Niederlassungsfreiheit
(Art. 43, 46 EGV) und materiellrechtliche Sondervorschriften für
"Schein-Auslandsgesellschaften"
EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-167/01 (Inspire
Art)
Fundstelle:
NJW 2003, 3331
Originalurteil auf der Web-Seite des
Gerichtshofs
s. auch BGH v.
14.3.2005 - II ZR 5/03; Zur Geltung der
Gründungstheorie im Verhältnis zu den EFTA-Staaten s.
BGH v. 19.9.2005 - II ZR 372/03.
Urteilsformel:
1. Artikel 2 der Elften Richtlinie 89/666/EWG
des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen,
die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen
errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, steht einer
Regelung eines Mitgliedstaats wie der Wet op de formeel buitenlandse vennootschappen vom 17. Dezember 1997
entgegen, die Zweigniederlassungen einer nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft Offenlegungspflichten auferlegt, die
nicht in dieser Richtlinie vorgesehen sind.
2. Die Artikel 43 EG und 48 EG stehen einer
Regelung eines Mitgliedstaats wie der Wet op de formeel buitenlandse vennootschappen entgegen, die die
Ausübung der Freiheit zur Errichtung einer Zweitniederlassung in diesem Staat
durch eine nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft
von bestimmten Voraussetzungen abhängig macht, die im innerstaatlichen Recht
für die Gründung von Gesellschaften bezüglich des Mindestkapitals und der
Haftung der Geschäftsführer vorgesehen sind. Die Gründe, aus denen die
Gesellschaft in dem anderen Mitgliedstaat errichtet wurde, sowie der Umstand,
dass sie ihre Tätigkeit ausschließlich oder nahezu ausschließlich im
Mitgliedstaat der Niederlassung ausübt, nehmen ihr nicht das Recht, sich auf
die durch den EG-Vertrag garantierte Niederlassungsfreiheit zu berufen, es sei
denn, im konkreten Fall wird ein Missbrauch nachgewiesen.
Aus den Gründen:
-
- 1.
Das Kantongerecht Amsterdam hat mit Beschluss vom 5. Februar 2001, beim
Gerichtshof eingegangen am 19. April 2001, gemäß Artikel 234 EG zwei Fragen
nach der Auslegung der Artikel 43 EG, 46 EG und 48 EG zur Vorabentscheidung
vorgelegt.
- 2.
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der
niederländischen Kamer van Koophandel en Fabrieken voor Amsterdam (Handels-
und Industriekammer Amsterdam, im Folgenden: Handelskammer) und der
Gesellschaft englischen Rechts Inspire Art Ltd (im Folgenden: Inspire Art)
wegen der nach der Wet op de formeel buitenlandse vennootschappen (Gesetz über
formal ausländische Gesellschaften) vom 17. Dezember 1997 (Staatsblad
1997, Nr. 697, im Folgenden: WFBV) bestehenden Verpflichtung der
niederländischen Zweigniederlassung der Inspire Art, ihre Eintragung im
niederländischen Handelsregister mit dem Zusatz formeel buitenlandse
vennootschap (formal ausländische Gesellschaft) versehen zu lassen und diese
Bezeichnung im Geschäftsverkehr zu führen.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsregelung
- 3.
Artikel 43 Absatz 1 EG lautet:
Die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines
Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind ...
verboten. Das Gleiche gilt für Beschränkungen der Gründung von Agenturen,
Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines
Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig sind.
- 4.
Artikel 48 EG erstreckt das Niederlassungsrecht unter denselben
Bedingungen, wie sie für natürliche Personen, die Angehörige der
Mitgliedstaaten sind, vorgesehen sind, auf die nach den Rechtsvorschriften
eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen
Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der
Gemeinschaft haben.
- 5.
Artikel 46 EG erlaubt den Mitgliedstaaten, die Niederlassungsfreiheit von
Ausländern durch den Erlass von Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu
beschränken, soweit diese aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit
oder Gesundheit gerechtfertigt sind.
- 6.
Zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit sieht Artikel 44 Absatz 2
Buchstabe g EG vor, dass der Rat der Europäischen Union Richtlinien erlassen
kann mit dem Ziel, soweit erforderlich die Schutzbestimmungen [zu]
koordinieren, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des
Artikels 48 Absatz 2 im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter
vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten.
- 7.
Der Rat hat dementsprechend auf dieser Grundlage verschiedene Richtlinien
erlassen (im Folgenden: Richtlinien über das Gesellschaftsrecht), darunter die
folgenden Richtlinien, um die es im Ausgangsverfahren geht.
- 8.
Die Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968 zur
Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den
Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse
der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen
gleichwertig zu gestalten (ABl. L 65, S. 8, im Folgenden: Erste Richtlinie),
gilt für Kapitalgesellschaften. Sie sieht drei Maßnahmen zum Schutz Dritter
vor, die mit diesen Gesellschaften Geschäfte abschließen: die Anlegung einer
Akte, die eine Reihe zwingender Angaben enthält und für jede Gesellschaft beim
örtlich zuständigen Handelsregister geführt wird, die Harmonisierung der
nationalen Vorschriften über die Wirksamkeit der im Namen einer Gesellschaft
(einschließlich von in Gründung befindlichen Gesellschaften) eingegangenen
Verpflichtungen und darüber, unter welchen Voraussetzungen Mängel oder
Beschränkungen der Vertretungsbefugnis Dritten entgegengesetzt werden können,
sowie die Erstellung eines abschließenden Verzeichnisses der Fälle, in denen
Gesellschaften nichtig sind.
- 9.
Die Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates vom 13. Dezember 1976 zur
Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den
Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse
der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie
für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese
Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. 1977, L 26, S. 1, im Folgenden:
Zweite Richtlinie), bestimmt die in der Satzung oder dem Errichtungsakt von
Aktiengesellschaften zu machenden Angaben und das erforderliche Mindestkapital
derartiger Gesellschaften und enthält harmonisierte Vorschriften über
Einlagen, die Einzahlung und den Nennbetrag von Aktien sowie die Ausschüttung
von Dividenden an die Aktionäre.
- 10.
Die Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von
Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g des Vertrages über den Jahresabschluss von
Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. L 222, S. 11, im Folgenden:
Vierte Richtlinie) gilt für Kapitalgesellschaften. Sie harmonisiert die
nationalen Vorschriften über Aufstellung, Inhalt, Gliederung und Offenlegung
der Jahresabschlüsse von Unternehmen.
- 11.
Die Siebente Richtlinie 83/349/EWG des Rates vom 13. Juni 1983 aufgrund
von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g des Vertrages über den konsolidierten
Abschluss (ABl. L 193, S. 1, im Folgenden: Siebente Richtlinie) verfolgt
hinsichtlich der Aufstellung konsolidierter Abschlüsse dasselbe Ziel wie die
Vierte Richtlinie.
- 12.
Die Elfte Richtlinie 89/666/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 über die
Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von
Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines
anderen Staates unterliegen (ABl. L 395, S. 36, im Folgenden: Elfte
Richtlinie), betrifft die Zweigniederlassungen von Kapitalgesellschaften.
- 13.
Nach ihrer dritten Begründungserwägung wurde die Elfte Richtlinie mit
Rücksicht auf den Umstand erlassen, dass [d]ie Errichtung einer
Zweigniederlassung ... neben der Gründung einer Tochtergesellschaft eine der
Möglichkeiten [ist], die derzeit einer Gesellschaft zur Ausübung des
Niederlassungsrechts in einem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung stehen.
- 14.
In der vierten Begründungserwägung der Elften Richtlinie heißt es: Das
Fehlen einer Koordinierung für die Zweigniederlassungen, insbesondere im
Bereich der Offenlegung, hat im Hinblick auf den Schutz von Gesellschaftern
und Dritten zu Unterschieden geführt zwischen den Gesellschaften, welche sich
in anderen Mitgliedstaaten durch die Errichtung von Zweigniederlassungen
betätigen, und den Gesellschaften, die dies durch die Gründung von
Tochtergesellschaften tun.
- 15.
Nach der fünften Begründungserwägung der Elften Richtlinie [können]
[s]olche Unterschiede in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ... die
Ausübung des Niederlassungsrechts stören und sind deshalb unter anderem zur
Sicherung der Ausübung dieses Rechts zu beseitigen.
- 16.
Nach ihrer zwölften Begründungserwägung berührt die Elfte Richtlinie nicht
die Informationspflichten, denen die Zweigniederlassungen aufgrund anderer
Vorschriften unterliegen, wie z. B. im Sozialrecht in Bezug auf das
Informationsrecht der Arbeitnehmer, im Steuerrecht oder im Hinblick auf
statistische Angaben.
- 17.
Artikel 2 Absatz 1 der Elften Richtlinie enthält eine Auflistung der
Angaben, die in dem Mitgliedstaat, in dem die Zweigniederlassung ansässig ist,
offen zu legen sind. Es handelt sich um folgende Angaben:
a) die Anschrift der Zweigniederlassung;
b) die Tätigkeit der Zweigniederlassung;
c) das Register, bei dem die in Artikel 3 der Richtlinie 68/151/EWG
bezeichnete Akte für die Gesellschaft angelegt worden ist, und die Nummer der
Eintragung in dieses Register;
d) die Firma und die Rechtsform der Gesellschaft sowie die Firma der
Zweigniederlassung, sofern diese nicht mit der Firma der Gesellschaft
übereinstimmt;
e) die Bestellung, das Ausscheiden und die Personalien derjenigen, die
befugt sind, die Gesellschaft gerichtlich und außergerichtlich zu vertreten,
und zwar
- als gesetzlich vorgeschriebenes Organ der Gesellschaft oder als Mitglied
eines solchen Organs gemäß der Offenlegung, die nach Artikel 2 Absatz 1
Buchstabe d) der Richtlinie 68/151/EWG bei der Gesellschaft erfolgt,
- als ständige Vertreter der Gesellschaft für die Tätigkeit der
Zweigniederlassung, unter Angabe ihrer Befugnisse;
f) - die Auflösung der Gesellschaft, die Bestellung, die Personalien und
die Befugnisse der Liquidatoren sowie den Abschluss der Liquidation gemäß der
Offenlegung, die nach Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben h), j) und k) der
Richtlinie 68/151/EWG bei der Gesellschaft erfolgt,
- ein die Gesellschaft betreffendes Konkursverfahren, Vergleichsverfahren
oder ähnliches Verfahren;
g) die Unterlagen der Rechnungslegung gemäß Artikel 3;
h) die Aufhebung der Zweigniederlassung.
- 18.
Nach Artikel 2 Absatz 2 der Elften Richtlinie kann der Mitgliedstaat der
Zweigniederlassung ergänzend dazu verpflichten, Folgendes offen zu legen:
a) eine Unterschrift der in Absatz 1 Buchstaben e) und f) des vorliegenden
Artikels bezeichneten Personen;
b) [den] Errichtungsakt und, sofern diese Gegenstand eines gesonderten
Aktes gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben a), b) und c) der Richtlinie
68/151/EWG ist, die Satzung sowie Änderungen dieser Unterlagen;
c) eine Bescheinigung aus dem in Absatz 1 Buchstabe c) des vorliegenden
Artikels genannten Register in Bezug auf das Bestehen der Gesellschaft;
d) Angaben über die Sicherheiten, bei denen Vermögenswerte der Gesellschaft
belastet werden, die sich in diesem Mitgliedstaat befinden, sofern diese
Offenlegung sich auf die Gültigkeit solcher Sicherheiten bezieht.
- 19.
Nach Artikel 4 der Elften Richtlinie kann der Mitgliedstaat der
Zweigniederlassung u. a. hinsichtlich der Offenlegung nach Artikel 2 Absatz 2
Buchstabe b der Richtlinie die Verwendung einer anderen Amtssprache der
Gemeinschaft und eine beglaubigte Übersetzung der offen gelegten Unterlagen
vorschreiben.
- 20.
Nach Artikel 6 der Elften Richtlinie schreiben die Mitgliedstaaten vor,
dass auf Geschäftsbriefen und Bestellscheinen, die von der Zweigniederlassung
benutzt werden, außer den in Artikel 4 der Ersten Richtlinie verlangten
Angaben das Register, bei dem die Akte für die Zweigniederlassung angelegt
worden ist, und die Nummer der Eintragung in dieses Register anzugeben sind.
- 21.
Schließlich müssen die Mitgliedstaaten nach Artikel 12 der Elften
Richtlinie geeignete Maßregeln für den Fall androhen, dass die
Offenlegungspflichten, die die Richtlinie für Zweigniederlassungen im
Aufnahmestaat vorsieht, nicht beachtet werden.
Nationale Regelung
- 22.
Artikel 1 WFBV definiert die formal ausländische Gesellschaft als eine
nach einem anderen als dem niederländischen Recht gegründete
Kapitalgesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit, die ihre Tätigkeit
vollständig oder nahezu vollständig in den Niederlanden ausübt und daneben
keine tatsächliche Bindung an den Staat hat, in dem das Recht gilt, nach dem
sie gegründet wurde.
- 23.
Die Artikel 2 bis 5 WFBV erlegen den formal ausländischen Gesellschaften
verschiedenen Pflichten auf, die ihre Eintragung in das Handelsregister, die
Angabe der Eigenschaft als formal ausländische Gesellschaft auf von ihnen
herrührenden Schriftstücken, das Mindestkapital sowie die Erstellung,
Gestaltung und Offenlegung der Jahresabschlüsse und -berichte betreffen. Die
WFBV droht ferner Sanktionen für den Fall der Nichtbeachtung dieser
Bestimmungen an.
- 24.
Im Einzelnen verpflichtet Artikel 2 WFBV eine Gesellschaft, die der
Definition einer formal ausländischen Gesellschaft entspricht, sich als solche
in das Handelsregister des Aufnahmestaats eintragen zu lassen. Ferner ist dort
eine in niederländischer, französischer, deutscher oder englischer Sprache
abgefasste, öffentlich oder von einem Geschäftsführer beglaubigte Abschrift
des Errichtungsakts und, wenn diese in einer getrennten Urkunde enthalten ist,
der Satzung zu hinterlegen. Außerdem müssen in diesem Register das Datum der
ersten Eintragung dieser Gesellschaft, das nationale Register, in dem sie
eingetragen ist, und die Nummer der Eintragung sowie bei Einmanngesellschaften
bestimmte Informationen über den Alleingesellschafter angegeben werden.
- 25.
Artikel 4 Absatz 4 WFBV sieht vor, dass die Geschäftsführer neben der
Gesellschaft als Gesamtschuldner für die während ihrer Geschäftsführung im
Namen der Gesellschaft vorgenommenen Rechtshandlungen haften, solange die
Verpflichtung zur Eintragung in das Handelsregister nicht erfüllt ist.
- 26.
Nach Artikel 3 WFBV müssen alle Schriftstücke und Mitteilungen, in denen
eine formal ausländische Gesellschaft erscheint oder die von ihr herrühren,
mit Ausnahme von Telegrammen und Werbung, den vollständigen Namen der
Gesellschaft, ihre Rechtsform, ihren satzungsmäßigen Sitz, den Ort der
Hauptniederlassung sowie die Eintragungsnummer, das Datum der ersten
Eintragung und das Register angeben, in dem sie nach dem für sie geltenden
Recht eingetragen sein muss. Weiter schreibt dieser Artikel die Angabe vor,
dass die Gesellschaft eine formal ausländische Gesellschaft ist, und
untersagt, in Schriftstücken oder Mitteilungen wahrheitswidrig anzudeuten,
dass das Unternehmen zu einer niederländischen juristischen Person gehört.
- 27.
Nach Artikel 4 Absatz 1 WFBV muss sich das gezeichnete Kapital einer
formal ausländischen Gesellschaft mindestens auf den Betrag des
Mindestkapitals belaufen, das in Artikel 178 des Zweiten Buches des Burgerlijk
Wetboek (niederländisches Bürgerliches Gesetzbuch, im Folgenden: BW) für
niederländische Gesellschaften mit beschränkter Haftung vorgeschrieben ist und
am 1. September 2000 18 000 Euro betrug (Staatsblad 2000, Nr. 322). Das
Eigenkapital muss sich mindestens auf das Mindestkapital belaufen (Artikel 4
Absatz 2 WFBV, der auf Artikel 178 des Zweiten Buches des BW verweist). Damit
geprüft werden kann, ob die formal ausländische Gesellschaft diese
Voraussetzungen erfüllt, muss eine Erklärung eines Wirtschaftsprüfers beim
Handelsregister hinterlegt werden (Artikel 4 Absatz 3 WFBV).
- 28.
Solange die Voraussetzungen bezüglich des Kapitals nicht erfüllt sind,
haften die Geschäftsführer neben der Gesellschaft als Gesamtschuldner für alle
während ihrer Geschäftsführung vorgenommenen Rechtshandlungen, durch die die
Gesellschaft verpflichtet wird. Die Geschäftsführer einer formal ausländischen
Gesellschaft haften auch dann als Gesamtschuldner für Handlungen der
Gesellschaft, wenn das eingezahlte gezeichnete Kapital unter den
erforderlichen Mindestbetrag sinkt, nachdem es ursprünglich die Voraussetzung
bezüglich des Mindestkapitals erfüllt hatte. Die gesamtschuldnerische Haftung
der Geschäftsführer besteht nur, solange die Gesellschaft eine formal
ausländische Gesellschaft ist (Artikel 4 Absatz 4 WFBV).
- 29.
Nach Artikel 4 Absatz 5 WFBV gelten jedoch die Bestimmungen über das
Mindestkapital nicht für Gesellschaften, die dem Recht eines Mitgliedstaats
oder eines Staates des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) unterliegen und auf
die die Zweite Richtlinie Anwendung findet.
- 30.
Nach Artikel 5 Absätze 1 und 2 WFBV müssen die Geschäftsführer formal
ausländischer Gesellschaften Bücher führen und diese sieben Jahre aufbewahren.
Sie müssen jedes Jahr einen Jahresabschluss und einen Jahresbericht erstellen.
Diese Dokumente müssen durch Hinterlegung beim Handelsregister offen gelegt
werden und die Voraussetzungen von Titel 9 des Zweiten Buches des BW erfüllen,
damit gewährleistet ist, dass sie den Jahresabschlüssen und -berichten
niederländischer Gesellschaften entsprechen.
- 31.
Die Geschäftsführer müssen darüber hinaus vor dem 1. April jedes Jahres
beim Handelsregister einen Nachweis der Eintragung in das Register
hinterlegen, das in dem für die Gesellschaft geltenden Recht bezeichnet ist
(Artikel 5 Absatz 4 WFBV). Nach Artikel 7 WFBV stehen Personen, die mit der
laufenden Verwaltung der Gesellschaft betraut sind, für die Zwecke der
Anwendung der WFBV den Geschäftsführern gleich.
- 32.
Die Artikel 249 und 260 des Zweiten Buches des BW gelten für formal
ausländische Gesellschaften entsprechend. Nach diesen Vorschriften haften die
Geschäftsführer und die Prüfer als Gesamtschuldner für Schäden, die Dritten
aus der Veröffentlichung irreführender Jahresabschlüsse oder -berichte oder
Zwischenzahlen entstehen.
- 33.
Nach Artikel 5 Absatz 3 WFBV gelten jedoch die nach Artikel 5 Absätze 1
und 2 WFBV bestehenden Verpflichtungen hinsichtlich der Buchführung und der
Jahresabschlüsse und -berichte nicht für Gesellschaften, die dem Recht eines
Mitgliedstaats oder eines EWR-Staats unterliegen und unter die Vierte und die
Siebente Richtlinie fallen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
- 34.
Die Inspire Art wurde am 28. Juli 2000 als private company limited by
shares (Gesellschaft mit beschränkter Haftung) englischen Rechts mit Sitz in
Folkestone (Vereinigtes Königreich) gegründet. Ihr einziger Geschäftsführer
(director), wohnhaft in Den Haag (Niederlande), ist befugt, allein und
selbständig im Namen der Gesellschaft zu handeln. Die Gesellschaft, die unter
der Firma Inspire Art Ltd im Verkauf von Kunstgegenständen tätig ist, nahm
ihre Geschäfte am 17. August 2000 auf und hat eine Zweigniederlassung in
Amsterdam.
- 35.
Die Inspire Art ist im Handelsregister der Handelskammer Amsterdam ohne
den Zusatz eingetragen, dass es sich um eine formal ausländische Gesellschaft
im Sinne von Artikel 1 WFBV handelt.
- 36.
Die Handelskammer hielt diesen Zusatz für erforderlich, da die Inspire Art
ihre Geschäftstätigkeit nur in den Niederlanden ausübe, und beantragte deshalb
am 30. Oktober 2000 beim Kantongerecht Amsterdam, anzuordnen, dass die
Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister durch den Vermerk formal
ausländische Gesellschaft gemäß Artikel 1 WFBV vervollständigt wird, ist, was
weitere gesetzliche Verpflichtungen nach sich ziehen würde, die in den
Randnummern 22 bis 33 des vorliegenden Urteils dargestellt sind.
- 37.
Die Inspire Art machte geltend, dass sie die Voraussetzungen des Artikels
1 WFBV nicht erfülle und dass ihre Eintragung deshalb vollständig sei. Für den
Fall, dass das Kantongerecht Amsterdam entscheiden sollte, dass sie die
Voraussetzungen erfülle, trug sie hilfsweise vor, dass die WFBV gegen das
Gemeinschaftsrecht verstoße, insbesondere gegen die Artikel 43 EG und 48 EG.
- 38.
Das Kantongerecht Amsterdam stellte in seinem Beschluss vom 5. Februar
2001 fest, dass die Inspire Art eine formal ausländische Gesellschaft im Sinne
von Artikel 1 WFBV sei.
- 39.
Was die Vereinbarkeit der WFBV mit dem Gemeinschaftsrecht angeht, hat es
das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur
Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind die Artikel 43 EG und 48 EG so auszulegen, dass sie den
Niederlanden untersagen, aufgrund der Wet op de formeel buitenlandse
vennootschappen vom 17. Dezember 1997 zusätzliche Vorschriften wie die Artikel
2 bis 5 dieses Gesetzes für die Errichtung einer niederländischen
Zweigniederlassung einer Gesellschaft zu erlassen, die in der alleinigen
Absicht im Vereinigten Königreich errichtet worden ist, bestimmte Vorteile zu
erlangen, die sich im Verhältnis zu einer Unternehmung ergeben, die nach
niederländischem Recht errichtet worden ist, das für die Errichtung und die
Volleinzahlung strengere Bestimmungen enthält als das Recht des Vereinigten
Königreichs, wobei das niederländische Gesetz die genannte Absicht aus der
Tatsache herleitet, dass die Gesellschaft ihre Tätigkeit vollständig oder
nahezu vollständig in den Niederlanden ausübt und daneben keine tatsächliche
Bindung an den Staat hat, in dem das Recht gilt, nach dem sie errichtet worden
ist?
2. Muss, wenn die Auslegung dieser Artikel ergibt, dass die Regelung in der
Wet op de formeel buitenlandse vennootschappen mit ihnen unvereinbar ist,
Artikel 46 EG in der Weise ausgelegt werden, dass die Artikel 43 EG und 48 EG
die Anwendbarkeit der niederländischen Regelung in der Wet op de formeel
buitenlandse vennootschappen nicht beeinträchtigen, weil diese Regelung
Vorschriften enthält, die aus den vom niederländischen Gesetzgeber genannten
Gründen gerechtfertigt sind?
Vorbemerkungen
- 40.
Die Handelskammer, die niederländische Regierung und die Kommission der
Europäischen Gemeinschaften sind der Auffassung, dass das nationale Gericht
die Vorlagefragen zu weit gefasst habe. Da das Ausgangsverfahren nur die
Eintragung einer Gesellschaft in das Handelsregister betreffe, müsse der
Gerichtshof seine Prüfung auf diejenigen nationalen Vorschriften beschränken,
die sich auf diese Frage bezögen.
- 41.
Sie schlagen dem Gerichtshof deshalb vor, die Artikel 3 und 6 WFBV sowie
Teile der Artikel 2, 4 und 5 WFBV (und zwar Artikel 2 Absätze 1 a. E. und 2,
Artikel 4 Absätze 1, 2, 4 und 5 sowie Artikel 5 Absätze 1 und 2) von seiner
Prüfung auszunehmen.
- 42.
Nach ständiger Rechtsprechung ist das in Artikel 234 EG vorgesehene
Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den
nationalen Gerichten (vgl. zu dieser Frage insbesondere Urteil vom 16. Juli
1992 in der Rechtssache C-343/90, Lourenço Dias, Slg. 1992, I-4673, Randnr.
14).
- 43.
Im Rahmen dieser Zusammenarbeit ist das mit dem Rechtsstreit befasste
nationale Gericht, das allein über eine unmittelbare Kenntnis des Sachverhalts
des Ausgangsverfahrens verfügt und in dessen Verantwortungsbereich die zu
erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, am besten in der Lage, im Hinblick
auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer
Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der
dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen (vgl. insbesondere
Urteile Lourenço Dias, Randnr. 15, und vom 22. Januar 2002 in der Rechtssache
C-390/99, Canal Satélite Digital, Slg. 2002, I-607, Randnr. 18).
- 44.
Betrifft daher die vom nationalen Gericht vorgelegte Frage die Auslegung
einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts, so ist der Gerichtshof grundsätzlich
gehalten, darüber zu befinden (Urteile Lourenço Dias, Randnr. 16, vom 15.
Dezember 1995 in der Rechtssache C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Randnr.
59, vom 13. März 2001 in der Rechtssache C-379/98, PreussenElektra, Slg. 2001,
I-2099, Randnr. 38, und Canal Satélite Digital, Randnr. 18).
- 45.
Der Gerichtshof hat jedoch ebenfalls in gefestigter Rechtsprechung
entschieden, dass es ihm erforderlichenfalls obliegt, zur Prüfung seiner
eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er vom
nationalen Gericht angerufen wird (Urteile vom 16. Dezember 1981 in der
Rechtssache 244/80, Foglia, Slg. 1981, 3045, Randnr. 21, und Canal Satélite
Digital, Randnr. 19). Denn der Geist der Zusammenarbeit, in dem das
Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen ist, verlangt auch, dass das
nationale Gericht seinerseits auf die dem Gerichtshof übertragene Aufgabe
Rücksicht nimmt, die darin besteht, zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten
beizutragen, nicht aber darin, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen
Fragen abzugeben (vgl. insbesondere Urteile Foglia, Randnrn. 18 und 20,
Lourenço Dias, Randnr. 17, Bosman, Randnr. 60, und vom 21. März 2002 in der
Rechtssache C-451/99, Cura Anlagen, Slg. 2002, I-3193, Randnr. 26).
- 46.
Der Gerichtshof kann außerdem eine zweckdienliche Auslegung des
Gemeinschaftsrechts nur vornehmen, wenn das vorlegende Gericht die Gründe
darlegt, aus denen es der Auffassung ist, dass eine Beantwortung seiner Fragen
für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. insbesondere
Urteil Foglia, Randnr. 17).
- 47.
Verfügt der Gerichtshof über diese Informationen, so ist er in der Lage,
zu prüfen, ob die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts einen Bezug zu
den tatsächlichen Gegebenheiten und dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits
aufweist. Stellt sich heraus, dass die vorgelegte Frage für die in diesem
Rechtsstreit zu treffende Entscheidung offensichtlich nicht erheblich ist, so
muss der Gerichtshof feststellen, dass er keine Entscheidung treffen kann
(Urteil Lourenço Dias, Randnr. 20).
- 48.
Demnach ist zu prüfen, ob die Fragen, die das nationale Gericht in der
vorliegenden Rechtssache gestellt hat, für die in diesem Rechtsstreit zu
treffende Entscheidung erheblich sind.
- 49.
Zwar steht im Mittelpunkt des Ausgangsrechtsstreits die Frage, ob die
Inspire Art als formal ausländische Gesellschaft in das Handelsregister
einzutragen ist, doch sind mit dieser Eintragung automatisch und untrennbar
eine Reihe von Rechtsfolgen verbunden, die in den Artikeln 2 bis 5 WFBV
vorgesehen sind.
- 50.
Das nationale Gericht vertritt deshalb die Auffassung, dass sich die Frage
der Vereinbarkeit mit den Artikeln 43 EG, 46 EG und 48 EG insbesondere
hinsichtlich bestimmter in den Artikeln 2 bis 5 WFBV vorgesehener
Verpflichtungen stelle, und zwar hinsichtlich der Verpflichtung zur Eintragung
als formal ausländische Gesellschaft, der Verpflichtung zur Angabe dieser
Eigenschaft auf allen von der Gesellschaft herrührenden Schriftstücken, des
erforderlichen Mindestkapitals und der persönlichen Haftung der
Geschäftsführer als Gesamtschuldner in dem Fall, dass das Stammkapital nicht
oder nicht mehr den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestkapitalbetrag erreicht.
- 51.
Um dem nationalen Gericht eine zweckdienliche Antwort im Sinne der oben
zitierten Rechtsprechung zu geben, sind folglich alle diese Bestimmungen im
Hinblick auf die im EG-Vertrag garantierte Niederlassungsfreiheit und die
Richtlinien über das Gesellschaftsrecht zu prüfen.
Zu den Vorlagefragen
- 52.
Mit den Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das nationale
Gericht im Wesentlichen wissen,
- ob die Artikel 43 EG und 48 EG dahin auszulegen sind, dass sie einer
Regelung eines Mitgliedstaats wie der WFBV entgegenstehen, die die Errichtung
einer Zweitniederlassung einer Gesellschaft in diesem Mitgliedstaat von
zusätzlichen Voraussetzungen wie denen der Artikel 2 bis 5 WFBV abhängig
macht, wenn die Gesellschaft in der alleinigen Absicht in einem anderen
Mitgliedstaat gegründet wurde, bestimmte Vorteile zu erlangen, die sich im
Verhältnis zu Gesellschaften ergeben, die nach dem Recht des Mitgliedstaats
der Niederlassung gegründet wurden, das für die Gründung von Gesellschaften
und die Einzahlung der Aktien strengere Voraussetzungen enthält als das Recht
des Mitgliedstaats der Gründung;
- ob der Umstand, dass die Regelung des Mitgliedstaats der Niederlassung
die vorstehend genannte Absicht daraus herleitet, dass die Gesellschaft ihre
Tätigkeit ausschließlich oder nahezu ausschließlich im letztgenannten
Mitgliedstaat ausübt und keine tatsächliche Bindung an den Staat hat, nach
dessen Recht sie gegründet wurde, die Beurteilung dieser Frage durch den
Gerichtshof ändert;
- ob bei Bejahung der einen oder der anderen Frage eine nationale Regelung
wie die WFBV nach Artikel 46 EG oder aus einem zwingenden Grund des
Allgemeininteresses gerechtfertigt sein kann.
- 53.
Erstens ist festzustellen, dass der in den Vorabentscheidungsfragen
genannte Artikel 5 Absätze 1 und 2 WFBV die Erstellung und Hinterlegung der
Jahresabschlüsse formal ausländischer Gesellschaften betrifft. Nach Artikel 5
Absatz 3 WFBV gelten die in Artikel 5 Absätze 1 und 2 vorgesehenen
Verpflichtungen jedoch nicht für Gesellschaften, die dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats unterliegen und auf die u. a. die Vierte Richtlinie Anwendung
findet. Die Inspire Art wird von dieser Ausnahme erfasst, da sie dem
englischen Recht unterliegt und in den persönlichen Anwendungsbereich der
Vierten Richtlinie fällt.
- 54.
Die Vereinbarkeit einer Vorschrift wie des Artikels 5 WFBV mit dem
Gemeinschaftsrecht ist daher vom Gerichtshof nicht mehr zu prüfen.
- 55.
Zweitens fallen mehrere Bestimmungen der WFBV unter die Elfte Richtlinie,
da diese die Offenlegung von Zweigniederlassungen betrifft, die in einem
Mitgliedstaat von Gesellschaften errichtet wurden, die von der Ersten
Richtlinie erfasst werden und dem Recht eines anderen Mitgliedstaats
unterliegen.
- 56.
Insoweit ist zunächst entsprechend dem Vortrag der Kommission
festzustellen, dass einige der nach der WFBV bestehenden Verpflichtungen die
in der Elften Richtlinie vorgesehenen Offenlegungsmaßnahmen in
innerstaatliches Recht umsetzen.
- 57.
Im Einzelnen handelt es sich um die Verpflichtungen zur Angabe der
Eintragung in einem ausländischen Handelsregister und der Nummer, unter der
die Gesellschaft in diesem Register eingetragen ist, im Handelsregister des
Aufnahmestaats (Artikel 2 Absatz 1 WFBV und Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe c der
Elften Richtlinie), zur Hinterlegung einer in niederländischer, französischer,
englischer oder deutscher Sprache abgefassten beglaubigten Abschrift des
Errichtungsakts und der Satzung (Artikel 2 Absatz 1 WFBV und Artikel 2 Absatz
2 Buchstabe b und 4 der Elften Richtlinie) sowie zur alljährlichen
Hinterlegung einer Bescheinigung der Eintragung im ausländischen
Handelsregister beim Handelsregister des Aufnahmestaats (Artikel 5 Absatz 4
WFBV und Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe c der Elften Richtlinie).
- 58.
Diese Bestimmungen, deren Vereinbarkeit mit der Elften Richtlinie nicht in
Frage gestellt worden ist, können nicht als Behinderung der
Niederlassungsfreiheit angesehen werden.
- 59.
Allerdings hat die Vereinbarkeit der verschiedenen in Randnummer 57 des
vorliegenden Urteils genannten Offenlegungsmaßnahmen mit der Elften Richtlinie
nicht automatisch zur Folge, dass die Sanktionen, die die WFBV an das
Unterlassen dieser Maßnahmen knüpft, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar
sind.
- 60.
Artikel 4 Absatz 4 WFBV sieht vor, dass die Geschäftsführer neben der
Gesellschaft persönlich als Gesamtschuldner für die während ihrer
Geschäftsführung im Namen der Gesellschaft vorgenommenen Rechtshandlungen
haften, solange die Verpflichtungen zur Offenlegung im Handelsregister nicht
erfüllt sind.
- 61.
Artikel 12 der Elften Richtlinie verpflichtet zwar die Mitgliedstaaten,
geeignete Maßregeln für den Fall anzudrohen, dass die erforderliche
Offenlegung der Zweigniederlassungen im Aufnahmestaat unterbleibt.
- 62.
Insoweit ist zu beachten, dass die Mitgliedstaaten nach ständiger
Rechtsprechung dann, wenn eine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts für den Fall
ihrer Verletzung keine eigene Sanktionsbestimmung enthält oder insoweit auf
die nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften verweist, nach Artikel 10
EG verpflichtet sind, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die volle
Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Dabei müssen die
Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktion verbleibt, namentlich
darauf achten, dass Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen
sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und
Schwere gleiche Verstöße gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls
wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muss (Urteile vom 21. September
1989 in der Rechtssache 68/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1989, 2965,
Randnrn. 23 und 24, vom 10. Juli 1990 in der Rechtssache C-326/88, Hansen,
Slg. 1990, I-2911, Randnr. 17, vom 26. Oktober 1995 in der Rechtssache
C-36/94, Siesse, Slg. 1995, I-3573, Randnr. 20, und vom 27. Februar 1997 in
der Rechtssache C-177/95, Ebony Maritime und Loten Navigation, Slg. 1997,
I-1111, Randnr. 35).
- 63.
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Auslegung des
nationalen Rechts zuständig ist, festzustellen, ob die in Artikel 4 Absatz 4
WFBV angedrohte Sanktion diesen Anforderungen genügt und ob sie formal
ausländische Gesellschaften im Fall einer Verletzung der in Randnummer 56 des
vorliegenden Urteils genannten Offenlegungspflichten nicht gegenüber
niederländischen Gesellschaften benachteiligt.
- 64.
Sollte das vorlegende Gericht zu dem Schluss gelangen, dass Artikel 4
Absatz 4 WFBV formal ausländische Gesellschaften anders behandelt als
inländische Gesellschaften, wäre festzustellen, dass diese Bestimmung gegen
das Gemeinschaftsrecht verstößt.
- 65.
Nicht in Artikel 2 der Elften Richtlinie aufgeführt sind dagegen die
übrigen Offenlegungspflichten nach der WFBV, d. h. die Angabe im
Handelsregister, dass es sich um eine formal ausländische Gesellschaft handelt
(Artikel 1 und 2 Absatz 1 WFBV), die Angabe des Datums der ersten Eintragung
im ausländischen Handelsregister und der Informationen über den
Alleingesellschafter im Handelsregister des Aufnahmestaats (Artikel 2 Absatz 1
WFBV) sowie die zwingende Hinterlegung einer Erklärung von Wirtschaftsprüfern,
dass die Gesellschaft die Voraussetzungen bezüglich des gezeichneten und
eingezahlten Mindestkapitals und des Eigenkapitals erfüllt (Artikel 4 Absatz 3
WFBV). Ebenso wenig wird in Artikel 6 der Elften Richtlinie die Angabe der
Eigenschaft formal ausländische Gesellschaft auf allen von dieser herrührenden
Schriftstücken (Artikel 3 WFBV) erwähnt.
- 66.
Bezüglich dieser Verpflichtungen ist deshalb zu prüfen, ob die durch die
Elfte Richtlinie, insbesondere durch die Artikel 2 und 6, herbeigeführte
Harmonisierung abschließend ist.
- 67.
Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Elfte Richtlinie auf der
Grundlage des Artikels 54 Absatz 3 Buchstabe g EG-Vertrag (nach Änderung jetzt
Artikel 44 Absatz 2 Buchstabe g EG) erlassen wurde, der vorsieht, dass der Rat
und die Kommission die ihnen aufgrund dieses Artikels übertragenen Aufgaben
erfüllen, indem sie, soweit erforderlich, die Schutzbestimmungen koordinieren,
die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz
2 [EG-Vertrag] im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben
sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten.
- 68.
Des Weiteren geht aus der vierten und der fünften Begründungserwägung der
Elften Richtlinie hervor, dass die Unterschiede, die in den nationalen
Rechtsvorschriften für Zweigniederlassungen insbesondere im Bereich der
Offenlegung bestehen, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit stören können
und deshalb zu beseitigen sind.
- 69.
Daraus folgt, dass unbeschadet der für Zweigniederlassungen bestehenden
sozialrechtlichen, steuerrechtlichen und statistischen Informationspflichten
die durch die Elfte Richtlinie herbeigeführte Harmonisierung der Offenlegung
solcher Niederlassungen abschließend ist, da sie nur so ihren Zweck erfüllen
kann.
- 70.
Hervorzuheben ist ferner, dass Artikel 2 Absatz 1 der Elften Richtlinie
erschöpfend formuliert ist. Darüber hinaus enthält Absatz 2 dieses Artikels
eine Aufzählung fakultativer Offenlegungsmaßnahmen für Zweigniederlassungen,
was nur dann einen Sinn ergibt, wenn die Mitgliedstaaten keine anderen
Offenlegungsmaßnahmen für Zweigniederlassungen als die in der Elften
Richtlinie genannten vorsehen können.
- 71.
Die verschiedenen Offenlegungsmaßnahmen der WFBV, die in Randnummer 65 des
vorliegenden Urteils genannt sind, verstoßen folglich gegen die Elfte
Richtlinie.
- 72.
Insoweit ist demnach festzustellen, dass Artikel 2 der Elften Richtlinie
einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der WFBV entgegensteht, die
Zweigniederlassungen einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats
gegründeten Gesellschaft Offenlegungspflichten auferlegt, die nicht in der
Elften Richtlinie vorgesehen sind.
- 73.
Drittens fallen mehrere Bestimmungen der WFBV nicht unter die Elfte
Richtlinie. Es handelt sich um die Vorschriften über das erforderliche
Mindestkapital zum Zeitpunkt der Eintragung und während des Bestehens der
formal ausländischen Gesellschaft sowie um die Vorschriften über die an die
Nichterfüllung der Verpflichtungen aus der WFBV geknüpfte Sanktion, nämlich
die gesamtschuldnerische Haftung der Geschäftsführer neben der Gesellschaft
(Artikel 4 Absätze 1 und 2 WFBV). Diese Bestimmungen sind daher am Maßstab der
Artikel 43 EG und 48 EG zu prüfen.
Zum Bestehen einer Behinderung der Niederlassungsfreiheit
Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen
- 74.
Nach Auffassung der Handelskammer sowie der niederländischen, der
deutschen, der italienischen und der österreichischen Regierung stehen die
Artikel 43 EG und 48 EG der Anwendung von Bestimmungen wie denen der WFBV
nicht entgegen.
- 75.
Zunächst beträfen die Vorschriften der WFBV weder die Gründung von
Gesellschaften nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats noch ihre
Eintragung (und damit ihre Anerkennung). Die Wirksamkeit der Gründung werde
anerkannt und die Eintragung der Gesellschaften nicht verweigert, so dass die
Niederlassungsfreiheit nicht in Frage gestellt sei.
- 76.
Die Ausführungen des Gerichtshofes im Urteil vom
9. März 1999 in der
Rechtssache C-212/97 (Centros, Slg. 1999, I-1459) seien deshalb im
vorliegenden Fall nicht einschlägig, da sie nur Vorschriften beträfen, die die
Eintragung ausländischer Gesellschaften regelten, nicht aber das Recht der
Mitgliedstaaten berührten, Voraussetzungen für die Ausübung bestimmter
gewerblicher Tätigkeiten aufzustellen.
- 77.
Die niederländische Regierung macht geltend, dass in den Niederlanden für
Gesellschaften, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründet
worden seien und ihre Tätigkeit in den Niederlanden ausübten oder ausüben
wollten, eine sehr liberale Gründungsregelung gelte. Nach dem betreffenden
Grundsatz, wie er in Artikel 2 der Wet conflictenrecht corporaties (Gesetz mit
Kollisionsnormen für Körperschaften) vom 17. Dezember 1997 formuliert sei,
unterliege eine Körperschaft, die aufgrund ihres Gründungsvertrags oder ihres
Gründungsakts zum Zeitpunkt der Gründung ihren Sitz oder, in Ermangelung
dessen, den Schwerpunkt ihres Auftretens nach außen im Gebiet des Staates hat,
nach dessen Recht sie gegründet worden ist, dem Recht dieses Staates.
- 78.
Die Existenz von Gesellschaften, die wirksam nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats gegründet worden seien, werde ohne weitere Formalitäten in den
Niederlanden anerkannt. Diese Gesellschaften unterlägen dem Recht des
Gründungsstaats; es sei grundsätzlich nicht von Bedeutung, ob die betreffende
Gesellschaft dort eine Tätigkeit entfalte.
- 79.
In der Praxis habe sich jedoch herausgestellt, dass diese sehr großzügige
Regelung zunehmend dazu geführt habe, dass ausländische Gesellschaften zu
Zwecken gegründet worden seien, die der niederländische Gesetzgeber weder
beabsichtigt noch auch nur vorhergesehen habe. Immer häufiger würden
Gesellschaften, die ihre Tätigkeit hauptsächlich oder sogar ausschließlich auf
dem niederländischen Markt entfalteten, im Ausland gegründet, um den
zwingenden Verpflichtungen des niederländischen Gesellschaftsrechts zu
entgehen.
- 80.
Angesichts dieser Entwicklung enthalte Artikel 6 der Wet conflictenrecht
corporaties eine beschränkte Ausnahme von dieser liberalen Regelung, indem er
bestimme, dass dieses Gesetz die Vorschriften der WFBV unberührt lasse.
- 81.
Weiter führen die Handelskammer sowie die niederländische, die deutsche,
die italienische und die österreichische Regierung aus, dass die Vorschriften
der WFBV nicht die Niederlassungsfreiheit beträfen, sondern lediglich für
Kapitalgesellschaften, die nach einem anderen als dem niederländischen Recht
gegründet worden seien, eine begrenzte Zahl zusätzlicher Voraussetzungen für
die Ausübung ihrer gewerblichen Tätigkeit und die Verwaltung der Gesellschaft
vorsähen, damit sichergestellt sei, dass Dritte eindeutige Kenntnis davon
erhielten, dass Gesellschaften wie die Inspire Art formal ausländische
Gesellschaften seien, und darüber hinaus - aufgrund der Hinterlegung
bestimmter Urkunden und Erklärungen - bei Geschäften mit diesen Gesellschaften
dieselben Sicherheiten hätten wie bei niederländischen Gesellschaften.
- 82.
Diese Voraussetzungen seien nicht diskriminierend, da sie ihre
Entsprechung in den zwingenden Vorschriften des niederländischen
Gesellschaftsrechts hätten, die für in den Niederlanden gegründete
Gesellschaften mit beschränkter Haftung gälten. Darüber hinaus dienten diese
Voraussetzungen, die sowohl von niederländischen Gesellschaften als auch von
formal ausländischen Gesellschaften zu erfüllen seien, dem Schutz
nichtwirtschaftlicher, auf Gemeinschaftsebene anerkannter Interessen im Rahmen
des Verbraucher- und des Gläubigerschutzes.
- 83.
Die Handelskammer sowie die niederländische, die deutsche und die
österreichische Regierung machen geltend, dass die WFBV nach internationalem
Privatrecht anwendbar sei, und verweisen auf das Urteil vom 27. September 1988
in der Rechtssache 81/87 (Daily Mail and General Trust, Slg. 1988, 5483) und
die einschlägige Rechtsprechung. Der Gerichtshof habe in dieser Rechtssache
entschieden, dass die Artikel 43 EG und 48 EG den Mitgliedstaaten nicht
untersagten, selbst zu bestimmen, worin die Anknüpfung an ihre nationale
Rechtsordnung bei einer Gesellschaft bestehe. Diese Artikel hinderten folglich
die Mitgliedstaaten nicht, auf der Grundlage des internationalen Privatrechts
Vorschriften zu erlassen, die für Gesellschaften gälten, die zum Teil unter
das niederländische Recht fielen. In diesem Zusammenhang stelle die WFBV nur
zusätzlich zur Anknüpfung an den Ort der Gründung und der Eintragung auf den
Ort ab, an dem die Gesellschaft ihre Tätigkeit entfalte.
- 84.
Die deutsche und die österreichische Regierung tragen in grundsätzlicher
Hinsicht außerdem vor, dass der Zweck der Artikel 43 EG und 48 EG, was das
Recht zur Gründung einer Zweigniederlassung angehe, darin liege, Unternehmen,
die in einem Mitgliedstaat eine Tätigkeit entfalteten, die Expansion in einen
anderen Mitgliedstaat zu ermöglichen, was in Bezug auf
Briefkastengesellschaften nicht zutreffe.
- 85.
Die deutsche und die österreichische Regierung werfen die Frage auf, ob im
Fall formal ausländischer Gesellschaften Zweigniederlassungen nicht vielmehr
als Hauptniederlassungen zu beurteilen seien und ob nicht auf sie die
Grundsätze der primären Niederlassungsfreiheit anzuwenden seien. Aus derselben
Sicht macht die italienische Regierung geltend, dass der Umstand, dass eine in
einem Mitgliedstaat gegründete Gesellschaft dort niemals eine Tätigkeit
entfaltet habe, ausschließe, dass sie als Zweigniederlassung angesehen werden
könne, wenn sie ihre geschäftliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat
ausübe. Dadurch, dass sie ihre Tätigkeit ausschließlich in einem anderen
Mitgliedstaat als dem ausübe, zu dem sie formal gehöre, müsse eine solche
Gesellschaft als im erstgenannten Mitgliedstaat errichtete Hauptniederlassung
angesehen werden.
- 86.
Schließlich tragen die niederländische, die deutsche und die italienische
Regierung vor, dass der Gerichtshof anerkannt habe, dass ein Mitgliedstaat
berechtigt sei, Maßnahmen zu treffen, die verhindern sollten, dass sich einige
seiner Staatsangehörigen unter Ausnutzung der durch den EG-Vertrag
geschaffenen Möglichkeiten in missbräuchlicher Weise der Anwendung des
nationalen Rechts entzögen und sich missbräuchlich oder betrügerisch auf
Gemeinschaftsrecht berufen könnten (Urteil Centros, Randnr. 24, und die dort
zitierte Rechtsprechung). Ob eine missbräuchliche Ausnutzung vorliege, sei
insbesondere unter Beachtung der Ziele der fraglichen Bestimmungen des
Gemeinschaftsrechts zu beurteilen (Urteil vom 2. Mai 1996 in der Rechtssache
C-206/94, Paletta, Slg. 1996, I-2357, Randnr. 25).
- 87.
Die genannten Regierungen machen geltend, dass nach den Urteilen vom 10.
Juli 1986 in der Rechtssache 79/85 (Segers, Slg. 1986, 2375, Randnr. 16) und
Centros (Randnr. 29) der Umstand, dass eine Gesellschaft in einem
Mitgliedstaat gegründet worden sei, ihre gesamte Tätigkeit aber durch eine in
einem anderen Mitgliedstaat errichtete Zweigniederlassung ausübe, nicht
genüge, um den Beteiligten unter Berufung auf einen Missbrauch, eine Täuschung
und/oder eine nicht hinnehmbare Umgehung der nationalen Gesetze das Recht auf
freie Niederlassung abzusprechen.
- 88.
Im vorliegenden Fall verweigere die WFBV jedoch weder die Anerkennung
einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft
noch hindere sie an der Eintragung der Zweigniederlassung, sondern sie sehe
lediglich eine Reihe beschränkter präventiver Verpflichtungen und eine
repressive Kontrolle für den Fall vor, dass sich eine Gesellschaft den
zwingenden Vorschriften des Gesellschaftsrechts entziehe, die in dem
Mitgliedstaat gälten, in dem sie ihre gesamte Tätigkeit ausübe.
- 89.
Gehe wie im Ausgangsverfahren eine Gesellschaft über die bloße Ausübung
des Rechts auf freie Niederlassung hinaus und diene ihre Gründung in einem
anderen Mitgliedstaat dazu, sich sämtlichen Vorschriften zu entziehen, die für
die Gründung und den Betrieb von Gesellschaften in dem Mitgliedstaat gälten,
in dem sie ihre gesamte Tätigkeit ausübe, würde es folglich zu einer nicht
hinnehmbaren Umgehung der nationalen Rechtsvorschriften führen, wenn dieser
Gesellschaft die Berufung auf die Niederlassungsfreiheit erlaubt würde. Der
Erlass von Bestimmungen wie derjenigen der WFBV sei daher nach dem derzeitigen
Stand des Gemeinschaftsrechts gerechtfertigt.
- 90.
Nach Ansicht der Inspire Art, der Regierung des Vereinigten Königreichs
und der Kommission dagegen beeinträchtigen die Bestimmungen der WFBV die durch
die Artikel 43 EG und 48 EG garantierte Niederlassungsfreiheit, da sie formal
ausländischen Gesellschaften Verpflichtungen auferlegten, die das
Niederlassungsrecht für diese Gesellschaften deutlich weniger attraktiv
machten. Das sei auch erklärtermaßen das Ziel dieser Bestimmungen.
- 91.
Die Inspire Art, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die
Kommission tragen vor, dass die Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit
in einem Fall wie dem vorliegenden anwendbar seien. Unter Berufung auf die
Urteile Segers und Centros führen sie aus, dass sich eine Gesellschaft auch
dann auf die Niederlassungsfreiheit berufen könne, wenn sie in einem
Mitgliedstaat nur gegründet worden sei, um sich in einem zweiten
Mitgliedstaat, in dem sie hauptsächlich oder sogar ausschließlich geschäftlich
tätig werde, niederlassen zu können. Es sei unerheblich, dass die Gesellschaft
im ersten Mitgliedstaat nur gegründet worden sei, um sich den gesetzlichen
Bestimmungen des zweiten Mitgliedstaats zu entziehen. Nach der genannten
Rechtsprechung sei dies kein Missbrauch, sondern die bloße Ausübung der durch
den Vertrag garantierten Niederlassungsfreiheit.
- 92.
Die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission führen aus,
dass Artikel 1 WFBV den Ort berücksichtige, an dem die Tätigkeit der
Gesellschaft ausgeübt werde, um daran eine Reihe zwingender Bestimmungen des
Aufnahmestaats zu knüpfen. Dadurch, dass als Anknüpfungsfaktor die
tatsächliche Tätigkeit herangezogen werde, die keinem der in Artikel 48 EG
festgelegten Kriterien entspreche, werde die Niederlassungsfreiheit
beeinträchtigt, da deren Ausübung für Gesellschaften, die im Ausland gegründet
worden seien, um sich anschließend in den Niederlanden zu betätigen, an
Interesse verlöre, weil zusätzlich zu den Vorschriften des Gründungsstaats
weitere Regeln für anwendbar erklärt würden.
- 93.
Die Inspire Art vertritt die gleiche Auslegung der WFBV. Sie führt aus,
dass das nationale Recht Gesellschaften grundsätzlich dem nationalen Recht
unterwerfe, nach dem sie gegründet worden seien, dass aber der niederländische
Gesetzgeber die als missbräuchlich angesehene Gründung von Gesellschaften nach
ausländischem Recht mit dem Ziel, ihre Tätigkeit ausschließlich oder
hauptsächlich in den Niederlanden auszuüben, habe bekämpfen wollen, indem er
die Bestimmungen des niederländischen Gesetzes über Gesellschaften für auf
derartige Gesellschaften anwendbar erklärt habe. Der Gesetzgeber habe diese
Regelung mit dem Gläubigerschutz gerechtfertigt. Die WFBV sei infolgedessen
nicht als Anwendung der Theorie des wahren Sitzes zu verstehen, nach der eine
Gesellschaft dem Recht des Mitgliedstaats unterliege, in dessen Hoheitsgebiet
sie ihren tatsächlichen Sitz habe.
- 94.
Schließlich unterstreicht die Regierung des Vereinigten Königreichs die
fundamentale Bedeutung, die die Möglichkeit, Zweitniederlassungen in anderen
Mitgliedstaaten zu gründen, für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes
habe. Das Urteil Centros könne im vorliegenden Fall uneingeschränkt
herangezogen werden.
Antwort des Gerichtshofes
- 95.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden
hat, dass es für die Anwendung der Vorschriften über die
Niederlassungsfreiheit ohne Bedeutung ist, dass eine Gesellschaft in einem
Mitgliedstaat nur errichtet wurde, um sich in einem zweiten Mitgliedstaat
niederzulassen, in dem die Geschäftstätigkeit im Wesentlichen oder
ausschließlich ausgeübt werden soll (Urteile Segers, Randnr. 16, und
Centros,
Randnr. 17). Die Gründe, aus denen eine Gesellschaft in einem bestimmten
Mitgliedstaat errichtet wird, sind nämlich, sieht man vom Fall des Betruges
ab, für die Anwendung der Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit
irrelevant (Urteil Centros, Randnr. 18).
- 96.
Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass der Umstand, dass eine
Gesellschaft in einem Mitgliedstaat nur gegründet wurde, um in den Genuss
vorteilhafterer Rechtsvorschriften zu kommen, keinen Missbrauch darstellt, und
zwar auch dann nicht, wenn die betreffende Gesellschaft ihre Tätigkeiten
hauptsächlich oder ausschließlich in diesem zweiten Staat ausübt (Urteile
Segers, Randnr. 16, und Centros, Randnr. 18).
- 97.
Hieraus folgt, dass diese Gesellschaften das Recht haben, ihre Tätigkeit
in einem anderen Mitgliedstaat durch eine Zweigniederlassung auszuüben, wobei
ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung,
ebenso wie die Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen, dazu dient, ihre
Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zu bestimmen (Urteile vom
28. Januar 1986 in der Rechtssache 270/83, Kommission/Frankreich, Slg. 1986,
273, Randnr. 18, Segers, Randnr. 13, und Centros, Randnr. 20).
- 98.
Somit schließt im Ausgangsverfahren der Umstand, dass die Inspire Art im
Vereinigten Königreich gegründet wurde, um die Vorschriften des
niederländischen Gesellschaftsrechts zu umgehen, das u. a. bezüglich des
Mindestkapitals und der Einzahlung der Aktien strengere Voraussetzungen
enthält, nicht aus, dass die Errichtung einer Zweigniederlassung dieser
Gesellschaft in den Niederlanden unter die Niederlassungsfreiheit nach den
Artikeln 43 EG und 48 EG fällt. Wie der Gerichtshof im Urteil
Centros
entschieden hat (Randnr. 18), ist die Frage der Anwendung dieser Artikel eine
andere als die, ob ein Mitgliedstaat Maßnahmen ergreifen kann, um zu
verhindern, dass sich einige seiner Staatsangehörigen unter Ausnutzung der
durch den EG-Vertrag geschaffenen Möglichkeiten in missbräuchlicher Weise der
Anwendung des nationalen Rechts entziehen.
- 99.
Dem Vorbringen, dass die WFBV keineswegs die Niederlassungsfreiheit
beeinträchtige, da ausländische Gesellschaften in den Niederlanden
uneingeschränkt anerkannt würden, ihre Eintragung in das niederländische
Handelsregister nicht verweigert werde und die WFBV nur eine Reihe
zusätzlicher, administrativer Verpflichtungen enthalte, kann nicht gefolgt
werden.
- 100.
Die WFBV hat nämlich zur Folge, dass die Vorschriften des niederländischen
Gesellschaftsrechts über das Mindestkapital und die Haftung der
Geschäftsführer zwingend auf ausländische Gesellschaften wie die Inspire Art
angewandt werden, wenn sie ihre Tätigkeiten ausschließlich oder nahezu
ausschließlich in den Niederlanden ausüben.
- 101.
Die Gründung einer Zweigniederlassung in den Niederlanden durch eine
derartige Gesellschaft unterliegt somit bestimmten Vorschriften, die in diesem
Staat für die Gründung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung gelten. Die
im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung, die die Zweigniederlassung
einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft dazu
verpflichtet, die Vorschriften des Niederlassungsstaats über das Stammkapital
und die Haftung der Geschäftsführer zu beachten, führt dazu, dass die Ausübung
der vom Vertrag anerkannten Niederlassungsfreiheit durch diese Gesellschaften
behindert wird.
- 102.
Schließlich ist das aus dem Urteil Daily Mail and General Trust
hergeleitete Vorbringen zu prüfen, dass die Mitgliedstaaten weiterhin das auf
eine Gesellschaft anwendbare Recht bestimmen könnten, da die Vorschriften über
die Niederlassungsfreiheit nicht zu einer Harmonisierung des internationalen
Privatrechts der Mitgliedstaaten geführt hätten. Die Mitgliedstaaten blieben
insoweit befugt, gegen Briefkastengesellschaften vorzugehen; um eine solche
handele es sich im vorliegenden Fall mangels tatsächlicher Bindung an den
Gründungsstaat.
- 103.
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das Urteil Daily Mail and General
Trust anders als das Ausgangsverfahren die Beziehungen zwischen einer
Gesellschaft und dem Mitgliedstaat, nach dessen Recht sie gegründet worden
war, in dem Fall betrifft, in dem die Gesellschaft ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz unter Wahrung der ihr in ihrem Gründungsstaat zuerkannten
Rechtspersönlichkeit in einen anderen Mitgliedstaat verlegen will. Im
Ausgangsverfahren fragt das vorliegende Gericht den Gerichtshof danach, ob auf
eine Gesellschaft, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet wurde,
die Rechtsvorschriften des Staates anwendbar sind, in dem sie sich tatsächlich
betätigt (in diesem Sinne Urteil vom 5. November 2002 in der Rechtssache
C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919, Randnr. 62).
- 104.
Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Bestimmungen der WFBV über das
Mindestkapital (sowohl zum Zeitpunkt der Gründung als auch während des
Bestehens der Gesellschaft) und über die Haftung der Geschäftsführer
Beschränkungen der in den Artikeln 43 EG und 48 EG garantierten
Niederlassungsfreiheit darstellen.
- 105.
Folglich ist festzustellen, dass die Artikel 43 EG und 48 EG einer
Regelung eines Mitgliedstaats wie der WFBV entgegenstehen, die die Ausübung
der Freiheit zur Errichtung einer Zweitniederlassung in diesem Staat durch
eine nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft von
bestimmten Voraussetzungen abhängig macht, die im innerstaatlichen Recht für
die Gründung von Gesellschaften bezüglich des Mindestkapitals und der Haftung
der Geschäftsführer vorgesehen sind. Die Gründe, aus denen die Gesellschaft in
dem anderen Mitgliedstaat errichtet wurde, sowie der Umstand, dass sie ihre
Tätigkeit ausschließlich oder nahezu ausschließlich im Mitgliedstaat der
Niederlassung ausübt, nehmen ihr nicht das Recht, sich auf die durch den
Vertrag garantierte Niederlassungsfreiheit zu berufen, es sei denn, im
konkreten Fall wird ein Missbrauch nachgewiesen.
Zum Vorliegen von Rechtfertigungsgründen
- 106.
Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Bestimmungen der WFBV über die
Offenlegung, die gegen die Elfte Richtlinie verstoßen (siehe Randnrn. 71 und
72 des vorliegenden Urteils), nicht gerechtfertigt werden können. Im Folgenden
werden daher nur die Bestimmungen der WFBV über das Mindestkapital und die
Haftung der Geschäftsführer geprüft.
- 107.
Da diese Vorschriften eine Behinderung der Niederlassungsfreiheit
darstellen, ist zu prüfen, ob sie aus einem der in Artikel 46 EG genannten
Gründe oder, falls keiner dieser Gründe vorliegt, aus einem zwingenden Grund
des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein können.
Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen
- 108.
Nach Ansicht der Handelskammer sowie der niederländischen, der deutschen
und der österreichischen Regierung sind die Bestimmungen der WFBV sowohl nach
Artikel 46 EG als auch aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses
gerechtfertigt.
- 109.
Die WFBV diene nämlich der Bekämpfung von Betrügereien, dem Schutz der
Gläubiger, der Gewährleistung der Wirksamkeit von Steuerkontrollen und der
Lauterkeit des Handelsverkehrs. Diese Ziele seien vom Gerichtshof als
Rechtfertigungsgründe anerkannt worden.
- 110.
Die Bestimmung in Artikel 4 WFBV über das Mindestkapital, seine Einzahlung
und seine Erhaltung diene dem Schutz der Gläubiger und Dritter. Die Bedeutung
des Mindestkapitals sei in Artikel 6 der Zweiten Richtlinie ausdrücklich
anerkannt. Die Vorschriften über das Mindestkapital bezweckten vor allem, die
finanzielle Leistungsfähigkeit der Gesellschaften zu stärken und auf diese
Weise einen besseren Schutz privater und öffentlicher Gläubiger zu
gewährleisten. Sie dienten allgemein dazu, die Gläubiger vor der Gefahr einer
missbräuchlichen Insolvenz infolge der Gründung von Gesellschaften zu
schützen, die von Anfang an nicht mit ausreichendem Kapital ausgestattet
seien.
- 111.
Die gesamtschuldnerische Haftung der Geschäftsführer ist nach Auffassung
der niederländischen Regierung eine angemessene Sanktion für den Fall, dass
die Bestimmungen der WFBV nicht beachtet werden. Die Mitgliedstaaten verfügten
in Ermangelung gemeinschaftlicher Harmonisierungsmaßnahmen bei der Festsetzung
der Sanktionen für die Nichtbeachtung ihrer nationalen Vorschriften über ein
weites Ermessen (Urteil vom 9. Dezember 1997 in der Rechtssache C-265/95,
Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-6959, Randnr. 33). Die genannte Sanktion
sei gewählt worden, damit dieselbe Vorschrift Anwendung finde, die auch für
die Geschäftsführer niederländischer Gesellschaften gelte. Die Sanktion sei im
Gemeinschaftsrecht auch nicht unbekannt, wie durch Artikel 51 der Verordnung
(EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der
Europäischen Gesellschaft (SE) (ABl. L 294, S. 1) bestätigt werde.
- 112.
Da die Geschäftsführer für den reibungslosen Ablauf der Geschäfte der
Gesellschaft verantwortlich seien, liege es außerdem nahe, dass sie hafteten,
wenn die Gesellschaft die Bestimmungen der WFBV nicht beachte.
- 113.
Schließlich erlaube Artikel 4 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie den
Mitgliedstaaten, geeignete Vorschriften über die Haftung für von der
Gesellschaft oder für deren Rechnung eingegangene Verbindlichkeiten für den
Fall zu erlassen, dass die Gesellschaft nicht auflösbar sei.
- 114.
Die Handelskammer ergänzt, dass die Bestimmungen der WFBV nicht
diskriminierend seien. Sie führten vielmehr dazu, dass auf ausländische
Gesellschaften die für Gesellschaften niederländischen Rechts geltenden
Vorschriften angewandt würden.
- 115.
Die niederländische Regierung macht geltend, dass die Bestimmungen der
WFBV über das Mindestkapital und die Haftung der Geschäftsführer geeignet
seien, das verfolgte Ziel zu erreichen. Sie betont insoweit, dass diese Frage
nur unter Berücksichtigung des Hauptanliegens der WFBV beurteilt werden könne,
nämlich des Kampfes gegen die missbräuchliche Gründung ausländischer
Gesellschaften und die missbräuchliche Inanspruchnahme der
Niederlassungsfreiheit.
- 116.
Die österreichische Regierung weist ferner darauf hin, dass die
Vorschriften über das Mindestkapital ein geeignetes und verhältnismäßiges
Mittel seien, wie es im Gemeinschaftsrecht anerkannt sei. So habe für
Aktiengesellschaften die Zweite Richtlinie selbst die Höhe des Mindestkapitals
festgelegt. Für Gesellschaften mit beschränkter Haftung gebe es zwar keine
vergleichbare Vorschrift. Mit Ausnahme Irlands und des Vereinigten Königreichs
Großbritannien und Nordirland gebe es aber in allen Mitgliedstaaten
Vorschriften über das Mindestkapital, das diese Gesellschaften garantieren
müssten. Im Gegensatz zur persönlichen Haftung der Gesellschafter, die im Fall
eines Konkurses oftmals keinerlei Nutzen zeitige, biete das Stammkapital
größere Sicherheit.
- 117.
Nach Auffassung der Handelskammer gehen die Maßnahmen nicht über das zur
Erreichung des verfolgten Zieles Erforderliche hinaus. Die Nichterfüllung der
Verpflichtungen aus der WFBV führe nicht dazu, dass die Anerkennung der
ausländischen Gesellschaft verweigert werde, sondern nur dazu, dass die
Geschäftsführer als Gesamtschuldner hafteten. Dass eine Gesellschaft nicht
oder nicht mehr den Vorschriften über das Mindestkapital entspreche, sei ein
klares Indiz dafür, dass die Gefahr eines Missbrauchs oder eines Betruges
bestehe, wenn die Gesellschaft darüber hinaus keine echte Bindung an den
Gründungsstaat aufweise.
- 118.
Die Inspire Art, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die
Kommission vertreten die entgegengesetzte Auffassung und halten die
Bestimmungen der WFBV nicht für gerechtfertigt.
- 119.
Zunächst könne aus Artikel 46 EG keine Rechtfertigung der WFBV hergeleitet
werden.
- 120.
Was den Rechtsmissbrauch angehe, ergebe sich aus dem Urteil
Centros, dass
ein derartiger Missbrauch nicht bereits darin liegen könne, dass eine
Gesellschaft im Gründungsstaat keine Tätigkeit entfalte. Es sei vielmehr Sache
der nationalen Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu prüfen, ob die
Voraussetzungen für eine Rechtfertigung einer solchen Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit vorlägen. Eine so allgemeine Regelung wie die WFBV
erfülle diese Voraussetzung nicht.
- 121.
Im Urteil Centros sei anerkannt worden, dass ein Mitgliedstaat die
Niederlassungsfreiheit einschränken könne, wenn er sich auf die Beachtung von
Vorschriften über die Ausübung bestimmter gewerblicher Tätigkeiten berufe. Das
sei hier aber nicht der Fall. Im Fall der Inspire Art gehe es nämlich nicht um
die Regelung der Ausübung der Tätigkeit dieser Gesellschaft in den
Niederlanden, sondern um die Frage, ob die Vorschriften des niederländischen
Gesellschaftsrechts, wie die Vorschriften über das Mindestkapital, bei der
Errichtung einer Zweitniederlassung der Gesellschaft in den Niederlanden
beachtet werden müssten. Der Gerichtshof habe im Urteil Centros entschieden,
dass die Ausnutzung der günstigeren Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats
für sich allein keinen Missbrauch darstelle, sondern dass damit gerade die
Niederlassungsfreiheit ausgeübt werde.
- 122.
Die Inspire Art, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die
Kommission tragen ferner vor, dass der Gerichtshof im Urteil
Centros
entschieden habe, dass der Schutz der Gläubiger grundsätzlich nicht unter die
Ausnahmeregelung des Artikels 46 EG falle.
- 123.
Die Bestimmungen der WFBV über das Mindestkapital und die Haftung der
Geschäftsführer könnten auch nicht mit dem Gläubigerschutz als zwingendem
Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden, da sie nicht geeignet
seien, diesen Schutz zu gewährleisten.
- 124.
Die Inspire Art und die Kommission führen in diesem Zusammenhang aus, dass
die Gesellschaft als Gesellschaft englischen Rechts auftrete und dass die
Gläubiger daher insoweit nicht getäuscht werden könnten.
- 125.
Zudem seien auch die Gläubiger in gewissem Maß für ihre Handlungen
verantwortlich. Wenn ihnen die Sicherheiten, die ihnen das englische Recht
biete, nicht genügten, könnten sie entweder auf zusätzlichen Garantien
bestehen oder von Geschäften mit einer Gesellschaft ausländischen Rechts
absehen.
- 126.
Die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission tragen vor,
dass die WFBV nicht anwendbar gewesen wäre, wenn die Inspire Art in einem
anderen Mitgliedstaat auch nur eine geringfügige Tätigkeit ausgeübt hätte. In
diesem Fall sei aber die Gefahr für die Gläubiger mindestens genauso groß wie
in dem Fall, dass die Tätigkeit ausschließlich in den Niederlanden ausgeübt
werde.
- 127.
Nach Auffassung der Inspire Art gewährleisten die Bestimmungen über das
Mindestkapital keinen Gläubigerschutz. So könne das Mindestkapital z. B.
unmittelbar nach der Aufbringung und nach der Eintragung der Gesellschaft als
Darlehen vergeben werden, selbst wenn es sich um eine Gesellschaft
niederländischen Rechts handele. Es stünde damit den Gläubigern nicht zur
Verfügung. Die Bestimmungen der WFBV über das Mindestkapital seien somit zur
Erreichung des angestrebten Gläubigerschutzes nicht geeignet.
- 128.
Die Inspire Art und die Kommission machen geltend, dass die Vorschriften
über die gesamtschuldnerische Haftung der Geschäftsführer diskriminierend
seien. Nach Artikel 4 Absatz 4 WFBV hafteten die Geschäftsführer als
Gesamtschuldner, wenn nach der Eintragung ins Handelsregister das
Mindestkapital unter die festgesetzte Grenze absinke. Die Geschäftsführer
einer nach niederländischem Recht gegründeten Gesellschaft mit beschränkter
Haftung unterlägen hingegen nicht dieser strengen Haftung. Außerdem werde der
Kreis der potenziell haftenden Personen gegenüber Gesellschaften
niederländischen Rechts auf diejenigen erweitert, die tatsächlich die
Geschäfte der Gesellschaft führten.
- 129.
Die Inspire Art, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die
Kommission vertreten die Auffassung, dass die Bestimmungen des Artikels 4
Absätze 1, 2 und 4 WFBV unverhältnismäßig seien, da die Inspire Art als
Gesellschaft englischen Rechts auftrete.
- 130.
Außerdem seien weniger einschneidende Maßnahmen denkbar. So könnte man z.
B., wie der Gerichtshof im Urteil Centros anerkannt habe, für Gläubiger
gesetzlich die Möglichkeit schaffen, die notwendigen Garantien von diesen
ausländischen Niederlassungen zu erhalten, wenn sie sich durch das
Gesellschaftsrecht des Gründungsstaats nicht für ausreichend geschützt
hielten.
Antwort des Gerichtshofes
- 131.
Zunächst ist festzustellen, dass sich keines der Argumente, die die
niederländische Regierung zur Rechtfertigung der im Ausgangsverfahren in Rede
stehenden Regelung vorgebracht hat, auf Artikel 46 EG bezieht.
- 132.
Zu prüfen ist daher, ob die von der niederländischen Regierung
vorgebrachten Rechtfertigungsgründe, d. h. der Gläubigerschutz, die Bekämpfung
einer missbräuchlichen Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit, die Erhaltung
der Wirksamkeit der Steuerkontrollen und die Lauterkeit des Handelsverkehrs,
zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen.
- 133.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes sind nationale Maßnahmen, die
die Ausübung der durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten behindern
oder weniger attraktiv machen können, gerechtfertigt, wenn vier
Voraussetzungen erfüllt sind: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise
angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses
gerechtfertigt sein, sie müssen zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet
sein, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses
Zieles erforderlich ist (vgl. die Urteile vom 31. März 1993 in der Rechtssache
C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663, Randnr. 32, vom 30. November 1995 in der
Rechtssache C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165, Randnr. 37, und
Centros,
Randnr. 34).
- 134.
Folglich ist zu prüfen, ob Bestimmungen über das Mindestkapital wie die
des Ausgangsverfahrens diese Voraussetzungen erfüllen.
- 135.
Erstens ist zum Gläubigerschutz ohne weitere Prüfung, ob die Vorschriften
über das Mindestkapital als solche einen geeigneten Schutzmechanismus bilden,
festzustellen, dass die Inspire Art als Gesellschaft englischen Rechts und
nicht als niederländische Gesellschaft auftritt. Ihre potenziellen Gläubiger
sind hinreichend darüber unterrichtet, dass sie anderen Rechtsvorschriften als
denen unterliegt, die in den Niederlanden die Gründung von Gesellschaften mit
beschränkter Haftung regeln, u. a., was die Vorschriften über das
Mindestkapital und die Haftung der Geschäftsführer betrifft. Wie der
Gerichtshof in Randnummer 36 des Urteils Centros ausgeführt hat, können sich
die Gläubiger ferner auf bestimmte gemeinschaftsrechtliche Schutzregelungen
wie die Vierte und die Elfte Richtlinie berufen.
- 136.
Zweitens ist bezüglich der Bekämpfung der missbräuchlichen Ausnutzung der
Niederlassungsfreiheit daran zu erinnern, dass ein Mitgliedstaat berechtigt
ist, Maßnahmen zu treffen, die verhindern sollen, dass sich einige seiner
Staatsangehörigen unter Ausnutzung der durch den Vertrag geschaffenen
Möglichkeiten in missbräuchlicher Weise der Anwendung des nationalen Rechts
entziehen; die missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf
Gemeinschaftsrecht ist nicht gestattet (Urteil Centros, Randnr. 24 und die
dort zitierte Rechtsprechung).
- 137.
Im vorliegenden Fall wurde aber mit der Gründung der Inspire Art nach dem
Gesellschaftsrecht eines Mitgliedstaats, nämlich des Vereinigten Königreichs,
zwar u. a. der Zweck verfolgt, der Anwendung des als strenger angesehenen
niederländischen Gesellschaftsrechts zu entgehen, doch ist es gerade Ziel der
Vertragsvorschriften über die Niederlassungsfreiheit, es den nach dem Recht
eines Mitgliedstaats errichteten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen
Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der
Gemeinschaft haben, zu erlauben, mittels einer Agentur, Zweigniederlassung
oder Tochtergesellschaft in anderen Mitgliedstaaten tätig zu werden (Urteil
Centros, Randnr. 26).
- 138.
Wenn also ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der eine
Gesellschaft gründen möchte, diese in dem Mitgliedstaat errichtet, dessen
gesellschaftsrechtliche Vorschriften ihm die größte Freiheit lassen, und
anschließend in anderen Mitgliedstaaten Zweigniederlassungen gründet, so übt
er damit, wie der Gerichtshof in Randnummer 27 des Urteils Centros
festgestellt hat, die durch den Vertrag garantierte Niederlassungsfreiheit im
Binnenmarkt aus.
- 139.
Darüber hinaus belegt nach ständiger Rechtsprechung (Urteile Segers,
Randnr. 16, und Centros, Randnr. 29) der Umstand, dass eine Gesellschaft in
dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, keine Tätigkeit entfaltet und
ihre Tätigkeit ausschließlich oder hauptsächlich im Mitgliedstaat ihrer
Zweigniederlassung ausübt, noch kein missbräuchliches und betrügerisches
Verhalten, das es dem letzteren Mitgliedstaat erlauben würde, auf die
betreffende Gesellschaft die Gemeinschaftsvorschriften über das
Niederlassungsrecht nicht anzuwenden.
- 140.
Was schließlich die Frage angeht, ob die WFBV mit der Erhaltung der
Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Wirksamkeit der Steuerkontrollen
gerechtfertigt werden kann, so ist festzustellen, dass weder die Handelskammer
noch die niederländische Regierung dargetan haben, dass die betreffende
Maßnahme die in Randnummer 132 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien
der Wirksamkeit, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung erfüllt.
- 141.
Da die Bestimmungen über das Mindestkapital mit der durch den Vertrag
garantierten Niederlassungsfreiheit unvereinbar sind, gilt zwangsläufig
dasselbe für die Sanktionen, die an die Nichterfüllung der fraglichen
Verpflichtungen geknüpft sind, d. h. die persönliche gesamtschuldnerische
Haftung der Geschäftsführer in dem Fall, dass das Kapital nicht den im
nationalen Recht vorgeschriebenen Mindestbetrag erreicht oder während des
Betriebes unter diesen sinkt.
- 142.
Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass weder Artikel 46 EG
noch der Gläubigerschutz, die Bekämpfung der missbräuchlichen Ausnutzung der
Niederlassungsfreiheit oder die Erhaltung der Lauterkeit des Handelsverkehrs
und der Wirksamkeit der Steuerkontrollen die Behinderung der durch den Vertrag
garantierten Niederlassungsfreiheit rechtfertigen, die nationale
Rechtsvorschriften wie die in Rede stehenden über das Mindestkapital und die
persönliche gesamtschuldnerische Haftung der Geschäftsführer darstellen.
- 143.
Nach alledem sind die Vorlagefragen wie folgt zu beantworten:
Artikel 2 der Elften Richtlinie steht einer Regelung eines Mitgliedstaats
wie der WFBV entgegen, die Zweigniederlassungen einer nach dem Recht eines
anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft Offenlegungspflichten
auferlegt, die nicht in dieser Richtlinie vorgesehen sind.
Die Artikel 43 EG und 48 EG stehen einer Regelung eines Mitgliedstaats wie
der WFBV entgegen, die die Ausübung der Freiheit zur Errichtung einer
Zweitniederlassung in diesem Staat durch eine nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft von bestimmten Voraussetzungen abhängig
macht, die im innerstaatlichen Recht für die Gründung von Gesellschaften
bezüglich des Mindestkapitals und der Haftung der Geschäftsführer vorgesehen
sind. Die Gründe, aus denen die Gesellschaft in dem anderen Mitgliedstaat
errichtet wurde, sowie der Umstand, dass sie ihre Tätigkeit ausschließlich
oder nahezu ausschließlich im Mitgliedstaat der Niederlassung ausübt, nehmen
ihr nicht das Recht, sich auf die durch den EG-Vertrag garantierte
Niederlassungsfreiheit zu berufen, es sei denn, im konkreten Fall wird ein
Missbrauch nachgewiesen.
Kosten
- 144.
Die Auslagen der niederländischen, der deutschen, der italienischen und
der österreichischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und
der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind
nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das
Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
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