"Offener Kalkulationsirrtum", Treuwidrigkeit der
Annahme eines Vertragsangebots in Kenntnis eines Kalkulationsfehlers des
Anbietenden, Haftung aus culpa in contrahendo
(§§ 311 II, 241 II, 280 I BGB)
BGH, Urteil vom 11. November 2014 - X
ZR 32/14 - OLG Celle
Fundstelle:
NJW 2015, 1513
Amtl. Leitsatz:
Die Erteilung des Zuschlags
auf ein von einem Kalkulationsirrtum beeinflusstes Angebot kann einen
Verstoß gegen die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des
betreffenden Bieters darstellen. Die Schwelle zu einem solchen
Pflichtenverstoß ist überschritten, wenn dem Bieter aus Sicht eines
verständigen öffentlichen Auftraggebers bei wirtschaftlicher Betrachtung
schlechterdings nicht mehr angesonnen werden kann, sich mit dem irrig
kalkulierten Preis als einer auch nur annähernd äquivalenten Gegenleistung
für die zu erbringende Bau-, Liefer- oder Dienstleistung zu begnügen
(Weiterführung von BGH, Urteil vom 7. Juli 1998 - X
ZR 17/97, BGHZ 139, 177).
Zentrale Probleme:
Eingekleidet in eine Aufrechnung und im Zusammenhang
mit einem Bieterverfahren stellt sich eine Grundsatzfrage des Allgemeinen
Teils: Ein Bundesland hatte Straßenbauarbeiten ausgeschrieben, der beklagte
Bieter hatte diese Arbeiten für einen Preis von ca. 455 000.- € angeboten.
Mit diesem Angebot war er bei weitem der günstigste Bieter, das
nachgünstigste Angebot belief sich bereits auf ca. 621 000.- €. Zu diesem
massiven Preisunterschied war es dadurch gekommen, dass der Bieter in einer
bestimmten Position des Angebots einen falschen Mengenansatz eingestellt
hatte. Er entdeckte diesen Fehler noch vor der Annahme des Angebots durch
das Land, deckte ihn gegenüber dem Land auf und bat, sein Angebot von der
Wertung auszuschließen. Das Land kam dem nicht nach und erteilte den
Zuschlag. Nachdem der Bieter die Arbeiten nicht ausführen wollte,
beauftragte das Land einen anderen Anbieter und macht nun (im Wege der
Aufrechnung) die daraus resultierenden Mehrkosten geltend.
Im Vergabeverfahren stellt das Angebot des Bieters nach den jeweiligen, von
ihm akzeptierten Ausschreibebedingungen ein bindendes Vertragsangebot i.S.v.
§ 145 BGB dar. Aus diesem Grund konnte der Bieter vorliegend das Angebot
nicht einfach zurücknehmen. Auch für eine Irrtumsanfechtung ist in
Konstellationen wie dieser keine Raum: Die Angebotssumme kommt nicht
aufgrund eines bloßen Schreibfehlers (Erklärungsirrtum nach § 119 Abs. 1
BGB) zustande. Es handelt sich vielmehr um einen sog. „Kalkulationsirrtum“,
der grundsätzlich in den Bereich der (unbeachtlichen) Motivirrtümer zu
verweisen ist. Das gilt nach der Rechtsprechung des BGH selbst dann, wenn
der Erklärungsempfänger diesen Kalkulationsirrtum erkannt hat (BGHZ
139, 177). Damit bleibt nur ein letzter Ausweg, den der BGH auch im
vorliegenden Fall gegangen ist: Verstieße der Auftraggeber durch die Annahme
des Vertragsangebots gegen eine Rechtspflicht gegenüber dem Bieter, so
stellte dies eine Pflichtverletzung i.S.v. § 280 Abs. 1 BGB dar. Dann wäre
der Auftraggeber nach § 249 BGB im Wege der schadensersatzrechtlichen
Naturalrestitution verpflichtet, den Bieter aus dem geschlossenen Vertrag
weder auf Leistung noch auf Schadensersatz statt der Leistung in Anspruch zu
nehmen. Eine solche Lösung hatte der BGH bereits in einer früheren
Entscheidung aus dem Jahr 1998 zu einem ganz ähnlichen Sachverhalt
angedeutet (BGHZ 139, 177), musste die Frage
aber damals nicht entscheiden, weil dem Auftraggeber der Fehler in der
Kalkulation verborgen geblieben war und er jedenfalls keine vorvertragliche
Pflicht hat, diese Kalkulation im Interesse des Bieters auf deren
Wirtschaftlichkeit für den Bieter zu überprüfen. Der jetzt entschiedene Fall
lag anders: Noch vor dem Zuschlag war dem Auftraggeber klar geworden, dass
es sich um ein für den Bieter extrem schädliches Angebot handelte. Durch die
Vertragsannahme verstieß der Auftraggeber damit gegen die bereits durch die
Aufnahme von Vertragsverhandlungen bestehende Pflicht, auf die (auch
wirtschaftlichen) Interessen des anderen Teils Rücksicht zu nehmen (§§ 311
Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB – culpa in contrahendo: Der Senat erwähnt zwar nur §
241 Abs. 2 BGB, da sich der Fall aber noch im vorvertraglichen Stadium
befindet, ist § 311 II BGB als Grundlage für ein pflichtenbegründendes
Schuldverhältnis mit heranzuziehen). Das löst den beschriebenen
schadensersatzrechtlichen Mechanismus aus, demzufolge der Auftraggeber den
Bieter aus dem Vertrag nicht in Anspruch nehmen darf und sich darüber hinaus
mit einer Vertragsaufhebung einverstanden erklären muss.
Der Senat gibt sich aber sehr viel Mühe, deutlich klarzustellen, dass sich
dieser letzte Rechtsbehelf auf Extremfälle beschränken muss. Das Risiko, zu
günstig anzubieten und deshalb wirtschaftlich nachteilige Verträge zu
schließen, ist dem Vergabeverfahren nämlich inhärent. Deshalb hat der BGH
auch betont, dass nicht jeder noch so geringe diesbezügliche Irrtum
ausreicht und dass auch sichergestellt sein muss, dass sich ein Bieter nicht
unter dem Vorwand des Kalkulationsirrtums von einem bewusst sehr günstig
kalkulierten Angebot loslöst, weil er es im Nachhinein als für ihn selbst zu
nachteilig empfindet. Eine aus culpa in contrahendo resultierende Pflicht, das Angebot aus dem
Verfahren auszuschließen, d.h. nicht anzunehmen, kann nur dann angenommen
werden, wenn vom Bieter aus Sicht eines verständigen öffentlichen
Auftraggebers bei wirtschaftlicher Betrachtung schlechterdings nicht mehr
erwartet werden kann, sich mit dem irrig kalkulierten Preis als einer noch
annähernd äquivalenten Gegenleistung für die zu erbringende Bau-, Liefer-
oder Dienstleistung zu begnügen. Der sicher zutreffend entschiedene Fall
bleibt damit ein Ausnahmefall.
©sl 2014
Tatbestand:
1 Die Klägerin wurde in einem von der
Straßenbaubehörde des beklagten Landes durchgeführten Vergabeverfahren mit
Straßenbauarbeiten an der L 200 beauftragt und erbrachte die entsprechenden
Leistungen. Ihre daraus resultierende Werklohnforderung, von der sie im
vorliegenden Rechtsstreit restliche 164.567,29 € einklagt, ist nach Grund
und Höhe unstreitig. Die Parteien streiten allein darum, ob die
Klageforderung durch Aufrechnung der Beklagten mit einer Gegenforderung
erloschen ist. Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde.
2 Die Beklagte hatte auch Bauarbeiten zur Fahrbahnerneuerung an der L 341
ausgeschrieben und die Klägerin dort mit einer Angebotssumme von
455.052,29 € das weitaus günstigste Angebot abgegeben. Nach dem
Eröffnungstermin teilte sie der Vergabestelle mit, sie habe in der Position
00.02.0009 des Leistungsverzeichnisses einen falschen Mengenansatz für den
Asphaltbinder gewählt. Statt der geforderten Abrechnungseinheit "Tonne"
(Menge: 4.125) sei die Abrechnungseinheit "m2" und als Massenansatz 150
kg/m2 zugrunde gelegt worden. Der korrekte Einheitspreis müsse auf
59,59 €/t lauten. Die Klägerin bat, ihr Angebot wegen dieses Irrtums
aus der Wertung zu nehmen. Dem entsprach die Vergabestelle nicht, sondern
erteilte der Klägerin nach weiterer Korrespondenz den Zuschlag.
Nachdem diese zum Ausdruck gebracht hatte, dass sie den Auftrag nicht
ausführen werde, erklärte die Vergabestelle den Rücktritt vom
Vertrag und beauftragte einen anderen Bieter. Dieser rechnete für
die Ausführung einen Betrag ab, der um 175.559,14 € über dem Angebotspreis
der Klägerin lag.
3 Die Klage auf restlichen Werklohn aus dem Bauvorhaben L 200 hatte in
beiden Vorinstanzen Erfolg. Land- und Oberlandesgericht haben eine
aufrechenbare Gegenforderung des Landes verneint. Mit der vom
Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Klägerin
beantragt, verfolgt das Land seinen Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe:
4 I. Das Berufungsgericht hat in Übereinstimmung mit dem Landgericht
verneint, dass die Klägerin berechtigt gewesen sei, ihr Vertragsangebot
betreffend die Arbeiten an der L 341 wegen (Erklärungs-)Irrtums (§ 119 Abs.
1 BGB) anzufechten. Die Annahme des Vertragsangebots durch das
beklagte Land stelle jedoch eine unzulässige Rechtsausübung dar.
Das Berufungsgericht hat hierzu erwogen, ob die für das Land handelnde
Vergabestelle verpflichtet gewesen sein könnte, das Angebot der Klägerin auf
Plausibilität und Richtigkeit zu überprüfen, weil es in Anbetracht der
Angebotssumme und der Preisstruktur aller Angebote einen "Ausreißer nach
unten" dargestellt habe. Dies hat es mit Blick darauf dahinstehen lassen,
dass die Klägerin die Vergabestelle vor Vertragsschluss auf ihren Irrtum
hingewiesen habe. Aufgrund der gemachten Angaben habe diese den
Kalkulationsfehler ohne Weiteres nachvollziehen können. Die Prüfrechnung zur
Schlussrechnung des Unternehmens, welches den Auftrag schließlich ausgeführt
habe, weise einen Positionspreis von 55,29 €/t aus gegenüber 9,60 €/m2 im
Angebot der Klägerin. Dem habe das Land sich ebenso wenig verschließen
dürfen, wie es das Loskommen der Klägerin von ihrem Angebot nicht von dem
Nachweis habe abhängig machen können, dass das Angebot deutlich
unauskömmlich sei und die Auftragsausführung sie in erhebliche
wirtschaftliche Schwierigkeiten bringe und eine Insolvenz zu erwarten sei
oder dass vergleichbar schwerwiegende Gründe gegen die Zuschlagserteilung
sprächen. Die Unzumutbarkeit der Auftragsausführung habe sich vielmehr
bereits aus den dem Land bekannten Umständen ergeben. Unzumutbarkeit müsse
nicht mit dem ausführenden Unternehmen, seiner Größe und seiner
Leistungsfähigkeit zusammenhängen, sondern liege bereits vor, wenn die
Ausführung des Auftrags infolge der Unangemessenheit des verlangten Preises
erkennbar unauskömmlich sei. Davon sei jedenfalls dann auszugehen, wenn der
Kalkulationsfehler so massiv sei wie hier, wo bei der betreffenden Position
ein Sechstel des üblichen Preises angeboten worden und der Endpreis mit 27 %
besonders auffällig niedriger gewesen sei als der Preis, den der
nächstgünstigste Bieter als auskömmlich angeboten habe. Trete die
Unzumutbarkeit so offen zutage, handle der Auftraggeber
rechtsmissbräuchlich, wenn er den Zuschlag erteile, um einen in keiner Weise
marktkonform günstigen Vertragspreis mit der Folge einer deutlichen
wirtschaftlichen Schädigung des Vertragspartners zu erzielen.
5 II. Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Revision
haben im Ergebnis keinen Erfolg.
6 1. Das Berufungsgericht ist bei seiner Beurteilung von der bisherigen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Behandlung von
Kalkulationsirrtümern ausgegangen, wonach der öffentliche Auftraggeber
aufgrund des mit der Ausschreibung und der Abgabe von Angeboten
entstehenden, Vertrauensschutz begründenden Rechtsverhältnisses unter dem
Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsschluss verpflichtet sein konnte,
den Bieter auf einen von ihm, dem Auftraggeber, erkannten Kalkulationsfehler
hinzuweisen (BGH, Urteil vom 7. Juli 1998 - X ZR
17/97, BGHZ 139, 177 = NJW 1998, 3192; Urteil vom 19. Dezember 1985 -
VII ZR 188/84, NJW-RR 1986, 569; Urteil vom 4. Oktober 1979 - VII ZR 11/79,
NJW 1980, 180). Darüber hinaus konnte es eine unzulässige
Rechtsausübung (§ 242 BGB) darstellen, wenn der Empfänger eines
Vertragsangebots dieses annimmt und auf der Durchführung des Vertrages
besteht, obwohl er erkannt hat oder sich treuwidrig der Erkenntnis
verschloss, dass es auf einem (erheblichen) Kalkulationsirrtum des Anbieters
beruht (BGHZ 139, 177, 184 unter 2 b
mwN).
7 2. Die für den Beklagten handelnde Vergabestelle hat mit der
Erteilung des Zuschlags an die Klägerin gegen § 241 Abs. 2 BGB verstoßen.
8 a) Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der
Schadensersatzanspruch wegen Fehlverhaltens in Vergabeverfahren nicht mehr
an in Anspruch genommenes und enttäuschtes Vertrauen in die Rechtmäßigkeit
des vergabebezogenen Handelns geknüpft, sondern an die Verletzung der in §
241 Abs. 2 BGB konstituierten Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechte,
Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils (BGH, Urteil vom 9.
Juni 2011 - X ZR 143/10, BGHZ 190, 89 ff. - Rettungsdienstleistungen II).
Diese Pflichten hat die Vergabestelle verletzt, als sie den Zuschlag
auf das Angebot der Klägerin erteilte, obwohl ihr bekannt war, dass dieses
von einem erheblichen Kalkulationsirrtum beeinflusst war. Der Schutz aus §
241 Abs. 2 BGB ist nicht auf Einhaltung der spezifisch vergaberechtlichen,
den Schutz der Gegenseite bezweckenden Bestimmungen über das
Vergabeverfahren im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, der
Vergabeverordnung und den Vergabe-und Vertragsordnungen begrenzt, sondern
schließt das gesamte vorvertragliche Verhalten im Vergabeverfahren ein. Da
die Herbeiführung des Vertragsschlusses im Streitfall gegen § 241 Abs. 2 BGB
verstieß, kann der Beklagte aus der Nichterfüllung des Vertrages durch die
Klägerin keine Ansprüche herleiten und keine vermeintlichen Mehrkosten aus
der Ausführung des Auftrags zur Aufrechnung gegen die Werklohnforderung der
Klägerin stellen.
9 b) Die Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB verpflichtet
den öffentlichen Auftraggeber allerdings nicht, bei jeglichem noch so
geringen Kalkulationsirrtum von der Annahme des Angebots abzusehen.
Die Regelung ist kein Korrektiv, durch das Unternehmen sich bei Ausübung
ihrer gewerblichen Tätigkeit von jeder Verantwortung für ihr eigenes
geschäftliches Handeln freizeichnen könnten. Sie dient vielmehr als
Ausprägung des Gedankens von Treu und Glauben dem Schutz eines redlichen
Geschäftsverkehrs. Dieser setzt die prinzipielle Bindung an das eigene
geschäftliche Handeln gerade da voraus, wo beim Leistungsaustausch die
andere Seite gleichermaßen auf ihren Vorteil bedacht sein darf. Das ist auch
in Vergabeverfahren der Fall, wo öffentliche Auftraggeber Waren oder Bau-
und Dienstleistungen im Wettbewerb beschaffen (vgl. § 97 Abs. 1 GWB), um die
ihnen zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel effektiv einzusetzen.
10 Die Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB darf Bietern auch
keinen Vorwand liefern, sich im Nachhinein unter Berufung auf einen
vermeintlichen Kalkulationsirrtum von einem in Wirklichkeit mit Bedacht sehr
günstig gestalteten Angebot zu lösen, wenn sie die diese besonders günstige
Kalkulation nach Angebotsabgabe reut.
11 c) Die Schwelle zum Pflichtenverstoß durch Erteilung des Zuschlags zu
einem kalkulationsirrtumsbehafteten Preis ist im Bereich der Vergabe
öffentlicher Aufträge aber dann überschritten, wenn dem Bieter aus
Sicht eines verständigen öffentlichen Auftraggebers bei wirtschaftlicher
Betrachtung schlechterdings nicht mehr angesonnen werden kann, sich mit dem
irrig kalkulierten Preis als einer auch nur annähernd äquivalenten
Gegenleistung für die zu erbringende Bau-, Liefer- oder Dienstleistung zu
begnügen. Verhält es sich so und führt der Auftraggeber gleichwohl
den Vertragsschluss herbei, kann der Bieter vertraglichen Erfüllungs- oder
Schadensersatzansprüchen ein Leistungs-verweigerungsrecht entgegensetzen.
12 3. Steht der Kalkulationsirrtum, wie hier, im Zeitpunkt der
Entscheidung über die Zuschlagserteilung außer Streit, hängt die
Entscheidung nur noch davon ab, ob der Auftraggeber im Hinblick auf die
Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des betroffenen Bieters (§ 241
Abs. 2 BGB) von der Zuschlagserteilung hätte absehen müssen (vorstehend II 2
c). Das hat das Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht bejaht.
13 a) Im Streitfall, kommt es nicht darauf an, unter welchen indiziellen
Voraussetzungen anzunehmen ist, die Vergabestelle habe sich treuwidrig der
Erkenntnis verschlossen, dass ein Angebot von einem ganz erheblichen
Kalkulationsirrtum beeinflusst sein muss. Denn die Klägerin hatte der
Vergabestelle ihren Irrtum noch vor Vertragsschluss schriftlich hinreichend
erläutert. Der im Leistungsverzeichnis angegebene Einheitspreis von 9,60
€/m2 ergab nach dem Mengenansatz des Leistungsverzeichnisses (4.125) den im
Angebot angegebenen Gesamtpreis von 39.600 €. Soweit der Preis, den die
Klägerin eigentlich ansetzen wollte, einmal auf 59,59 €/t und einmal auf 64
€/t beziffert ist, hängt dies ersichtlich damit zusammen, dass sie ihren
Berechnungen einmal die eigenen, aus der Übersicht "Herstellkosten" (Anlage
K9) ersichtlichen Kosten von 8,94 €, und einmal ihren im
Leistungsverzeichnis geforderten Preis von 9,60 € zugrunde gelegt hat. Die
Vergabestelle hat dementsprechend auch nicht infrage gestellt, dass das
Angebot der Klägerin überhaupt von einem Kalkulationsirrtum beeinflusst war,
sondern lediglich die Ansicht vertreten, dieser habe kein hinreichend
gravierendes Ausmaß.
14 In diesem wesentlichen Punkt unterscheidet sich der Streitfall von der
Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 7. Juli
1998 (BGHZ 139, 177 ff.). Nach den dort tatrichterlich getroffenen
Feststellungen hatte der öffentliche Auftraggeber im maßgeblichen Zeitpunkt
des Vertragsschlusses keine Kenntnis der einen Kalkulationsirrtum und eine
Unzumutbarkeit der Vertragsdurchführung begründenden Tatsachen. Aus dem
Angebot des dort beklagten Bieters war nicht zu entnehmen, dass die
Transport- und Montagekosten, deren Nichtberücksichtigung dieser Bieter als
Kalkulationsirrtum geltend gemacht hatte, nicht in die Einheitspreise der
einzelnen Leistungspositionen eingerechnet waren, und der vermeintliche
Kalkulationsirrtum war auch sonst nicht hinreichend substantiiert worden (BGHZ
139, 177, 185 ff.). Deshalb kam es für die dortige Entscheidung darauf
an, ob anzunehmen war, dass sich der Auftraggeber nach den gesamten
Umständen treuwidrig der Kenntnis vom Kalkulationsirrtum verschlossen hatte.
In diesem Zusammenhang ist die Struktur der angebotenen Preise von
Bedeutung. Auf einen Kalkulationsirrtum kann hindeuten, wenn allein
der Abstand zum nächsthöheren Angebotspreis besonders groß ist (BGHZ
139, 177, 189). So verhält es sich vorliegend, denn das dem Preis der
Klägerin von 455.052,29 € nächstkommende Angebot belief sich bereits auf
621.054,68 €. Der indizielle Wert der Angebotsstruktur kann demgegenüber
ganz anders zu bewerten sein, wenn die Angebotssummen ohne signifikanten
Abstand zwischen dem günstigsten und den folgenden Angeboten breit gestreut
sind, wie in dem vom Bundesgerichtshof am 7. Juli 1998 entschiedenen Fall,
wo Preise von 305.812,60 DM, 312.094,70 DM, 349.014,10 DM, 403.344,10 DM,
405.202,50 DM und 476.209,83 DM angeboten worden waren (vgl.
BGH NJW 1998, 3192, insoweit nicht in BGHZ 139,
177 ff. abgedruckt). Von indiziellem Wert kann überdies je nach Fall auch
sein, ob der geltend gemachte Kalkulationsirrtum nur eine einzige oder
allenfalls vereinzelte Positionen betrifft oder ob noch weitere Teile des
Angebots davon beeinflusst sein sollen.
15 b) Aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden ist die Annahme des
Berufungsgerichts, dass die Rücksichtnahmepflichten der Vergabestelle aus §
241 Abs. 2 BGB nicht erst dann einsetzen, wenn dem betroffenen Bieter bei
Durchführung des Auftrags zum Angebotspreis in absehbarer Zeit Insolvenz
oder vergleichbar prekäre wirtschaftliche Schwierigkeiten drohen, wie die
Vergabestelle in dem vom Berufungsgericht erwähnten Schreiben vom 7. Oktober
2011 gemeint hat. Die Verpflichtung, aus Rücksicht auf die
Interessen des Bieters von der Zuschlagserteilung abzusehen, greift nicht
erst ein, wenn dessen wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel steht.
Wie die Vergabestelle in dem genannten Schreiben selbst zutreffend erwogen
hat, ist ein einzelner nicht auskömmlicher Auftrag dafür normalerweise nicht
ausreichend. Es wäre unbillig, das Eingreifen von Rücksichtnahmepflichten
aus § 241 Abs. 2 BGB gleichwohl davon abhängig zu machen, dass eine
existenzielle Bedrohung des anderen Teils im Raum steht. Dafür ist
vielmehr darauf abzustellen, ob zwischen dem Wert der für den Auftraggeber
erbrachten Leistung und dessen Gegenleistung eine unbillige Diskrepanz
herrscht (oben II 2 c).
16 c) Raum dafür, im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe vom
Vertragsschluss nach § 241 Abs. 2 BGB abzusehen, wenn der Auftraggeber den
irrig kalkulierten Preis billigerweise nicht mehr als auch nur im Ansatz
äquivalentes Entgelt für die erbrachte Leistung auffassen kann, bietet im
Übrigen der in den Vergabe- und Vertragsordnungen seit jeher verankerte
Appell, öffentliche Aufträge zu angemessenen Preisen zu erteilen (vgl. § 2
Abs. 1 Nr. 1 VOB/A, § 2 Abs. 1 VOL/A). Dieser darf zwar nicht als Handhabe
dafür missverstanden werden, die Preisbildung in einem funktionierenden
Vergabewettbewerb infrage zu stellen. Die Regelung rechtfertigt aber, eine
unmäßige Übervorteilung eines Bieters abzuwenden, die diesem aus der Bindung
an einen Preis droht, der von einem erheblichen Kalkulationsirrtum
beeinflusst ist.
17 d) Hinsichtlich des erforderlichen Gewichts der Umstände, unter denen der
Bieter den Vertrag nicht erfüllen muss, ergibt sich, wie das
Berufungsgericht ebenfalls richtig erkannt hat, aus der bisherigen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nichts Gegenteiliges. In der
Entscheidung vom 7. Juli 1998 (BGHZ 139, 177 ff.) wird die
Unzumutbarkeit der Auftragsausführung ganz allgemein und beispielhaft damit
in Verbindung gebracht, dass der Bieter in erhebliche wirtschaftliche
Schwierigkeiten gerät, wenn er den Auftrag zu dem irrig kalkulierten Preis
ausführen müsste (BGHZ 139, 177, 185). Nähere Vorgaben zur Ausfüllung des
Begriffs der erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten enthält die
Entscheidung nicht, und zwar ersichtlich deshalb nicht, weil es für die
Entscheidung darauf nicht ankam, nachdem der Auftraggeber bereits keine
zurechenbare Kenntnis von dem geltend gemachten Kalkulationsirrtum erlangt
hatte.
18 4. Wann diese Voraussetzung als erfüllt anzusehen ist, lässt sich
nicht allgemeinverbindlich festlegen, sondern bedarf einer alle erheblichen
Umstände des Einzelfalls berücksichtigenden Bewertung. Das
Ergebnis, zu dem das Berufungsgericht in tatrichterlicher Würdigung im
Streitfall gelangt ist, kann im Revisionsverfahren nur eingeschränkt darauf
überprüft werden, ob dabei gegen Denkgesetze oder allgemein anerkannte
Erfahrungssätze verstoßen wurde oder das Vorbringen der Parteien
verfahrensfehlerhaft widersprüchlich oder unvollständig gewürdigt worden
ist. Solche Rechtsfehler deckt die Revision nicht auf.
19 a) Das Berufungsgericht hat zum einen auf die Massivität des Irrtums
abgestellt, der zu einem Positionspreis in Höhe von etwa einem Sechstel des
üblichen Preises geführt habe und zum anderen darauf, dass der Endpreis des
Angebots der Klägerin mit 27 % in besonders auffälligem Maß unter dem Preis
gelegen habe, den der nächstgünstige Mitbewerber als auskömmlich angeboten
habe. Das steht grundsätzlich in Einklang mit der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs, die dem Ausmaß des Irrtums im Rahmen der Frage, ob die
Umstände für den Auftraggeber einen erheblichen Kalkulationsirrtum
nahelegen, wesentliche Bedeutung zumisst (BGHZ 139, 177, 185), und lässt
auch in der Anwendung auf den vorliegenden Streitfall keinen Rechtsfehler
erkennen. Es ist lediglich darauf hinzuweisen, dass der Wert von 27 % nicht
als allgemeinverbindliches, in jedem Beschaffungsvorgang bei jedem
beliebigen Auftragsvolumen erforderliches, aber auch hinreichendes Maß für
den die Unzumutbarkeit der Auftragsausführung begründenden Abstand zum
nächstgünstigen Angebot zu verstehen ist. Wie bereits ausgeführt, müssen
stets die Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Dabei kann
insbesondere auch das jeweilige Auftragsvolumen von Bedeutung sein. Stehen
beispielsweise die Folgen eines Kalkulationsirrtums bei einem
Auftragsvolumen in Rede, welches dasjenige des Streitfalls um ein Vielfaches
übersteigt, muss das nicht heißen, dass der Bieter auch in einem solchen
Fall erst bei Erreichen einer gleichhohen Quote aus Gründen der
Rücksichtnahme auf seine Interessen nicht am irrtumsbedingten Preis
festgehalten werden kann. Umgekehrt muss die bei einem besonders großen
Auftragsvolumen zugrunde gelegte Abweichung nicht auch für deutlich
geringere Volumina maßgeblich sein.
20 b) Soweit die Revision nähere Feststellungen des Berufungsgerichts zu den
der Klägerin bei Vertragsdurchführung drohenden Nachteilen und zu ihrer
Gewinnspanne vermisst, ist ihr zuzugeben, dass die Gewinnspanne für die
Prüfung, ob die Auftragsausführung zu einem falsch kalkulierten Preis
unzumutbar ist, grundsätzlich eine gewisse indizielle Bedeutung haben kann.
Aber selbst eine überdurchschnittliche Gewinnspanne - die das
Berufungsgericht in Bezug auf das Angebot der Klägerin unangegriffen nicht
festgestellt hat - verliert bei wirtschaftlicher Betrachtung umso mehr an
Bedeutung, je größer die Preisabweichung als solche ist. Das
Berufungsgericht konnte die Abweichung vom nächstgünstigen Bieter nach den
gesamten Umständen auch ohne genaue Kenntnis der Gewinnspanne der Klägerin
als tragfähiges Indiz dafür bewerten, dass ihr Angebotspreis für sie äußerst
nachteilig war. Das legt schon der Vergleich des tatsächlich verlangten und
des irrtumsbereinigten Preises nahe. Letzterer übersteigt nach den vom
Berufungsgericht in Bezug genommenen Feststellungen des Landgerichts den
tatsächlichen Angebotspreis der Klägerin von 455.052,29 € um mehr als
224.400 €.
21 c) Die Klägerin handelte entgegen der Auffassung der Revision jedenfalls
nicht treuwidrig, als sie den modifizierten Vergleichsvorschlag der
Vergabestelle ablehnte, den Auftrag zum Angebotspreis auszuführen,
gleichzeitig gerichtlich feststellen zu lassen, ob ein Anfechtungsrecht
besteht und nur in diesem Fall eine weitere Vergütung bis zur Höhe eines von
ihr, der Klägerin selbst vergleichsweise vorgeschlagenen Preises für die
Position 00.02.0009 zu erhalten. Mit dem von der Revision herangezogenen,
vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall (BGH, Urteil vom 19. Dezember 1985
- VII ZR 188/84, NJW-RR 1986, 569) ist der Streitfall nicht vergleichbar.
Dort ging es nicht um die Vergütung einer Position bis zur Höhe eines
nachträglich vergleichsweise vorgeschlagenen Betrags, sondern darum, ob der
dort geschlossene Vertrag dahin auszulegen war, dass eine bestimmte
Teilleistung einbezogen war oder nicht.
22 d) Die Revision möchte der Klägerin schließlich in Analogie zu den Regeln
für die Behandlung von Angeboten mit unangemessen niedrigen Preisen (vgl. §
16 Abs. 6 Nr. 1 und 2 VOB/A) die Berufung auf die Unzumutbarkeit der
Vertragsausführung versagt wissen. Eine entsprechende Anwendung der dafür
geltenden Regelungen kommt jedoch nicht in Betracht, weil sie anderen
Schutzzwecken dienen. Sie schützen nach ständiger Rechtsprechung in erster
Linie die öffentlichen Auftraggeber und sind kein Instrument dafür, dem
einzelnen Bieter die Folgen seines eigenen unauskömmlichen Angebots zu
ersparen (vgl. BGH, Beschluss vom 31. August 1994 - 2 StR 256/94, NJW 1995,
737; BGH NJW 1980, 180). Vielmehr sollen die öffentlichen Auftraggeber davor
bewahrt werden, dass der Unternehmer die geschuldete Leistung infolge der
Un-auskömmlichkeit der Vergütung mangelhaft oder nicht vollständig erbringt.
Die Frage, unter welchen Voraussetzungen dem Auftragnehmer die
Vertragsdurchführung nicht mehr zugemutet werden kann, betrifft gänzlich
anders gelagerte Interessen, was einem Rückgriff auf die für die Behandlung
von Unterkostenangeboten geltenden Grundsätze entgegensteht. Auch aus der
von der Revision herangezogenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu
spekulativen Positionspreisen, die bei Mehrmengen ein wucherähnliches
Missverhältnis zwischen Preis und Bauleistung nach sich ziehen können (BGH,
Urteil vom 14. März 2013, BGHZ 196, 355), lassen sich keine tragfähigen
Parallelen für die Bindung an kalkulationsirrtumsbehaftete Angebotspreise
ziehen.
23 III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
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