Gefährdungshaftung nach
§ 7 StVG; Begriff des "Betriebs" des Kraftfahrzeugs (Panikreaktionen des
Geschädigten)
BGH, Urteil vom 26. April
2005 - VI ZR 168/04
Fundstelle:
NJW 2005, 2081
Amtl. Leitsätze:
Ein Schaden ist "bei dem
Betrieb" eines Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich von einem Kraftfahrzeug
ausgehende Gefahren ausgewirkt haben. Demgemäß kann selbst ein Unfall
infolge einer voreiligen - also objektiv nicht erforderlichen - Abwehr- oder
Ausweichreaktion dem Betrieb des Kraftfahrzeugs zugerechnet werden, das
diese Reaktion ausgelöst hat.
Zentrale Probleme:
Die sehr lehrreiche Entscheidung behandelt
Grundfragen der Gefährdungshaftung nach § 7 StVG und erläutert dabei
anhand der teleologischen Grundlagen der Gefährdungshaftung den - sehr weit
gefassten - Begriff des "Betriebs" eines Kraftfahrzeugs. S. dazu
auch BGH v. 27.9.2007 - VI ZR
210/06 sowie
BGH v. 31.1.2012 - VI ZR 43/11
und BGH v. 8.12.2015 - VI
ZR 139/15 ; zur
Haltereigenschaft s. auch
BGHZ 114, 348 sowie
BGH NJW 1997, 660, zum Mitverschulden bzw. zur Zurechnung der
Betriebsgefahr s. BGHZ 173,
182.
©sl 2005
Tatbestand:
Der Kläger macht gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche aus einem
Unfall in einer Tiefgarage geltend.
Er und der Beklagte zu 1 besitzen dort jeweils einen Stellplatz. Der von dem
Beklagten zu 1 gemietete Stellplatz befindet sich direkt rechts hinter der
Ein- bzw. Ausfahrtsrampe zur Tiefgarage. Er muß auf der Rampe nach links
ausholen, um dann rechtwinklig nach rechts in seine Parkbox einfahren zu
können.
Am 8. Januar 2003 fuhr der Beklagte zu 1 mit seinem VW-Bus die Abfahrt zu
der Tiefgarage herunter. Der Kläger wollte diese mit seinem Fahrzeug
verlassen und kam dem Beklagten zu 1 entgegengefahren. Als die Fahrzeuge
noch drei bis fünf Meter voneinander entfernt waren, lenkte er plötzlich
nach rechts und sein PKW kollidierte mit der Wand der Tiefgarage.
Die Ursache dieses Manövers ist zwischen den Parteien streitig. Nach der
Darstellung des Klägers ist der Beklagte zu 1 plötzlich über die Trennlinie
der beiden jeweils 2,90 m breiten Fahrspuren der Ab- bzw. Auffahrt gefahren,
so daß er selbst nach rechts ausgewichen und deshalb an die Wand gefahren
sei. Nach der Darstellung der Beklagten hat der Beklagte zu 1 lediglich
einen kleinen Schlenker innerhalb seiner eigenen Fahrspur nach links
gemacht, jedoch sofort nach rechts zurückgelenkt, nachdem er das klägerische
Fahrzeug gesehen habe.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers blieb
ohne Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der
Kläger sein Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe:
I. Das Berufungsgericht hat eine Haftung
der Beklagten aus §§ 7, 17 StVG, § 3 PflVG, § 823 BGB verneint. Der Kläger
habe weder den Beweis führen können, daß ein Fahrfehler des Beklagten zu 1
kausal für sein Ausweichen gegen die Garagenwand gewesen sei noch folge eine
Haftung der Beklagten unter Zugrundelegung des unstreitigen Sachverhaltes
aus der Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs.
Auch wenn man davon ausgehe, daß der Beklagte zu 1 auf seiner Fahrspur
zunächst nur einen kleinen Schlenker nach links gefahren sei, ohne die
Mittellinie zu überfahren, und danach sofort wieder auf die rechte Seite
seiner Fahrspur zurückgelenkt habe, habe sich nicht die typische
Betriebsgefahr seines Fahrzeugs verwirklicht. Den Beklagten sei nicht
zuzurechnen, daß der Kläger beim Anblick des VW-Busses seinen eigenen PKW
gegen die Wand der Tiefgarage gelenkt habe. Seine Ausweichlenkung sei als
gravierender Fahrfehler infolge einer ungerechtfertigten Panikreaktion zu
werten. Eine solche gänzlich überzogene Reaktion sei dem anderen
Verkehrsteilnehmer nicht mehr nach § 7 StVG zuzurechnen. Bei wertender
Betrachtung fehle es an einer "subjektiv vertretbaren Ausweichlenkung
aufgrund der konkreten Verkehrssituation". Für eine Zurechnung sei jedoch
mindestens erforderlich, daß der geschädigte Kraftfahrzeugführer objektiv
nachvollziehbar von einer Gefährdung durch das entgegenkommende Fahrzeug
ausgehen durfte. Daran fehle es hier.
II. Die Erwägungen des Berufungsgerichts halten der revisionsrechtlichen
Überprüfung nicht stand.
1. a) Das Haftungsmerkmal "bei dem Betrieb" ist nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der
Vorschrift weit auszulegen. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG umfaßt daher
alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflußten Schadensabläufe. Es genügt,
daß sich eine von dem Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr ausgewirkt hat und das
Schadensgeschehen in dieser Weise durch das Kraftfahrzeug mitgeprägt worden
ist (vgl. Senatsurteile BGHZ 105, 65, 66; 107, 359, 366; 115, 84, 86 und
vom 18. Januar 2005 - VI ZR 115/04 - VersR 2005, 566, 567). Ob dies der
Fall ist, muß mittels einer am Schutzzweck der Haftungsnorm orientierten
wertenden Betrachtung beurteilt werden (vgl. Senatsurteile BGHZ 71, 212,
214; 115, aaO und vom 18. Januar 2005 - VI ZR 115/04 - aaO). An diesem
auch im Rahmen der Gefährdungshaftung erforderlichen Zurechnungszusammenhang
fehlt es, wenn die Schädigung nicht mehr eine spezifische Auswirkung
derjenigen Gefahren ist, für die die Haftungsvorschrift den Verkehr schadlos
halten will (vgl. Senatsurteile BGHZ 79, 259, 263; 107, 359, 367; 115,
84, 86 f.).
Für eine Zurechnung zur Betriebsgefahr kommt es maßgeblich darauf an, daß
der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Kausalzusammenhang mit
einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung
des Kraftfahrzeugs steht (vgl. Senatsurteile BGHZ 37, 311, 317 f.; 58,
162, 165; vom 11. Juli 1972 - VI ZR 86/71 - VersR 1972, 1074 f.; vom 10.
Oktober 1972 - VI ZR 104/71 - VersR 1973, 83 f. und vom 10. Februar 2004 -
VI ZR 218/03 - VersR 2004, 529, 531). Hiernach rechtfertigt die
Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs an der Unfallstelle
allein zwar noch nicht die Annahme, der Unfall sei bei dem Betrieb dieses
Fahrzeugs entstanden. Erforderlich ist vielmehr, daß die Fahrweise oder der
Betrieb dieses Fahrzeugs zu dem Entstehen des Unfalls beigetragen hat
(vgl. Senatsurteile vom 22. Oktober 1968 - VI ZR 178/67 - VersR 1969, 58,
59; vom 11. Juli 1972 - VI ZR 86/71 - aa0; vom 10. Oktober 1972 - VI ZR
104/71 - aaO und vom 19. April 1988 - VI ZR 96/87 - VersR 1988, 641).
Andererseits hängt die Haftung gemäß § 7 StVG nicht davon ab, ob sich der
Führer des im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs verkehrswidrig verhalten
hat (vgl. Senatsurteile vom 29. Juni 1971 - VI ZR 271/69 - VersR 1971,
1060, 1061; vom 13. Juli 1971 - VI ZR 2/70 - VersR 1971, 1063, 1064 und vom
10. Oktober 1972 - VI ZR 104/71 - aaO), und auch nicht davon, daß es zu
einer Kollision der Fahrzeuge gekommen ist (vgl. Senatsurteile vom 16.
September 1986 - VI ZR 151/85 - VersR 1986, 1231, 1232 und vom 19. April
1988 - VI ZR 96/87 - aaO).
Diese weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals „bei dem Betrieb eines
Kraftfahrzeugs" entspricht dem weiten Schutzzweck des § 7 Abs. 1 StVG und
findet darin ihre innere Rechtfertigung. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG
ist sozusagen der Preis dafür, daß durch die Verwendung eines Kfz -
erlaubterweise - eine Gefahrenquelle eröffnet wird, und will daher alle
durch den Kfz -Verkehr beeinflußten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden
ist demgemäß bereits dann „bei dem Betrieb" eines Kfz entstanden, wenn sich
von einem Kfz ausgehende Gefahren ausgewirkt haben (vgl. Senatsurteil
vom 19. April 1988 - VI ZR 96/87 - aaO mwN.)
b) Nach diesen Grundsätzen kann das angefochtene Urteil keinen Bestand
haben. Die Auffassung des Berufungsgerichts, hier fehle der
Zurechnungszusammenhang, weil der Kläger nicht objektiv nachvollziehbar von
einer Gefährdung durch das entgegenkommende Fahrzeug habe ausgehen dürfen,
steht mit dieser Rechtsprechung nicht in Einklang. Danach kann selbst ein
Unfall infolge einer voreiligen - also objektiv nicht erforderlichen -
Abwehr- oder Ausweichreaktion gegebenenfalls dem Betrieb des Kraftfahrzeugs
zugerechnet werden, das diese Reaktion ausgelöst hat (vgl. Senatsurteile
vom 29. Juni 1971 - VI ZR 271/69 - aaO und vom 19. April 1988 - VI ZR 96/87
- aaO). Daß der vom Beklagten zu 1 eingeräumte Schlenker nach links, von dem
auch das Berufungsgericht ausgeht, die Ausweichbewegung des Klägers
veranlaßt hat, liegt auf der Hand. Auch wenn das Berufungsgericht sie als
Panikreaktion bezeichnet, ist sie doch durch das Verhalten des Beklagten
verursacht worden, das vom entgegenkommenden Fahrer in der engen Ausfahrt
als gefährlich empfunden werden konnte. Das reicht, wie der Senat in einem
vergleichbaren Fall ausgeführt hat, für den Zurechnungszusammenhang aus
(vgl. Senatsurteil vom 19. April 1988 - VI ZR 96/87 - aaO).
So hat der Senat auch in einem Fall, in dem eine Mofafahrerin unsicher
wurde, als sie ein Sattelschlepper überholte, und deshalb stürzte, eine
Auswirkung der Betriebsgefahr des LKWs angenommen (vgl. Senatsurteil vom 11.
Juli 1972 - VI ZR 86/71 - aaO), ebenso als ein Fußgänger durch die Fahrweise
des nach Hochziehen einer Schranke anfahrenden Kraftfahrzeugs unsicher wurde
und deshalb stürzte (vgl. Senatsurteil vom 10. Oktober 1972 - VI ZR 104/71
-aaO). Das Merkmal "beim Betrieb" hat er auch bejaht, als ein LKW die
voreilige Abwehrreaktion eines nachfolgenden Kraftfahrers auslöste, weil er
andauernd blinkte und entweder nach links zog oder schon hart an die
Mittellinie herangezogen war (vgl. Senatsurteil vom 29. Juni 1971 - VI ZR
271/69 - aaO). In all diesen Fällen kam es nicht darauf an, ob die Abwehr-
oder Ausweichreaktion objektiv erforderlich war.
c) Die vom Berufungsgericht vorgenommene Einschränkung ist auch nicht
erforderlich. Vielmehr ist das notwendige Korrektiv für eine sachgerechte
Haftungsbegrenzung in den §§ 9, 17, 18 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 StVG enthalten.
Nach diesen Vorschriften können die jeweiligen Verursachungsbeiträge
sowie ein etwaiges Verschulden berücksichtigt werden, so daß der Schaden
angemessen verteilt und gegebenenfalls sogar die Haftung einem Kraftfahrer
allein auferlegt werden kann.
III. Eine abschließende Entscheidung ist dem erkennenden Senat nicht
möglich, weil das Berufungsgericht - von seinem Standpunkt folgerichtig -
die dazu erforderlichen Feststellungen nicht getroffen hat. Die Sache ist
daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit es sie nachholen
kann.
Im weiteren Verfahren wird das Berufungsgericht feststellen müssen, ob sich
eine etwaige Haftung des Beklagten zu 1 auch aus § 7 Abs. 1 StVG oder nur
aus § 18 Abs. 1 StVG ergeben kann. Es wird gegebenenfalls eine Abwägung nach
§§ 9, 17, 18 Abs. 3 StVG vornehmen müssen, wobei nur solche Umstände
berücksichtigt werden dürfen, die feststehen, d.h. unstreitig, zugestanden
oder nach § 286 ZPO bewiesen sind, und sich auf den Unfall ausgewirkt haben
(vgl. Senatsurteile vom 10. Januar 1995 - VI ZR 247/94 - VersR 1995, 357 und
vom 27. Juni 2000 - VI ZR 126/99 - VersR 2000, 1294, 1296).
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