellen:
Slg. I 1999, 1459
NJW 1999, 2027
LM H. 1 / 2000 EG-Vertrag Nr. 17a
EuZW 1999, 216
EuGRZ 1999, 469
EuR 1999, 274
EWS 1999, 140
GewA 1999, 375
GmbHR 1999, 474
IPRax 1999, 361
IStR 1999, 253
JZ 1999, 669
Aus der reichhaltigen Literatur zu diesem Urteil s. nur Kindler NJW 1999, 1993
sowie den Überblick über den Meinungsstand bei Thorn IPRax 2001, 102 ff.
S. jetzt auch EuGH, Urt. v.
5.11.2002 Rs. C-208/000 "Überseering", NJW 2002, 3614.
Zur Zulässigkeit materiellrechtlicher Beschränkungen der
Niederlassungsfreiheit s. jetzt EuGH, Urt. v.
30.9.2003, Rs. C-167/01 (Inspire Art). Zur Geltung der Sitztheorie ggü.
nicht EG-Staaten s. BGH v. 27.10.2008 - II
ZR 158/06.
Urteilstenor:
Ein Mitgliedstaat, der die Eintragung der Zweigniederlassung einer
Gesellschaft verweigert, die in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren
Sitz hat, rechtmäßig errichtet worden ist, aber keine Geschäftstätigkeit
entfaltet, verstößt gegen die Artikel 52 und 58 EG-Vertrag, wenn die
Zweigniederlassung es der Gesellschaft ermöglichen soll, ihre gesamte
Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in dem diese Zweigniederlassung
errichtet wird, ohne dort eine Gesellschaft zu errichten und damit das dortige
Recht über die Errichtung von Gesellschaften zu umgehen, das höhere
Anforderungen an die Einzahlung des Mindestgesellschaftskapitals stellt. Diese
Auslegung schließt jedoch nicht aus, daß die Behörden des betreffenden
Mitgliedstaats alle geeigneten Maßnahmen treffen können, um Betrügereien zu
verhindern oder zu verfolgen. Das gilt sowohl - gegebenenfalls im
Zusammenwirken mit dem Mitgliedstaat, in dem sie errichtet wurde - gegenüber
der Gesellschaft selbst als auch gegenüber den Gesellschaftern, wenn diese
sich mittels der Errichtung der Gesellschaft ihren Verpflichtungen gegenüber
inländischen privaten oder öffentlichen Gläubigern entziehen möchten.
Aus den Gründen:
1.
Das Højesteret hat mit Beschluß vom 3. Juni 1997, beim Gerichtshof
eingegangen am 5. Juni 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der
Auslegung der Artikel 52, 56 und 58 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung
vorgelegt.
2.
Diese Frage stellt sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Centros
Ltd (nachstehend: Centros), einer am 18. Mai 1992 in England und Wales
eingetragenen private limited company, und der dem dänischen
Handelsministerium unterstehenden Erhvervs- og Selskabsstyrelse
(Zentralverwaltung für Handel und Gesellschaften) wegen deren Weigerungen,
eine Zweigniederlassung von Centros in Dänemark einzutragen.
3.
Aus den Akten ergibt sich, daß die Centros seit ihrer Errichtung keine
Geschäftstätigkeit entfaltet hat. Da das Recht des Vereinigten Königreichs bei
Gesellschaften mit beschränkter Haftung die Einzahlung eines
Mindestgesellschaftskapitals nicht vorschreibt, wurde das Gesellschaftskapital
der Centros von 100 UKL weder in die Gesellschaft einbezahlt noch zu deren
Verwendung individualisiert. Das Kapital zerfällt in zwei Anteile, deren
Eigentümer die Eheleute Bryde, in Dänemark ansässige dänische
Staatsangehörige, sind. Frau Bryde ist Direktorin der Centros, deren Sitz sich
im Vereinigten Königreich, an der Adresse eines Freundes von Herrn Bryde,
befindet.
4.
Nach dänischem Recht ist die Centros als private limited company als eine
ausländische Gesellschaft mit beschränkter Haftung anzusehen. Die Vorschriften
über die Anmeldung von Zweigniederlassungen solcher Gesellschaften finden sich
im Anpartsselskabslov (Gesetz über die Gesellschaften mit beschränkter
Haftung; GmbH-Gesetz).
5.
In § 117 dieses Gesetzes ist u. a. vorgesehen:
1) Die Gesellschaften mit beschränkter Haftung und die ausländischen
Gesellschaften gleicher Rechtsform, die in einem Mitgliedstaat der
Europäischen Gemeinschaften niedergelassen sind, können in Dänemark über eine
Zweigniederlassung tätig werden.
6.
Im Sommer 1992 beantragte Frau Bryde bei der Zentralverwaltung die
Eintragung einer Zweigniederlassung von Centros in Dänemark.
7.
Die Zentralverwaltung lehnte die Eintragung u. a. mit der Begründung ab,
die Centros, die seit ihrer Errichtung keine Geschäftstätigkeit im Vereinigten
Königreich entfaltet habe, beabsichtige unter Umgehung der nationalen
Vorschriften insbesondere über die Einzahlung eines
Mindestgesellschaftskapitals von 200 000 DKR gemäß dem Gesetz Nr. 886 vom 21.
Dezember 1991 in Wirklichkeit, in Dänemark nicht eine Zweigniederlassung,
sondern einen Hauptsitz zu errichten.
8.
Die Centros erhob gegen den ablehnenden Bescheid Klage beim Østre
Landsret.
9.
Der Østre Landsret folgte in einem Urteil vom 8. September 1995 dem
Vorbringen der Zentralverwaltung. Die Centros legte ein Rechtsmittel beim
Højesteret ein.
10.
Im Rahmen dieses Verfahrens macht die Centros geltend, sie erfülle die
Voraussetzungen, von deren Erfüllung das GmbH-Gesetz die Eintragung der
Zweigniederlassung einer ausländischen Gesellschaft abhängig mache. Da sie im
Vereinigten Königreich rechtmäßig errichtet worden sei, habe sie nach Artikel
52 in Verbindung mit Artikel 58 EG-Vertrag das Recht, eine Zweigniederlassung
in Dänemark zu eröffnen.
11.
Daß sie seit ihrer Errichtung im Vereinigten Königreich keine
Geschäftstätigkeit entfaltet habe, berühre ihre Niederlassungsfreiheit nicht.
Der Gerichtshof habe nämlich im Urteil vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache
79/85 (Segers, Slg. 1986, 2375) festgestellt, daß es gegen die Artikel 52 und
58 EG-Vertrag verstoße, wenn die zuständigen Stellen eines Mitgliedstaats dem
Geschäftsführer einer Gesellschaft den Anschluß an ein nationales
Krankenversicherungssystem nur aus dem Grund verweigerten, daß die
Gesellschaft ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat habe, auch wenn sie
dort keine Geschäftstätigkeiten entfalte.
12.
Die Zentralverwaltung macht geltend, die Verweigerung der Eintragung stehe
im Einklang mit den Artikeln 52 und 58 EG-Vertrag, da die Anmeldung einer
Zweigniederlassung in Dänemark als eine Umgehung des im nationalen Recht
vorgesehenen Mindesteinlagenerfordernisses anzusehen sei. Die Verweigerung der
Eintragung sei außerdem erforderlich, um die öffentlichen und privaten
Gläubiger und die Vertragspartner zu schützen und den betrügerischen Bankrott
zu bekämpfen.
13.
Das Højesteret hat demgemäß das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof
folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist es mit Artikel 52 in Verbindung mit den Artikeln 56 und 58 EG-Vertrag
vereinbar, die Eintragung einer Zweigniederlassung einer Gesellschaft, die
ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat und mit einem
Gesellschaftskapital von 100 UKL (etwa 1 000 DKR) nach dem Recht dieses
Mitgliedstaats rechtmäßig errichtet worden ist und besteht, abzulehnen, wenn
die Gesellschaft selbst keine Geschäftstätigkeit betreibt, die
Zweigniederlassung aber in der Absicht errichtet wird, die gesamte
Geschäftstätigkeit in dem Land zu betreiben, in dem die Zweigniederlassung
errichtet wird, und wenn davon auszugehen ist, daß dieses Vorgehen statt der
Errichtung einer Gesellschaft in dem letztgenannten Mitgliedstaat gewählt
wurde, um die Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals von 200 000 DKR,
heute 125 000 DKR, zu vermeiden?
14.
Die Frage des nationalen Gerichts geht dahin, ob ein Mitgliedstaat, der
die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert, die in
einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, rechtmäßig errichtet
worden ist, aber keine Gesellschaftstätigkeit entfaltet, gegen die Artikel 52
und 58 EG-Vertrag verstößt,wenn die Zweigniederlassung es der Gesellschaft
ermöglichen soll, ihre gesamte Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in
dem diese Zweigniederlassung errichtet wird, ohne dort eine Gesellschaft zu
errichten, und damit das dortige Recht über die Errichtung von Gesellschaften
zu umgehen, das höhere Anforderungen an die Einzahlung des
Mindestgesellschaftskapitals stellt.
15.
Die Zentralverwaltung bestreitet nicht, daß jede Aktiengesellschaft oder
Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die ihren Sitz in einem anderen
Mitgliedstaat hat, in Dänemark mittels einer Zweigniederlassung tätig werden
kann. Im allgemeinen akzeptiert sie also die Eintragung einer
Zweigniederlassung einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats
errichteten Gesellschaft in Dänemark. Insbesondere hätte sie die Eintragung
der Zweigniederlassung der Centros in Dänemark zugelassen, wenn diese in
England und Wales eine Geschäftstätigkeit entfaltet hätte.
16.
Nach den Ausführungen der dänischen Regierung ist Artikel 52 EG-Vertrag im
Ausgangsfall nicht anwendbar, da es sich um eine rein interne dänische
Situation handele. Die Eheleute Bryde, die dänische Staatsangehörige seien,
hätten nämlich im Vereinigten Königreich eine Gesellschaft errichtet, ohne
dort irgendeine tatsächliche Geschäftstätigkeit zu entfalten, mit dem einzigen
Ziel, mittels einer Zweigniederlassung in Dänemark eine Geschäftstätigkeit
auszuüben und so die Anwendung des dänischen Rechts über die Errichtung der
Gesellschaften mit beschränkter Haftung zu umgehen. Unter solchen Umständen
stelle die Errichtung einer Gesellschaft durch die Staatsangehörigen eines
Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat keinen gemeinschaftsrechtlich
insbesondere im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit relevanten, über den
nationalen Rahmen hinausweisenden Aspekt dar.
17.
Eine Sachlage, in der eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats, in dem sie
ihren satzungsgemäßen Sitz hat, gegründete Gesellschaft eine
Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat gründen will, fällt unter
das Gemeinschaftsrecht. Daß die Gesellschaft im ersten Mitgliedstaat nur
errichtet wurde, um sich in dem zweiten Mitgliedstaat niederzulassen, in dem
die Geschäftstätigkeit im wesentlichen oder ausschließlich ausgeübt werden
soll, ist dabei ohne Bedeutung (vgl. in diesem Sinne das Urteil Segers,
Randnr. 16).
18.
Daß die Eheleute Bryde die Centros im Vereinigten Königreich zu dem Zweck
gegründet haben, das dänische Recht über die Einzahlung eines
Mindestgesellschaftskapitals zu umgehen, was weder in den schriftlichen
Erklärungen noch in der mündlichen Verhandlung bestritten wurde, ändert
ebenfalls nichts daran, daß die Gründung einer Zweigniederlassung in Dänemark
durch diese britische Gesellschaft unter die Niederlassungsfreiheit im Sinne
der Artikel 52 und 58 EG-Vertrag fällt. Die Frage der Anwendung der Artikel 52
und 58 EG-Vertrag ist nämlich eine andere als die, ob ein Mitgliedstaat
Maßnahmen ergreifen kann, um zu verhindern, daß sich einige seiner
Staatsangehörigen unter Mißbrauch der durch den EG-Vertrag geschaffenen
Erleichterungen der Anwendung des nationalen Rechts entziehen.
19.
Die Eheleute Bryde machen geltend, die Verweigerung der Eintragung ihrer
nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats, in dem sie ihren Sitz hat,
errichteten Gesellschaft in Dänemark stelle eine Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit dar. Nach ständiger Rechtsprechung umfaßt die
Niederlassungsfreiheit, die Artikel 52 EG-Vertrag den Gemeinschaftsangehörigen
zuerkennt, das Recht zur Aufnahme und Ausübung selbständiger
Erwerbstätigkeiten sowie zur Errichtung von Unternehmen und zur Ausübung der
Unternehmertätigkeit nach den Bestimmungen, die im Niederlassungsstaat für
dessen eigene Angehörigen gelten. Außerdem stellt Artikel 58 EG-Vertrag die
nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren
satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung
innerhalb der Gemeinschaft haben, den natürlichen Personen gleich, die
Angehörige der Mitgliedstaaten sind.
20.
Hieraus folgt unmittelbar, daß diese Gesellschaften das Recht haben, ihre
Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat durch eine Agentur oder eine
Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft auszuüben, wobei ihr
satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung,
ebenso wie die Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen, dazu dient, ihre
Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zu bestimmen (vgl. in
diesem Sinne die Urteile Segers, Randnr. 13; vom 28. Januar 1986 in der
Rechtssache 270/83, Kommission/Frankreich, Slg. 1986, 273, Randnr. 18; vom 13.
Juli 1993 in der Rechtssache C-330/91, Commerzbank, Slg. 1993, I-4017, Randnr.
13; und vom 16. Juli 1998 in der Rechtssache C-264/96, ICI, Slg. 1998, I-4695,
Randnr. 20).
21.
Verweigert ein Mitgliedstaat unter bestimmten Umständen die Eintragung der
Zweigniederlassung einer Gesellschaft, die ihren Sitz in einem
anderenMitgliedstaat hat, so werden die nach dem Recht dieses anderen
Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften an der Wahrnehmung ihres
Niederlassungsrechts aus den Artikeln 52 und 58 EG-Vertrag gehindert.
22.
Ein solches Vorgehen beschränkt also die Ausübung der in diesen
Bestimmungen gewährleisteten Freiheiten.
23.
Die dänischen Behörden machen geltend, die Eheleute Bryde könnten sich
dennoch nicht auf diese Bestimmungen berufen, da die von ihnen beabsichtigte
gesellschaftsrechtliche Konstruktion einzig den Zweck verfolge, die Anwendung
des nationalen Rechts über die Errichtung von Gesellschaften mit beschränkter
Haftung zu umgehen, und deshalb eine mißbräuchliche Ausnutzung des
Niederlassungsrechts darstelle. Das Königreich Dänemark sei deshalb
berechtigt, Maßnahmen zur Verhinderung eines solchen Mißbrauchs zu treffen,
indem es die Eintragung der Zweigniederlassung verweigere.
24.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist ein Mitgliedstaat zwar
berechtigt, Maßnahmen zu treffen, die verhindern sollen, daß sich einige
seiner Staatsangehörigen unter Mißbrauch der durch den EG-Vertrag geschaffenen
Möglichkeiten der Anwendung des nationalen Rechts entziehen; die
mißbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht ist nicht
gestattet (vgl. u. a. im Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs die
Urteile vom 3. Dezember 1974 in der Rechtssache 33/74, Van Binsbergen, Slg.
1974, 1299, Randnr. 13; vom 3. Februar 1993 in der Rechtssache C-148/91,
Veronica Omroep Organisatie, Slg. 1993, I-487, Randnr. 12; und vom 5. Oktober
1994 in der Rechtssache C-23/93, TV10, Slg. 1994, I-4795, Randnr. 21; auf dem
Gebiet der Niederlassungsfreiheit Urteile vom 7. Februar 1979 in der
Rechtssache 115/78, Knoors, Slg. 1979, 399, Randnr. 25; und vom 3. Oktober
1990 in der Rechtssache C-61/89, Bouchoucha, Slg. 1990, I-3551, Randnr. 14;
auf dem Gebiet des freien Warenverkehrs Urteil vom 10. Januar 1985 in der
Rechtssache 229/83, Leclerc u. a., Slg. 1985, 1, Randnr. 27; auf dem Gebiet
der sozialen Sicherheit Urteil vom 2. Mai 1996 in der Rechtssache C-206/94,
Paletta, Slg. 1996, I-2357, Randnr. 24; auf dem Gebiet der Freizügigkeit der
Arbeitnehmer Urteil vom 21. Juni 1988 in der Rechtssache 39/86, Lair, Slg.
1988, 3161, Randnr. 43; auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik Urteil vom
3. März 1993 in der Rechtssache C-8/92, General Milk Products, Slg. 1993,
I-779, Randnr. 21; auf dem Gebiet des Gesellschaftsrecht Urteil vom 12. Mai
1998 in der Rechtssache C-367/96, Kefalas u. a., Slg. 1998, I-2843, Randnr.
20).
25.
Zwar können die nationalen Gerichte unter solchen Umständen im Einzelfall
das mißbräuchliche oder betrügerische Verhalten der Betroffenen auf der
Grundlage objektiver Kriterien in Rechnung stellen, um ihnen gegebenenfalls
die Berufung auf das einschlägige Gemeinschaftsrecht zu verwehren; sie haben
jedoch bei der Würdigung eines solchen Verhaltens die Ziele der fraglichen
Bestimmungen zu beachten (Urteil Paletta, Randnr. 25).
26.
Im Ausgangsfall sind die nationalen Vorschriften, denen sich die
Betroffenen entziehen wollten, Vorschriften über die Errichtung von
Gesellschaften, aber nicht Vorschriften über die Ausübung bestimmter
beruflicher Tätigkeiten. Ziel der Vertragsvorschriften über die
Niederlassungsfreiheit ist es jedoch gerade, es den nach dem Recht eines
Mitgliedstaats errichteten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz,
ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft
haben, zu erlauben, mittels einer Agentur, Zweigniederlassung oder
Tochtergesellschaft in anderen Mitgliedstaaten tätig zu werden.
27.
Damit kann es für sich allein keine mißbräuchliche Ausnutzung des
Niederlassungsrechts darstellen, wenn ein Staatsangehöriger eines
Mitgliedstaats, der eine Gesellschaft gründen möchte, diese in dem
Mitgliedstaat errichtet, dessen gesellschaftsrechtlichen Vorschriften ihm die
größte Freiheit lassen, und in anderen Mitgliedstaaten Zweigniederlassungen
gründet. Das Recht, eine Gesellschaft nach dem Recht eines Mitgliedstaats zu
errichten und in anderen Mitgliedstaaten Zweigniederlassungen zu gründen,
folgt nämlich im Binnenmarkt unmittelbar aus der vom EG-Vertrag
gewährleisteten Niederlassungsfreiheit.
28.
Dabei ist unerheblich, daß das Gesellschaftsrecht in der Gemeinschaft
nicht voll harmonisiert worden ist; außerdem bleibt es dem Rat jederzeit
überlassen, aufgrund der ihm in Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g EG-Vertrag
übertragenen Befugnisse diese Harmonisierung zu vervollständigen.
29.
Daß eine Gesellschaft in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat,
keine Geschäftstätigkeiten entfaltet und ihre Tätigkeit ausschließlich im
Mitgliedstaat ihrer Zweigniederlassung ausübt, belegt zudem nach Randnummer 16
des Urteils Segers noch kein mißbräuchliches und betrügerisches Verhalten, das
es dem letzteren Mitgliedstaat erlauben würde, auf diese Gesellschaft die
Gemeinschaftsvorschriften über das Niederlassungsrecht nicht anzuwenden.
30.
Somit ist es mit den Artikeln 52 und 58 EG-Vertrag unvereinbar, daß ein
Mitgliedstaat es mit der Begründung ablehnt, die Zweigniederlassung einer nach
dem Recht eines anderen Mitgliedstaats, in dem sie ihren Sitz hat, errichteten
Gesellschaft einzutragen, die Zweigniederlassung solle es der Gesellschaft
ermöglichen, ihre gesamte Geschäftstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat
auszuüben, wobei die Zweigniederlassung dem nationalen Recht über die
Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals entzogen werde, da diese
Weigerung jede Wahrnehmung der Freiheit zur Gründung einer Zweigniederlassung
verhindert, die durch die Artikel 52 und 58 gerade gewährleistet werden soll.
31.
Es stellt sich noch die Frage, ob das nationale Vorgehen aus den von den
dänischen Behörden angeführten Gründen gerechtfertigt sein könnte.
32.
Unter Bezugnahme auf Artikel 56 EG-Vertrag und auf die Rechtsprechung des
Gerichtshofes zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses macht
dieZentralverwaltung geltend, die Pflicht der Gesellschaften mit beschränkter
Haftung zur Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals verfolge zum einen
den Zweck, die finanzielle Solidität der Gesellschaften zu verstärken, um die
öffentlichen Gläubiger vor der Gefahr zu schützen, daß die öffentlichen
Forderungen uneinbringlich würden, da diese anders als private Gläubiger ihre
Forderungen nicht durch eine Sicherheit oder Bürgschaft sichern könnten; zum
anderen solle sie ganz allgemein alle öffentlichen und privaten Gläubiger
schützen, indem sie der Gefahr eines betrügerischen Bankrotts aufgrund der
Zahlungsunfähigkeit von Gesellschaften mit unzureichendem Anfangskapital
vorbeuge.
33.
Es gebe kein milderes Mittel, um diese Ziele zu erreichen. Das andere
Mittel zum Schutz der Gläubiger, gesetzlich bei Erfüllung bestimmter
Voraussetzungen eine Durchgriffshaftung der Gesellschafter vorzusehen, sei
nicht milder als die Verpflichtung zur Einzahlung eines
Mindestgesellschaftskapitals.
34.
Wie festgestellt, sind diese Gründe für Artikel 56 EG-Vertrag ohne Belang.
Im übrigen sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes nationale Maßnahmen,
die die Ausübung der durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten
behindern oder weniger attraktiv machen können, zulässig, wenn vier
Voraussetzungen erfüllt sind: sie müssen in nichtdiskriminierender Weise
angewandt werden, sie müssen zwingenden Gründen des Allgemeininteresses
entsprechen, sie müssen zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet sein,
und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles
erforderlich ist (vgl. die Urteile vom 31. März 1993 in der Rechtssache
C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663, Randnr. 32; und vom 30. November 1995 in
der Rechtssache C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165, Randnr. 37).
35.
Diese Voraussetzungen sind im Ausgangsfall nicht erfüllt. Zum einen ist
das dänische Vorgehen nicht geeignet, das mit ihm verfolgte Ziel des
Gläubigerschutzes zu erreichen, da die Zweigniederlassung in Dänemark
eingetragen worden wäre, wenn die Gesellschaft eine Geschäftstätigkeit im
Vereinigten Königreich ausgeübt hätte, obwohl die dänischen Gläubiger in
diesem Fall ebenso gefährdet gewesen wären.
36.
Da die Gesellschaft als Gesellschaft englischen Rechts, nicht als
Gesellschaft dänischen Rechts auftritt, ist den Gläubigern weiter bekannt, daß
sie nicht dem dänischen Recht über die Errichtung von Gesellschaften mit
beschränkter Haftung unterliegt; sie können sich auf bestimmte
gemeinschaftsrechtliche Schutzvorschriften berufen wie die Vierte Richtlinie
78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3
Buchstabe g des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften
bestimmter Rechtsformen (ABl. L 222, S. 11) und die Elfte Richtlinie
89/666/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Offenlegung von
Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter
Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen
(ABl. L 395, S. 36).
37.
Außerdem könnten entgegen dem Vorbringen der dänischen Behörden mildere
Maßnahmen getroffen werden, die die Grundfreiheiten weniger beeinträchtigten.
So könnten etwa die öffentlichen Gläubiger rechtlich die Möglichkeit erhalten,
sich die erforderlichen Sicherheiten einräumen zu lassen.
38.
Kann somit ein Mitgliedstaat die Eintragung der Zweigniederlassung einer
nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats, in der sie ihren Sitz hat,
errichteten Gesellschaft nicht verweigern, so kann er doch alle geeigneten
Maßnahmen treffen, um Betrügereien zu verhindern oder zu verfolgen. Das gilt
sowohl - gegebenenfalls im Zusammenwirken mit dem Mitgliedstaat, in dem sie
errichtet wurde - gegenüber der Gesellschaft selbst als auch gegenüber ihren
Gesellschaftern, wenn diese sich mittels der Errichtung der Gesellschaft ihren
Verpflichtungen gegenüber inländischen privaten oder öffentlichen Gläubigern
entziehen möchten. Jedoch kann die Bekämpfung von Betrügereien nicht
rechtfertigen, die Eintragung einer Zweigniederlassung einer in einem anderen
Mitgliedstaat niedergelassenen Gesellschaft zu verweigern.
39.
Die Vorlagefrage ist demgemäß dahin zu beantworten, daß ein Mitgliedstaat,
der die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert, die
in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, rechtmäßig
errichtet worden ist, aber keine Geschäftstätigkeit entfaltet, gegen die
Artikel 52 und 58 EG-Vertrag verstößt,wenn die Zweigniederlassung es der
Gesellschaft ermöglichen soll, ihre gesamte Geschäftstätigkeit in dem Staat
auszuüben, in dem diese Zweigniederlassung errichtet wird, ohne dort eine
Gesellschaft zu errichten und damit das dortige Recht über die Errichtung von
Gesellschaften zu umgehen, das höhere Anforderungen an die Einzahlung des
Mindestgesellschaftskapitals stellt. Diese Auslegung schließt jedoch nicht
aus, daß die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats alle geeigneten
Maßnahmen treffen können, um Betrügereien zu verhindern oder zu verfolgen. Das
gilt sowohl - gegebenenfalls im Zusammenwirken mit dem Mitgliedstaat, in dem
sie errichtet wurde - gegenüber der Gesellschaft selbst als auch gegenüber den
Gesellschaftern, wenn diese sich mittels der Errichtung der Gesellschaft ihren
Verpflichtungen gegenüber inländischen privaten oder öffentlichen Gläubigern
entziehen möchten.
Kosten
40.
Die Auslagen der dänischen, der französischen, der niederländischen und
der schwedischen Regierung, des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission,
die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht
erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren
ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit;
die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
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