Internationales Gesellschaftsrecht: Reichweite der Gründungstheorie
(Eigenhaftung des Geschäftsführers einer "englischen" private limited
company); Anknüpfung der deliktischen Haftung des Geschäftsführers nach
Deliktsstatut
BGH, Urteil
vom 14. März 2005 - II ZR 5/03
Fundstelle:
NJW 2005, 1648
Amtl.
Leitsätze:
a) Die Haftung des Geschäftsführers für
rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten einer gemäß Companies Act 1985 in
England gegründeten private limited company mit tatsächlichem
Verwaltungssitz in der Bundesrepublik Deutschland richtet sich nach dem am
Ort ihrer Gründung geltenden Recht.
b) Der Niederlassungsfreiheit (Art. 43, 48 EG) steht entgegen, den
Geschäftsführer einer solchen englischen private limited company mit
Verwaltungssitz in Deutschland wegen fehlender Eintragung in einem deutschen
Handelsregister der persönlichen Handelndenhaftung analog § 11 Abs. 2 GmbHG
für deren rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten zu unterwerfen.
Zentrale Probleme:
In der Folge insbesondere der Entscheidung
des EuGH in Sachen "Inspire Art" (EuGH,
Urt. v. 30. September 2003 - Rs C-167/01)
geht es um die Reichweite der Gründungstheorie. Der BGH unterwirft die Frage
der persönlichen Haftung des Geschäftsführers dem Gesellschaftsstatut und
schließt eine analoge Anwendung von § 11 II GmbHG aus europarechtlichen
Gründen (Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit) aus. Von besonderem
Interesse ist aber der Grund, aus welchem der BGH zurückverweist: Nur die
gesellschaftsrechtliche Eigenhaftung unterstellt er dem Deliktsstatut.
Soweit deliktische Haftungstatbestände (z.B. §§ 823 II, 826 BGB) in Betracht
kommen, unterstellt er diese nicht dem Gesellschaftsstatut, sondern dem
Deliktsstatut. Insofern kommt als Tatortort (Art. 40 EGBGB) deutsches Recht
zur Anwendung.
Zur Sitz- und Gründungstheorie s. auch
BGH v. 5.7.2004 - II ZR
389/02 = ZIP 2004, 1549 sowie EuGH Urteil v.
9.3.1999, Rs. C-212/97 "Centros", Slg. I 1999, 1459 = NJW 1999, 2027; EuGH, Urt. v.
5.11.2002 Rs. C-208/000 "Überseering", NJW 2002, 3614. Zur
Geltung der Gründungstheorie im Verhältnis zu den EFTA-Staaten s.
BGH v. 19.9.2005 - II ZR 372/03.
Zur internationalen Zuständigkeit nach Art. 22 Nr. 2 EuGVO s. S. auch
BGH v. 12.7.2011 - II ZR 28/10.
©sl 2005
Tatbestand:
Die Klägerin,
die sich mit der Herstellung und dem Vertrieb von technischen Gasen befaßt,
stellte der U. Ltd. (nachfolgend U. Ltd.) für vertraglich vereinbarte
Gaslieferungen und Vermietung von Gasflaschen in den Jahren 2000 und 2001
einen - unstreitigen - Gesamtbetrag von 3.393,87 DM in Rechnung. Die U.
Ltd., deren Geschäftsführer und Mitgesellschafter der Beklagte ist, wurde
schon vorher - am 11. Februar 2000 - gemäß dem Companies Act 1985 im
Companies House, C./UK als private limited company mit eingetragenem (Haupt-)Sitz
in L. registriert. Die gesamte Geschäftstätigkeit der Gesellschaft fand
hingegen - von ihrem tatsächlichen Verwaltungssitz in G. aus - nur in
Deutschland statt, ohne daß deren Eintragung in ein deutsches
Handelsregister erfolgt wäre. Die Rechnungen der Klägerin blieben unbezahlt.
Auf einen gegen die U. Ltd. gestellten Insolvenzantrag wurde durch Beschluß
des Amtsgerichts H. vom 20. September 2001 die Eröffnung des
Insolvenzverfahrens mangels Masse abgelehnt.
Die Klägerin nahm daraufhin wegen der unbeglichenen Rechnungen den Beklagten
als für die U. Ltd. Handelnden persönlich in Anspruch und erwirkte gegen ihn
einen Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts H. vom 16. Juli 2002. Auf den
Einspruch des Beklagten hat das zuständige Amtsgericht S. den
Vollstreckungsbescheid - mit Ausnahme eines Teils der Nebenforderungen -
aufrechterhalten. Die dagegen gerichtete Berufung des Beklagten blieb
erfolglos. Mit der vom Landgericht zugelassenen Revision erstrebt der
Beklagte weiterhin die vollständige Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe:
Die Revision
des Beklagten ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Das Berufungsgericht ist der Ansicht, der Beklagte hafte wegen Fehlens
einer Eintragung der U. Ltd. als Gesellschaft mit beschränkter Haftung in
einem deutschen Handelsregister als handelnder
Gesellschafter-Geschäftsführer analog § 11 Abs. 2 GmbHG persönlich für die
in ihrem Namen begründeten Kaufpreis- und Mietzinsverbindlichkeiten
gegenüber der Klägerin. Europarechtliche Normen stünden einer persönlichen
Haftung des Beklagten nicht entgegen. Zwar verstoße es nach der
Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften
(nachfolgend: EuGH) im Urteil vom 5. November 2002
(ZIP 2002, 2037 - Überseering) gegen die Niederlassungsfreiheit (Art.
43, 48 EG), wenn einer nach dem Recht eines Mitgliedstaates wirksam
gegründeten Gesellschaft von einem anderen Mitgliedstaat, in den sie ihren
Verwaltungssitz verlegt habe, die Rechts- und Parteifähigkeit abgesprochen
werde; jedoch rechtfertigten zwingende Gründe des Gemeinwohls Beschränkungen
der Niederlassungsfreiheit. Im Gläubigerinteresse sei durch Anwendung der
Sitztheorie sicherzustellen, daß eine im Ausland gegründete
Kapitalgesellschaft mit Tätigkeitsschwerpunkt in Deutschland - wie hier die
U. Ltd. - den deutschen Gründungsvorschriften unterworfen werde. Ihrer
Umgehung müsse durch eine persönliche Haftung der für die
Auslandsgesellschaft handelnden Personen analog § 11 Abs. 2 GmbHG begegnet
werden.
Diese Beurteilung hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
II. 1. Das Berufungsurteil ist allerdings nicht bereits wegen Fehlens eines
Tatbestandes gemäß § 540 ZPO als eines von Amts wegen zu berücksichtigenden
Verfahrensmangels aufzuheben. Zwar enthält das Urteil des Landgerichts über
die - insoweit zulässige - Inbezugnahme der tatsächlichen Feststellungen des
amtsgerichtlichen Urteils hinsichtlich des erstinstanzlichen Sach-und
Streitstandes (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) hinaus keine Ausführungen zum
zweitinstanzlichen Begehren des Beklagten als Berufungskläger. Jedoch ist -
was ausreicht (vgl. BGH, Urt. v. 26. Februar 2003 - VIII ZR 262/02, NJW
2003, 747 m.w.Nachw.; st.Rspr.) - dem Gesamtzusammenhang der Begründung des
Berufungsurteils (§ 540 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) noch mit hinreichender
Deutlichkeit zu entnehmen, daß der Beklagte mit der Berufung gegen seine
Verurteilung durch das Amtsgericht sein Klageabweisungsbegehren unverändert
weiterverfolgt.
2. Das Urteil des Landgerichts hat aber deshalb keinen Bestand, weil die
Gleichsetzung der wirksam als limited liability company gegründeten und
damit nach englischem Recht rechtsfähigen U. Ltd. mit einer - mangels
Eintragung in einem deutschen Handelsregister - nicht als GmbH existenten
Gesellschaft (§ 11 Abs. 1 GmbHG) und die daraus abgeleitete persönliche
Handelndenhaftung des Beklagten als Geschäftsführer analog § 11 Abs. 2 GmbHG
für die Verbindlichkeiten der U. Ltd. aus den von ihm selbst in deren Namen
abgeschlossenen Kauf- und Mietverträgen mit der Klägerin mit der in Art. 43
und 48 EG garantierten Niederlassungsfreiheit unvereinbar ist.
a) Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die in einem Vertragsstaat nach
dessen Vorschriften wirksam gegründete Gesellschaft in einem anderen
Vertragsstaat - unabhängig von dem Ort ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes
-in der Rechtsform anzuerkennen, in der sie gegründet wurde (vgl.
EuGH, Urt. v. 5. November 2002 - Rs C-208/00, ZIP
2002, 2037 - Überseering; bestätigt durch EuGH,
Urt. v. 30. September 2003 - Rs C-167/01, ZIP 2003, 1885
- Inspire Art; vgl. auch BGHZ 154, 185, 189;
vgl. ferner zur vergleichbaren Rechtslage beim Deutsch-Amerikanischen
Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag: BGHZ 153, 353, 356 f.;
Sen.Urt. v. 5. Juli 2004 - II ZR 389/02, ZIP 2004,
1402 m.w.Nachw.; BGH, Urt. v. 13. Oktober 2004
- I ZR 245/01, ZIP 2004, 2230, 2231). Aus der Anerkennung der
Rechtsfähigkeit einer solchen Gesellschaft folgt zugleich, daß deren
Personalstatut auch in bezug auf die Haftung für in ihrem Namen begründete
rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten einschließlich der Frage nach einer
etwaigen diesbezüglichen persönlichen Haftung ihrer Gesellschafter oder
Geschäftsführer gegenüber den Gesellschaftsgläubigern maßgeblich ist (vgl.
BGHZ 154, 185, 189 - auch zur passiven
Parteifähigkeit; BGH, Urt. v. 23. April 2002 - XI ZR 136/01, NJW-RR 2002,
1359 f.; Sen.Urt. v. 5. Juli 2004 aaO, S. 1403).
Danach scheidet im vorliegenden Fall eine Haftung des Beklagten analog § 11
Abs. 2 GmbHG für die von ihm als Geschäftsführer namens der U. Ltd.
rechtsgeschäftlich begründeten Verbindlichkeiten aus; nach dem für das
Personalstatut dieser private limited company (Kapitalgesellschaft)
maßgeblichen englischen Recht haftet deren Geschäftsführer als Leitungsorgan
- wie im deutschen GmbH-Recht - grundsätzlich nicht persönlich für solche
Gesellschaftsverbindlichkeiten.
b) Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung des EuGH ist es selbst unter
Gläubigerschutzgesichtspunkten mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar, wenn
das Landgericht im vorliegenden Fall hinsichtlich der Frage einer Haftung
des Gesellschafter-Geschäftsführers der U. Ltd. deren maßgebliches
Personalstatut (ausnahmsweise) nicht an das am Ort ihrer Gründung geltende
Recht, sondern an das Recht ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes anknüpfen
will.
Zwar ist nach der Rechtsprechung des EuGH anerkannt, daß zwingende Gründe
des Gemeinwohls, wie der Schutz der Interessen der Gläubiger u.a. unter
bestimmten Umständen und unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen
Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen können (EuGH,
ZIP 2002 aaO Tz. 92 - Überseering; EuGH, ZIP
2003 aaO Tz. 132 f. - Inspire Art). Das Berufungsgericht hat jedoch
verkannt, daß eine Behinderung der durch den EG-Vertrag garantierten
Grundfreiheiten durch nationale Maßnahmen allenfalls unter vier engen
Voraussetzungen gerechtfertigt sein kann: Die Maßnahmen müssen in
nicht diskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen zwingenden
Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, sie müssen zur Erreichung
des verfolgten Zieles geeignet sein und sie dürfen nicht über das
hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (EuGH,
ZIP 2003 aaO Tz. 133 m.w.Nachw. - Inspire Art). Danach stellt sogar
die bewußte Ausnutzung unterschiedlicher Rechtssysteme für sich allein
genommen noch keinen Mißbrauch dar, auch wenn sie in der offenen Absicht
erfolgt, die "größte Freiheit" zu erzielen und mit einer ausländischen
Briefkastengesellschaft die zwingenden inländischen Normativbestimmungen zu
umgehen (EuGH, ZIP 2003 aaO Tz. 96 f., 137 ff.
m.w.Nachw. - Inspire Art). Da die Bestimmungen über das Mindestkapital
insoweit mit der durch den Vertrag garantierten Niederlassungsfreiheit
unvereinbar sind, gilt zwangsläufig dasselbe für die Sanktionen, die an die
Nichterfüllung der fraglichen Verpflichtungen geknüpft sind, d.h. die
Anordnung einer persönlichen (gesamtschuldnerischen) Haftung der
Geschäftsführer in dem Fall, daß das Kapital nicht den im nationalen Recht
vorgeschriebenen Mindestbetrag erreicht oder während des Betriebes unter
diesen sinkt. Folglich rechtfertigen weder Art. 46 EG noch der
Gläubigerschutz die Bekämpfung der mißbräuchlichen Ausnutzung der
Niederlassungsfreiheit oder die Erhaltung der Lauterkeit des Handelsverkehrs
die Behinderung der durch den Vertrag garantierten Niederlassungsfreiheit,
wie sie nationale Rechtsvorschriften über das Mindestkapital und eine
persönliche (gesamtschuldnerische) Haftung der Geschäftsführer darstellen (EuGH,
ZIP 2003 aaO Tz. 142 - Inspire Art).
c) Eine persönliche Haftung des Beklagten analog § 11 Abs. 2 GmbHG kann
schließlich - entgegen der Ansicht der Klägerin - auch nicht daraus
abgeleitet werden, daß der Beklagte als Geschäftsführer es entgegen §§ 13 d
ff. HGB unterlassen hat, die "Zweigniederlassung" der U. Ltd. zum
Handelsregister anzumelden. Zwar verpflichtet Art. 12 der 11. Richtlinie
89/666/EWG des Rates vom 21. Dezember 1999 die Mitgliedstaaten, geeignete
Maßregeln für den Fall anzudrohen, daß die erforderliche Offenlegung der
Zweigniederlassungen im Aufnahmestaat unterbleibt. Gleichwohl müssen die
Mitgliedstaaten, denen zwar die Wahl der Sanktion verbleibt, namentlich
darauf achten, daß Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen
sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und
Schwere gleiche Verstöße gegen nationales Recht, wobei die Sanktion nicht
nur wirksam und abschreckend, sondern auch verhältnismäßig sein muß (EuGH,
ZIP 2003 aaO Tz. 62, 133 - Inspire Art). Schon danach bleibt
festzustellen, daß die offenbar vom Berufungsgericht befürwortete Sanktion
der persönlichen Haftung des Beklagten als Geschäftsführer wegen
Nichterfüllung der Anmeldungspflicht weder gesetzlich vorgesehen ist noch
etwa im Wege der Rechtsfortbildung in Betracht käme. Als zulässige Sanktion
im Sinne der 11. Richtlinie des Rates sieht das deutsche Recht in § 14 HGB
allein die Festsetzung von Zwangsgeld für den Fall der Nichterfüllung der
Anmeldepflicht pp. vor, nicht hingegen haftungsrechtliche Konsequenzen.
III. Aufgrund der unter Nr. II, 2 aufgezeigten Rechtsfehler unterliegt das
Berufungsurteil der Aufhebung (§ 562 ZPO). Mangels Endentscheidungsreife ist
die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO).
Der Klägerin ist auf ihre Gegenrüge hin unter dem Blickwinkel der Gewährung
rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) sowie eines fairen Verfahrens (Art.
2, 20 GG) Gelegenheit zu geben, in der wiedereröffneten Berufungsinstanz ihr
Klagebegehren nunmehr auf - bislang nicht geltend gemachte - etwaige
Haftungstatbestände des materiellen englischen Rechts oder des
(deutschen) Deliktsrechts (§§ 823 ff. BGB) zu stützen und hierzu
weiteren Sachvortrag zu halten.
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