Haftung nach § 823 II BGB; Schutzgesetzcharakter
von § 323c StGB
BGH, Urteil vom 14. Mai 2013 - VI ZR
255/11 - OLG Düsseldorf
Fundstelle:
NJW 2014, 64
BGHZ 197, 225
Amtl. Leitsatz:
§ 323c StGB ist ein
Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB.
Zentrale Probleme:
Ein äußerst tragischer Fall: Der
Beklagte wollte aufgrund eines Räumungstitels eine Wohnung wiedererlangen,
die sein Sohn bewohnte. Er beauftragte daher einen Gerichtsvollzieher. Als
der Gerichtsvollzieher zur Räumung der Wohnung erschien, wurde er von dem
Sohn durch eine Schusswaffe erheblich verletzt. Hier geht es nun um die
Frage der Haftung des beklagten Vaters. Der Senat bejaht einen Fall von
unterlassener Hilfeleistung nach § 323c StGB. Damit stellt sich die Frage,
ob diese Norm ein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB ist. Dazu
müsste es zumindest auch individuelle Interessen schützen. Der Senat bejaht
das mit überzeugender Begründung. Der Senat bejaht diese in der Literatur
bisher streitige Frage mit überzeugender Begründung. S. zu dieser Frage auch
BGH NJW 2004, 1949 sowie
BGH NJW 2004, 356 ff.
©sl 2013
Tatbestand:
1 Der Kläger, ein Gerichtsvollzieher, macht gegenüber der Alleinerbin des
im Verlaufe des Revisionsverfahrens verstorbenen früheren Beklagten (i.F.:
Beklagter) einen Anspruch auf Schmerzensgeld und Ersatz vorgerichtlicher
Anwaltskosten wegen einer Schussverletzung geltend, die ihm der Sohn des
Beklagten im Zusammenhang mit einer vom Beklagten beauftragten Räumung einer
Wohnung zugefügt hat.
2 Der Sohn des Beklagten, der zeitweilig unter Betreuung stand, hatte eine
krankhafte Persönlichkeitsstörung entwickelt, die unter anderem zur Folge
hatte, dass er zwanghaft Gegenstände sammelte, mit denen er die gesamte von
ihm und dem Beklagten bewohnte Immobilie des Beklagten vollgestellt hatte.
Der Beklagte hatte gegen seinen Sohn einen Räumungstitel erwirkt und den
Kläger mit der Räumung beauftragt. Am vierten Tag der Räumung sollte mit der
eigentlichen Räumung des Hauses begonnen werden. Der Kläger
klingelte an der Haustür, die ihm vom Beklagten geöffnet wurde. Der hinter
dem Beklagten stehende Sohn stieß seinen Vater beiseite und schoss auf den
Oberkörper des Klägers mit einer halbautomatischen Pistole, die er zuvor am
Morgen vor dem Eintreffen des Klägers dem Beklagten gezeigt hatte. Dabei
wurde der Kläger schwer verletzt.
3 Er macht den Beklagten für die Tat mitverantwortlich und hat ihn mit der
vorliegenden Klage auf Zahlung von Schmerzensgeld (mindestens 20.000 €) und
Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten in Anspruch genommen. Das Landgericht
hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das
Oberlandesgericht unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels das
erst-instanzliche Urteil teilweise abgeändert und den Beklagten als
Gesamtschuldner mit seinem Sohn verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld
von 10.000 € sowie weitere 775,64 € vorgerichtlicher Kosten jeweils nebst
Zinsen zu zahlen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt
der Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
I.
4 Das Berufungsgericht verneint mit dem Landgericht eine Haftung des
Beklagten wegen einer Körperverletzung durch Unterlassen mangels einer
Garantenstellung aus pflichtwidrigem Vorverhalten. Insbesondere
könne dies nicht aus dem Vollstreckungsauftrag als solchem hergeleitet
werden, weil eine Garantenstellung nicht aus einem rechtmäßigen Vorverhalten
entstehen könne. Allein der Umstand, dass der Beklagte tatsächlich
in der Lage gewesen wäre, das spätere Geschehen zu verhindern, reiche zur
Begründung einer Garantenstellung nicht aus. Eine Haftung des Beklagten
ergibt sich jedoch nach der Auffassung des Berufungsgerichts aus § 823 Abs.
2 BGB i.V.m. § 323c StGB als Schutzgesetz. Nach der
Rechtsauffassung des Berufungsgerichts dient der Schutzzweck der
Strafbestimmung des § 323c StGB nicht nur dem Interesse der Allgemeinheit an
solidarischer Schadensabwehr in akuten Notlagen, sondern jedenfalls auch den
bei einem Unglücksfall gefährdeten Individualrechts-gütern des in Not
Geratenen. Auch die unmittelbar bevorstehende Straftat eines Dritten sei als
Unglücksfall einzustufen, wenn erheblicher Schaden drohe. Diese
Voraussetzung sei im Streitfall erfüllt gewesen. Ein Einschreiten des
Beklagten sei auch erforderlich gewesen. Ein verständiger Beobachter hätte
aufgrund der Gesamtumstände erkennen können, dass der Sohn des Beklagten vom
Einsatz der geladenen und entsicherten Schusswaffe zur Beendigung der
Räumung nicht zurückschrecken würde. Für den Beklagten habe auch die
objektive Möglichkeit bestanden, die bevorstehende Straftat zu verhindern,
indem er an diesem Morgen der Forderung seines Sohns nachgekommen wäre, die
Räumung nicht fortzusetzen. Ein solches Vorgehen sei dem Beklagten bei der
Abwägung der widerstreitenden Interessen auch zumutbar gewesen. Auch der
subjektive Tatbestand des § 323c StGB liege vor, da der Beklagte zumindest
mit bedingtem Vorsatz gehandelt habe. Hält der Hilfspflichtige die
Tatbestandsverwirklichung für möglich und nimmt er sie aus Gleichgültigkeit
in Kauf, so sei bedingter Vorsatz gegeben. Dass der Beklagte eine mögliche
Gefährdung des Klägers gar nicht in Betracht gezogen habe, sei in Anbetracht
der Umstände als bloße Schutzbehauptung zu werten. Nach diesen sei vielmehr
davon auszugehen, dass er sich entschlossen habe, nun endlich die Räumung
"durchzuziehen" unter Inkaufnahme des Risikos, dass sein Sohn die
Schusswaffe gegen die an der Räumung beteiligten Personen einsetzen würde.
Bei der Bemessung der Höhe des zuerkannten Schmerzensgelds von 10.000 € sei
insbesondere zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Beklagten nicht um den
die Verletzung des Klägers unmittelbar verursachenden Straftäter handele,
sondern dieser nur gegen die ihn im Rahmen des § 323c StGB treffende Pflicht
zur Hilfeleistung verstoßen habe.
II.
5 Das Berufungsurteil hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Das
Berufungsgericht hat mit Recht eine Haftung des Beklagten aus §§ 823 Abs. 2
BGB i.V.m. § 323c StGB wegen unterlassener Hilfeleistung bejaht.
6 1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass §
323c StGB Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB ist.
7 a) Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB ist eine Rechtsnorm,
die nach Zweck und Inhalt zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen
oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten
Rechtsguts zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung,
sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes sowie darauf an, ob der
Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen
der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zugunsten von
Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mit gewollt
hat. Es genügt, dass die Norm auch das in Frage stehende Interesse
des Einzelnen schützen soll, mag sie auch in erster Linie das Interesse der
Allgemeinheit im Auge haben. Andererseits soll der Anwendungsbereich von
Schutzgesetzen nicht ausufern. Deshalb reicht es nicht aus, dass der
Individualschutz durch Befolgung der Norm als ihr Reflex objektiv erreicht
werden kann; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm liegen (vgl.
Senatsurteile vom 16. März 2004 - VI ZR 105/03,
VersR 2004, 1012; vom 3. Februar 1987 - VI ZR 32/86, BGHZ 100, 13, 14 f.;
vom 2. Februar 1988 - VI ZR 133/87, BGHZ 103, 197, 199 und vom
18. November 2003 - VI ZR 385/02, VersR 2004,
255, jeweils mwN). Bei diesem Verständnis bezweckt § 323c StGB
zumindest auch den Schutz der Individualrechtsgüter des durch einen
Unglücksfall Betroffenen (so zutreffend OLG Düsseldorf, NJW 2004,
3640, 3641; OLG Hamm, VersR 2005, 1689; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 323c Rn.
1; vgl. auch BGH, Beschluss vom 22. Januar 2002 - 4 StR 392/01, NJW 2002,
1356; a.A. OLG Frankfurt, NJW-RR 1989, 794; differenzierend
BGB-RGRK/Steffen, 12. Aufl., § 823 Rn. 136 und 546 zu § 330c StGB).
8 b) Aus den Gesetzesmaterialien lässt sich nicht die Schlussfolgerung
ziehen, dass das Gesetz allein dem Interesse der Allgemeinheit an dem Schutz
eines funktionierenden und auf Solidarität beruhenden Gemeinwesens dienen
soll. Zwar wird in der amtlichen Begründung zum Gesetzesentwurf der Gedanke
der sozialen Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft herausgestellt, als
Strafgrund wird jedoch auch die "Versäumung einer wirklichen Chance zu
erfolgreicher Schadensabwendung" angeführt (Verhandlungen des Deutschen
Bundestags, 1. Wahlperiode 1949, BT-Drucks. 3713 (1952), S. 44, Spalte 1).
Damit ist jedenfalls auch das Ziel der Strafvorschrift erkennbar,
individuelle Rechtsgüter des in Not Geratenen zu schützen und eine
unterlassene Hilfeleistung in den Fällen strafrechtlich zu sanktionieren, in
denen sie erforderlich und den Umständen nach zuzumuten war. Unter diesen
Umständen steht die Verpflichtung zur Solidarität zwar im
Allgemeininteresse, sie zielt jedoch im Einzelfall auch darauf ab, Schäden
von Individualrechtsgütern, die in Gefahr geraten sind, abzuwenden.
9 c) Soweit die Gegenmeinung darauf abstellt, dass der untätig Bleibende in
den Haftungsfolgen nicht einem aktiv handelnden Täter gleichgestellt werden
dürfe (vgl. etwa Bamberger/Roth/Spindler, BGB, 3. Aufl. § 823 Rn. 178; OLG
Frankfurt, NJW-RR 1989, 794, 795; Dütz, NJW 1970, 1822, 1824 f.), wird dem
Umstand nicht hinreichend Rechnung getragen, dass der zivilrechtlich auf
Schadensersatz wegen Verletzung eines Schutzgesetzes in Anspruch Genommene
im Rahmen des § 323c StGB, der insbesondere durch das Tatbestandsmerkmal der
Zumutbarkeit begrenzt wird, selbst Täter ist. Darüber hinaus wird der
Gegenmeinung zutreffend entgegengehalten, dass die zivilrechtliche Haftung
durch das Erfordernis des Eintritts des Schadens und der Zurechnung
einzelner Schäden als Folge der verletzten Hilfspflicht hinreichend begrenzt
ist und der wegen unterlassener Hilfeleistung auf Schadensersatz in Anspruch
Genommene die Möglichkeit eines Rückgriffs im Rahmen der §§ 840, 426 BGB
gegen den Haupttäter hat (so zutreffend OLG Düsseldorf, NJW 2004, 3640,
3641). Fällt diese Möglichkeit fort, etwa weil ein aktiv handelnder Täter
nicht vorhanden, nicht ermittelbar oder vermögenslos ist, kann hieraus eine
Haftungsfreistellung für den untätig Bleibenden nicht hergeleitet werden,
denn es ist kein Grund ersichtlich, den Verletzten in diesem Falle ohne
Ersatzmöglichkeit gegen einen (Mit-) Verursacher des Schadens zu belassen
(OLG Düsseldorf, aaO).
10 2. Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler das Vorliegen eines
Unglücksfalls im Sinne des § 323c StGB bejaht. Nach § 323c StGB macht sich
strafbar, wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe
leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten,
insbesondere ohne erhebliche Eigengefahr und ohne Verletzung anderer
Pflichten möglich ist.
11 a) Eine Straftat kann für das Opfer ein Unglücksfall im Sinne des § 323c
StGB sein, wobei es genügt, dass die Begehung der Straftat unmittelbar
bevorsteht, die das Risiko einer erheblichen Verletzung beinhaltet (vgl.
BGH, Urteil vom 12. Januar 1993 - 1 StR 792/92, bei Holtz MDR 1993, 721).
Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor, wobei offenbleiben kann, ob die das
Gefahrenurteil tragenden tatsächlichen Umstände - wie das Berufungsgericht
meint -aus ex post-Sicht nach objektiven Maßstäben zu beurteilen sind (vgl.
Sternberg-Lieben/Hecker in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. § 323c Rn. 2
mwN) oder sich - wie die Revision meint - aus ex ante-Sicht beurteilen.
Nachdem sich der Beklagte dem Wunsch seines Sohns, die Räumung zu beenden,
nicht gebeugt hatte, hatte dieser den Beklagten nach den Feststellungen des
Berufungsgerichts nach dem Klingeln des Klägers mit gezogener, geladener und
entsicherter Schusswaffe versucht daran zu hindern, zur Haustür zu gehen. In
dieser Situation war aus objektiver Sicht damit zu rechnen, dass der Sohn
des Beklagten die Schusswaffe auch einsetzen würde, um die Räumung zu
verhindern. Davon, dass der Sohn des Beklagten die Waffe nur gegen sich
selbst oder seinen Vater, den Beklagten, richten würde, konnte auch aus
damaliger objektiver Sicht nicht ausgegangen werden.
12 b) Das Berufungsgericht hat mit Recht ein Einschreiten des Beklagten in
dieser Situation für erforderlich erachtet. Erforderlich ist die
Hilfeleistung nach dem objektiven ex ante-Urteil eines verständigen
Beobachters aufgrund der ihm erkennbaren Umstände dann, wenn ohne sie die
Gefahr besteht, dass die von § 323c StGB erfasste Notlage sich zu einer
nicht mehr unerheblichen Schädigung von Personen auswirkt (vgl.
Sternberg-Lieben/Hecker in Schön-ke/Schröder, aaO Rn. 12 mwN). Nach den
Feststellungen des Berufungsgerichts hätte ein verständiger Beobachter
aufgrund der Gesamtumstände die Gefahr einer unmittelbar bevorstehenden
Straftat erkannt. Ziel des Sohns des Beklagten war es gewesen, die Räumung
zu verhindern. Spätestens als der Sohn des Beklagten, der im Umgang mit
Waffen erfahren war, seinen Vater mit der geladenen und entsicherten
Schusswaffe bedrohte, um ihn zur Beendigung der Räumung zu veranlassen,
musste ein verständiger Beobachter davon ausgehen, dass der Sohn des
Beklagten die Schusswaffe notfalls auch einsetzen würde. Davon, dass der
Sohn des Beklagten die Waffe nur gegen sich selbst oder den Beklagten
richten würde, konnte - entgegen der Darstellung des Beklagten - unter den
Umständen des Streitfalles nicht ausgegangen werden. Hierzu hätte der Sohn
des Beklagten - wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt - bereits dann
Anlass gehabt, als sich der Beklagte auch angesichts der scharfen Waffe
nicht von der Räumung hatte abbringen lassen, sondern sich zur Tür begab, um
diese dem Kläger zu öffnen. Spätestens dann war hinreichend deutlich, dass
die Drohung gegenüber dem Beklagten erfolglos war. Ein verständiger
Beobachter musste in dieser Situation die Möglichkeit voraussehen, dass der
Sohn des Beklagten - und sei es nur im Rahmen einer Kurzschluss- oder Panikreaktion - die geladene Waffe nicht nur, wie es ihm
bereits vorher möglich gewesen wäre, gegen sich selbst oder seinen Vater
einsetzen würde, sondern auch gegen denjenigen, der die Räumung im Auftrag
seines Vaters durchführen sollte.
13 c) Entgegen der Auffassung der Revision sind Rechtsfehler in der tatrichterlichen Würdigung des Berufungsgerichts nicht erkennbar. Soweit die
Revision meint, mit der Eskalation der Ereignisse habe der Beklagte nicht
rechnen müssen und es habe für den Beklagten außerhalb der Vorstellungskraft
gelegen, dass der Kläger in der damaligen Situation würde Schaden nehmen
können, versucht sie lediglich, ihre eigene Würdigung in revisionsrechtlich
unzulässiger Weise an die Stelle der tatrichterlichen Würdigung des
Berufungsgerichts zu setzen, ohne Rechtsfehler aufzuzeigen. Dass sich der
Sohn des Beklagten mit geladener und entsicherter Schusswaffe gegen die
Fortsetzung der Räumung wandte, war dem Beklagten an jenem Morgen bekannt
und ergab sich nicht erst durch Erkenntnisse, die sich erst durch die
Äußerung des Sachverständigen im Strafverfahren ergeben haben. Darauf, dass
der unter einer Persönlichkeitsstörung leidende Sohn des Beklagten die Waffe
in einer Panikreaktion nicht einsetzen würde, konnte der Beklagte aus der
Sicht eines verständigen Beobachters nicht vertrauen. Da der Beklagte die der Erforderlichkeit
eines Einschreitens zugrunde liegenden Umstände auch kannte, musste das
Berufungsgericht auch nicht - wie die Revision meint - einen
Tatbestandsirrtum gemäß § 16 StGB prüfen.
14 d) Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht ohne
Rechtsfehler die objektive Möglichkeit für den Beklagten bejaht, durch
seinen Einsatz die Tat zu verhindern. Nach den von Rechts wegen nicht zu
beanstandenden Feststellungen des Berufungsgerichts war ihm ein
entsprechendes Handeln auch zumutbar.
15 aa) Das Berufungsgericht hat die Möglichkeit, die Tat zu verhindern,
darin gesehen, dass der Beklagte die Räumung zumindest am Tattag hätte
beenden können. Soweit die Revision meint, dem Sohn des Beklagten sei es
nicht einzig und allein darum gegangen, dass am Tattag nicht weiter geräumt
wurde, sondern dass generell die Räumung eingestellt würde, und deshalb eine
entsprechende Lüge des Beklagten erforderlich gewesen wäre, ändert dies
nichts an der objektiven Möglichkeit, das Unglück zu verhindern, sondern ist
dies vielmehr eine Frage der Zumutbarkeit.
16 bb) Ein solches Vorgehen war dem Beklagten aber auch - wie das
Berufungsgericht mit Recht angenommen hat - zumutbar. Das Berufungsgericht
ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Frage, welche Hilfeleistungen dem
Hilfspflichtigen zumutbar sind, anhand einer Wertentscheidung durch Abwägung
der widerstreitenden Interessen zu beantworten ist, bei der die Bedeutung
des bedrohten Rechtsguts, Art und Ausmaß der drohenden Schäden, konkrete
Rettungschancen einerseits, Art und Umfang der Interessen sowie mit der
Rettungshandlung verknüpfte Risiken andererseits gegeneinander abzuwägen
sind (vgl. Sternberg-Lieben/Hecker in Schönke/Schröder, aaO Rn. 19 mwN). Das
Berufungsgericht hat als mögliche Handlungsoption dem Beklagten angesonnen,
sich dem Wunsch seines Sohns (zunächst) zu beugen und die Räumung
abzubrechen, um die Situation zu entschärfen. Wäre es gleichwohl zu einem
Schuss auf den Kläger gekommen, wäre ihm dies dann nicht mehr im Rahmen des
§ 323c StGB anzulasten gewesen, da er dann das aus seiner Sicht Zumutbare
getan hätte. Bei dieser Handlungsoption hat das Berufungsgericht zutreffend
das Interesse des Beklagten an einer ungehinderten Fortführung der Räumung
gegenüber der von einer entsicherten Waffe in der Hand eines völlig
Verzweifelten ausgehenden erheblichen Gefahr für Leib und Leben aller sich
im Umfeld der Waffe befindlichen Personen für nachrangig angesehen. Vor
dieser Gefahr hatte ein - wenn auch berechtigter - Anspruch auf Räumung vor
allem vor dem Hintergrund zurückzustehen, dass die Räumung zu einem späteren
Zeitpunkt ohne den Sohn des Beklagten ungehindert hätte fortgeführt werden
können. Die im Abbruch der Räumung liegende Hilfeleistung war dem Beklagten
ohne erhebliche Eigengefahr zumutbar. Er hätte auch eine Eigengefährdung
abwenden können, weil er nach seiner eigenen Darstellung davon ausging, dass
sein Sohn die Schusswaffe gegebenenfalls auch gegen ihn richten würde.
Soweit die Revision hiergegen meint, dem Beklagten sei es in dieser
Situation nicht möglich gewesen, rational und folgerichtig zu agieren, und
er hätte ohne eine Steigerung seiner eigenen Bedrohungssituation niemanden
warnen können, wird übersehen, dass das Berufungsgericht gerade nicht eine
Warnung des Klägers, sondern einen vorübergehenden Abbruch der Räumung für
möglich und zumutbar gehalten hat. Die Revision zeigt keinen hinreichenden,
vom Berufungsgericht übergangenen Sachvortrag auf, weshalb dem Beklagten
angesichts der Bedrohung mit einer entsicherten Schusswaffe eine solch nahe
liegende Überlegung nicht möglich gewesen wäre.
17 e) Schließlich hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler auch den subjektiven
Tatbestand des § 323c StGB als erfüllt angesehen, der auch im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB maßgeblich ist. Das Berufungsgericht ist in
Übereinstimmung mit der strafrechtlichen Literatur und Rechtsprechung (vgl.
Sternberg-Lieben/Hecker in Schönke/Schröder, aaO § 15 Rn. 87 mwN) zutreffend
davon ausgegangen, dass nach der neueren Rechtsprechung bedingter Vorsatz
dann vorliegt, wenn der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs als
möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und - im Rechtssinne - billigt
oder sich um des erstrebten Ziels willen wenigstens mit ihm abfindet, mag
ihm auch der Erfolgseintritt an sich unerwünscht sein (vgl. Fischer, aaO §
15 Rn. 9 b; BGH, Urteil vom 26. Juli 2007 - 3 StR 221/07, NStZ 2007, 700 Rn.
7; vgl. auch Senatsurteile vom 15. Juli 2008 - VI ZR 212/07, VersR 2008,
1407 Rn. 30 und vom 20. November 2012 - VI ZR 268/11, VersR 2013, 200 Rn.
32). Die Annahme einer "Billigung des Erfolgs" liegt beweisrechtlich dann
nahe, wenn der Täter sein Vorhaben trotz äußerster Gefährlichkeit
durchführt, ohne auf einen glücklichen Ausgang vertrauen zu können, oder
wenn er es dem Zufall überlässt, ob sich die von ihm erkannte Gefahr
verwirklicht oder nicht. Im Rahmen des § 323c StGB unterlässt derjenige die
Hilfeleistung vorsätzlich, der die konkrete Handlung kennt, durch die er die
erforderliche Hilfe leisten könnte. Das Bewusstsein, zur Hilfeleistung
verpflichtet zu sein, gehört hingegen nicht zum Vorsatz. Mangelndes
Gebotsbewusstsein ist vielmehr ein dem Verbotsirrtum des § 17 StGB
gleichzustellender Gebotsirrtum (vgl. Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, aaO § 15 Rn. 94). Hält der Hilfsbedürftige die Tatbestandsverwirklichung für
möglich und nimmt er sie aus Gleichgültigkeit in Kauf, so ist bedingter
Vorsatz gegeben (vgl. Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, aaO Rn. 98).
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kannte der Beklagte die
tatbestandsmäßige Situation. Er wusste, dass sein Sohn, dem alles daran lag,
die weitere Räumung zu verhindern, eine scharfe Waffe in der Hand hielt, mit
der er umzugehen verstand. Er wusste auch, dass sein Sohn aufgrund seiner -
des Beklagten - Weigerung, die Räumung abzubrechen, davon ausgehen
musste, dass die Räumung mit dem Eintreffen des Klägers unmittelbar
bevorstand. Ferner hat er selbst in seiner polizeilichen Vernehmung
eingeräumt, dass sein Sohn nicht der Mensch sei, dem man so etwas wie die
geschehene Tat zutrauen könne, es sei denn, er komme in eine Paniksituation
wie mit dem Kläger.
18 f) Auf dieser Grundlage ist die Beurteilung des Berufungsgerichts, dem
Beklagten sei eine Gefährdung des Klägers erkennbar gewesen, aus
Rechtsgründen ebenso wenig zu beanstanden wie die daraus gewonnene
Überzeugung, dass das Vorbringen des Beklagten, eine mögliche Gefährdung des
Klägers gar nicht in Betracht gezogen zu haben, in Anbetracht der Umstände
als bloße Schutzbehauptung zu werten sei. Nach diesen sei vielmehr davon
auszugehen, dass der Beklagte sich entschlossen gehabt habe, nun endlich die
Räumung "durchzuziehen", und die möglicherweise mit diesem Entschluss
verbundenen Folgen in Kauf zu nehmen, zu denen neben einem möglichen Suizid
seines Sohns auch das Risiko gehört habe, dass dieser auf ihn oder die die
Räumung durchführende Person schießen würde. Diese Gleichgültigkeit
gegenüber den möglichen Folgen, mögen ihm diese auch höchst unerwünscht
gewesen sein, hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler für die Annahme
eines bedingten Vorsatzes als ausreichend erachtet. Soweit die Revision
hierzu meint, der Beklagte habe irrtümlich angenommen, sich durch seinen
Einsatz zu gefährden, was den Vorsatz entfallen lasse, wird wiederum
verkannt, dass das Berufungsgericht die tatsächlichen Voraussetzungen für
einen solchen Irrtum bei der vom Beklagten erwarteten Handlung, nämlich die
Räumung vorerst abzubrechen, nicht festgestellt hat, da in diesem Fall nach
den Feststellungen des Berufungsgerichts eine Selbstgefährdung des Beklagten
nicht vorgelegen hätte.
19 3. Die Höhe des zuerkannten Schmerzensgelds und der vorgerichtlichen
Anwaltskosten hat die Revision nicht angegriffen. Rechtsfehler sind
diesbezüglich auch nicht erkennbar.
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