Gefährdungshaftung nach
§ 7 StVG; Begriff des "Betriebs" des Kraftfahrzeugs (Ausweichreaktionen des
Geschädigten)
BGH, Urteil vom 21.
September 2010 - VI ZR 263/09
Fundstelle:
noch nicht bekannt
Amtl. Leitsatz:
Ein Unfall kann auch dann dem Betrieb
eines anderen Kraftfahrzeugs zugerechnet werden, wenn er durch eine -
objektiv nicht erforderliche - Ausweichreaktion im Zusammenhang mit einem
Überholvorgang des anderen Fahrzeugs ausgelöst worden ist. Nicht
erforderlich ist, dass die von dem Geschädigten vorgenommene
Ausweichreaktion aus seiner Sicht, also subjektiv erforderlich war oder sich
gar für ihn als die einzige Möglichkeit darstellte, um eine Kollision zu
vermeiden (im Anschluss an Senatsurteil vom 26.
April 2005 - VI ZR 168/04 - NJW 2005, 2081).
Zentrale Probleme:
S. die Anm. zu BGH NJW 2005,
2081.
©sl 2010
Tatbestand:
1 Der Kläger, ein Polizeibeamter, begehrt Ersatz materiellen
und immateriellen Schadens nach einem Verkehrsunfall, den er am 13.
September 2004 auf dem Weg zu seiner Dienststelle erlitt und bei dem er
schwer verletzt wurde. Er befuhr gegen 11:00 Uhr mit seinem Motorrad die
Bundesstraße B 189 von K. in Richtung H.. Hinter dem Ortsausgang von K. ist
die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h beschränkt. Nach dem
Durchfahren einer Linkskurve, hinter der ein zuvor bestehendes Überholverbot
endet, wollte der Kläger zwei vor ihm fahrende Pkw überholen, nämlich den
von dem Beklagten zu 2 gesteuerten Pkw VW Passat, dessen Halterin seine
Ehefrau ist und der bei der Beklagten zu 1 haftpflichtversichert ist, und
den vor diesem fahrenden Pkw Skoda, der von dem Zeugen S. gesteuert wurde.
Zu dem Unfall, dessen genauer Hergang streitig ist, kam es, weil auch der
Beklagte zu 2 den Pkw Skoda überholen wollte und dazu ansetzte. Der Kläger
nahm eine Notbremsung vor und leitete ein Ausweichmanöver ein. Dabei kam er
nach links von der Fahrbahn ab und streifte einen Alleebaum. Danach
schleuderten er und sein Motorrad zwischen dem VW Passat und dem Skoda nach
rechts über die Straße und blieben dort neben der Fahrbahn liegen. Zu einer
Berührung zwischen dem Motorrad des Klägers und einem der Pkw kam es nicht.
2 Das Landgericht hat der Klage teilweise auf der Grundlage einer
Haftungsquote von 50 % stattgegeben. Die Berufung des Klägers hatte keinen
Erfolg. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht, dessen
Urteil u.a. in NJW 2009, 2962 veröffentlicht ist, die Klage vollumfänglich
abgewiesen. Dagegen wendet sich der Kläger mit der vom erkennenden Senat
zugelassenen Revision, mit der er hinsichtlich der Haftungsquote die
Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils erstrebt und seinen
Schmerzensgeldanspruch, soweit dieser den vom Landgericht zuerkannten
Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens übersteigt, in
eingeschränktem Umfang weiterverfolgt.
Entscheidungsgründe:
I.
3 Das Berufungsgericht führt aus, einer Haftung der Beklagten gemäß § 7 Abs.
1 i.V.m. § 18 StVG stehe zwar nicht schon entgegen, dass es zu keiner
Berührung zwischen dem von dem Kläger geführten Motorrad und dem Pkw Passat
des Beklagten zu 2 gekommen sei, denn für das Haftungsmerkmal "bei dem
Betrieb" genüge es, dass sich eine von dem betreffenden Kraftfahrzeug
ausgehende Gefahr verwirklicht habe und diese den Schadensablauf mitgeprägt
habe. Erforderlich sei aber, dass die Fahrweise oder der Betrieb des
Kraftfahrzeugs zu dem Unfallgeschehen beigetragen habe. In den Fällen, in
denen es nicht zu einer Berührung der betreffenden Kraftfahrzeuge gekommen
sei, habe der Geschädigte den erforderlichen ursächlichen Zusammenhang
zwischen dem Betrieb des anderen Kraftfahrzeugs und dem Schadensereignis
darzutun und zu beweisen; etwaige Zweifel an der Ursächlichkeit gingen zu
seinen Lasten. Im Streitfall stehe nicht fest, dass der Kläger sich durch
die Fahrweise des Beklagten zu 2 zu einem Ausweichmanöver habe veranlasst
sehen müssen, um eine Kollision mit dem zum Überholen ansetzenden Pkw des
Beklagten zu 2 zu vermeiden. Da nicht ausgeschlossen werden könne, dass sich
der Kläger zu dem Zeitpunkt, als der Beklagte zu 2 den Überholvorgang
einleitete, noch in der rechten Fahrspur befand, sei nicht ersichtlich,
aufgrund welcher Umstände er sich durch die Einleitung des Überholvorgangs
des Beklagten zu 2 zu der von ihm vorgenommenen Reaktion habe
herausgefordert sehen dürfen. Erforderlich sei, dass das Verhalten des
Beklagten zu 2 für den Kläger zu der Befürchtung hätte Anlass geben müssen,
dass es ohne eine Reaktion durch ihn zu einer Kollision kommen werde. Nach
den getroffenen Feststellungen stehe aber nicht fest, dass die vom Kläger
vorgenommene Ausweichreaktion subjektiv vertretbar gewesen sei und
insbesondere für ihn die einzige Möglichkeit dargestellt habe, einen
Zusammenstoß mit dem Kraftfahrzeug des Beklagten zu 2 zu vermeiden, etwa
weil ein rechtzeitiges Abbremsen nicht mehr möglich gewesen sei.
II.
4 Diese Beurteilung hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
5 1. Zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass die
Halterhaftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG und die Haftung des Fahrers aus
vermutetem Verschulden gemäß § 7 Abs. 1 i.V.m. § 18 StVG auch dann
eingreifen können, wenn es nicht zu einer Berührung zwischen den am
Unfallgeschehen beteiligten Kraftfahrzeugen gekommen ist. Eine Haftung kommt
grundsätzlich nämlich auch dann in Betracht, wenn der Unfall mittelbar durch
das andere Kraftfahrzeug verursacht worden ist. Allerdings reicht die bloße
Anwesenheit des Kraftfahrzeugs an der Unfallstelle dafür nicht aus. Vielmehr
muss das Kraftfahrzeug durch seine Fahrweise (oder sonstige
Verkehrsbeeinflussung) zu der Entstehung des Schadens beigetragen haben
(Senatsurteile vom 11. Juli 1972 - VI ZR 86/71, VersR 1972, 1074, 1075; vom
4. Mai 1976 - VI ZR 193/74, VersR 1976, 927 und vom 19. April 1988 - VI ZR
96/87, VersR 1988, 641). Dieses kann etwa der Fall sein, wenn der
Geschädigte durch den Betrieb eines Kraftfahrzeugs zu einer Reaktion wie
z.B. zu einem Ausweichmanöver veranlasst wird und dadurch ein Schaden
eintritt. In einem solchen Fall kann der für eine Haftung erforderliche
Zurechnungszusammenhang je nach Lage des Falles zu bejahen sein.
6 2. Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die Auffassung des
Berufungsgerichts, dass der Zurechnungszusammenhang im Streitfall deshalb
fehle, weil der Kläger nicht subjektiv vertretbar eine Gefährdung durch das
zum Überholen ansetzende Fahrzeug des Beklagten zu 2 habe annehmen dürfen.
Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats kann nämlich auch ein
Unfall infolge einer voreiligen - also objektiv nicht erforderlichen -
Abwehr- oder Ausweichreaktion gegebenenfalls dem Betrieb des Kraftfahrzeugs
zugerechnet werden, das diese Reaktion ausgelöst hat (vgl. Senatsurteile vom
29. Juni 1971 - VI ZR 271/69, VersR 1971, 1060, 1061; vom 19. April 1988 -
VI ZR 96/87, aaO und vom 26.
April 2005 - VI ZR 168/04, VersR 2005, 992, 993).
Es ist auch nicht erforderlich, dass die von dem Geschädigten
vorgenommene Ausweichreaktion aus seiner Sicht, also subjektiv erforderlich
war oder sich gar für ihn als die einzige Möglichkeit darstellte, um eine
Kollision zu vermeiden. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts
kommt es für die Bejahung des Zurechnungszusammenhangs insbesondere nicht
darauf an, ob der Kläger einen Zusammenstoß mit dem Pkw des Beklagten zu 2
auf andere Weise, etwa durch Abbremsen, hätte verhindern können.
7 3. Nach den getroffenen Feststellungen ist zwar ungeklärt geblieben, ob
die Notbremsung und das Ausweichmanöver zu Beginn oder erst in der
Schlussphase des von dem Beklagten zu 2 durchgeführten Überholvorgangs
erfolgten. Das Motorrad hatte nach Berechnungen des Sachverständigen eine
Ausgangsgeschwindigkeit zwischen 86 km/h und 124 km/h. Offen geblieben ist
auch, ob sich der Kläger noch vollständig hinter dem Pkw des Beklagten zu 2
befand und das Überholmanöver noch nicht eingeleitet hatte, als der Beklagte
zu 2 sich zum Überholen entschloss, oder ob der Kläger zu diesem Zeitpunkt
seinen Überholvorgang schon eingeleitet hatte. Nach den Darlegungen des
Sachverständigen ist es möglich, dass sich der Kläger in diesem Moment noch
in der rechten Fahrspur befand, gerade die Mittellinie überfuhr oder schon
auf der linken Fahrspur war. Eine Haftung der Beklagten kann allein aufgrund
des Umstands, dass der genaue Geschehensablauf insoweit ungeklärt ist,
indessen nicht verneint werden.
8 Die Revision weist nämlich zutreffend darauf hin, dass das
Berufungsgericht eine Ausweichreaktion des Klägers angenommen hat. Nach den
getroffenen Feststellungen kann diese Ausweichreaktion nur dem Pkw des
Beklagten zu 2 gegolten haben. Dass der Kläger einem anderen Hindernis als
dem überholenden Pkw des Beklagten zu 2 ausgewichen sein könnte, macht die
Revisionserwiderung nicht geltend. Ob die Ausweichreaktion notwendig oder
aber wenigstens subjektiv vertretbar war, ist in Fällen, in denen es nicht
zu einer Berührung mit dem anderen Kraftfahrzeug gekommen ist, unerheblich.
Die Voraussetzungen von § 7 Abs. 1 StVG wären selbst dann erfüllt, wenn der
Kläger (verkehrswidrig) versucht hätte, die beiden Pkw gleichzeitig, nämlich
als diese während des Überholvorgangs auf gleicher Höhe waren, zu überholen.
Anders wäre es nur, wenn das Überholmanöver des Beklagten zu 2 das des
Klägers in keinerlei Weise beeinflusst hätte. Das ist auf der Grundlage der
getroffenen Feststellungen, wonach das Ausweichmanöver dem Pkw des Beklagten
zu 2 galt, jedoch auszuschließen. War das Überholmanöver dieses Pkw der
Anlass für das den Unfall auslösende Ausweichmanöver des Klägers, hat sich
der Unfall "bei dem Betrieb" des von dem Beklagten zu 2 gesteuerten
Kraftfahrzeugs ereignet.
9 4. Nach den getroffenen Feststellungen haben die Beklagten weder bewiesen,
dass den Beklagten zu 2 kein Verschulden trifft (§ 18 Abs. 1 Satz 2 StVG),
noch, dass der Unfall für ihn ein unabwendbares Ereignis i.S.v. § 17 Abs. 3
StVG war. Ebenso wenig ist festgestellt, dass der Kläger den Unfall
verschuldet hat und sein Verschulden so schwer wiegt, dass die
Betriebsgefahr des Pkw des Beklagten zu 2 demgegenüber völlig zurückzutreten
hätte. Bei dieser Sachlage kann die vollumfängliche Klageabweisung keinen
Bestand haben. |