"Horror pleni" oder "Kleinkrieg am BGH": Der IX. Senat äußert sich (unaufgefordert) zur Zulässigkeit einer Vorlage des XI. Senats  ("the neverending story, part IV") 
IX. Zivilsenat, Stellungnahme vom 15. Februar 2000
Fundstelle:

ZIP 2000, 404
NJW 2000, 1185
Zur Erledigung des Verfahrens s. die Anm. zu BGH NJW 1999, 2584


Beschluß:

Der IX. Zivilsenat ist der Auffassung, dass er zum Vorlagebeschluss des XI. Zivilsenats vom 29. Juni 1999 (NJW 1999, 2584) angehört werden muss, soweit der Große Senat für Zivilsachen die Vorlage für zulässig hält.

Gründe:

Der Xl. Zivilsenat hat dem Großen Senat für Zivilsachen mehrere Rechtsfragen vorgelegt, die Bürgschaften und Mithaftungserklärungen finanziell krass überforderter Personen betreffen. Obwohl der Xl. Zivilsenat, wie die Begründung des Vorlagebeschlusses ergibt, In mehreren Rechtsfragen von Entscheidungen des IX. Zivilsenats abweichen will, hat er zuvor keine Anfrage gemäß §132 Abs. 3 GVG an den für das Bürgschaftsrecht zuständigen IX. Zivilsenat gerichtet. Der Xl. Zivilsenat ist offenbar der Ansicht, die Vorlage sei wegen grundsätzlicher Bedeutung (§132 Abs. 4 GVG) zulässig. Dieses Verfahren entspricht nach Überzeugung des IX. Zivilsenats nicht dem Gesetz, im Hinblick auf die Aufgabe, die §132 Abs. 3 GVG dem Senat zuweist, von dessen Rechtsauffassung der vorlegende Senat abweichen will, ist der IX. Zivilsenat befugt, von sich aus auf die rechtlichen Bedenken gegen die Verfahrensweise des XI. Zivilsenats hinzuweisen (vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 2. 10. 1997, NJW 1998, 523, in einer verfahrensrechtlich vergleichbaren Situation).

II. Nach Ansicht des IX. Zivilsenats ist die Vorlage des Xl. Zivilsenats jedenfalls in der gegenwärtigen Form unzulässig. Es fehlt bereits daran, dass für keine der vorgelegten Fragen die Entscheidungserheblichkeit im Ausgangsfall dargelegt ist.

1. Die Entscheidungserheblichkeit der gestellten Fragen ist Zulässigkeitsvoraussetzung jeder Vorlage (BGH, Beschl. v. 5. 5. 1994 - VG S 1-4/93, BGHZ 126, 63, 71 = ZIP 1994, 809, dazu EWiR 1994, 997 (Vollkommer); Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe das Bundes, Beschl. v. 24. 10. 1983 - GmS-OGB 1/83, BGHZ 88, 353, 357 = ZIP 1984, 486; BGH, Beschl. v. 7. 11. 1985 - GSSt 1/85, BGHSt 33, 356, 359; BGH, Beschl. v. 19. 5. 1993 - GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 225). Der Bundesgerichtshof versteht den Begriff der Entscheidungserheblichkeit bei Vorlagen anderer Gerichte - etwa nach §28 Abs. 2 FGG, §79 Abs. 2 GBO, §541 ZPO - in dem Sinne, dass es vom Standpunkt des vorlegenden Gerichts aus für die Entscheidung auf die streitige Rechtsfrage ankommt, sich also aus dem Vorlagebeschluss ergeben muss, dass das vorlegende Gericht bei Befolgung der abweichenden Ansicht zu einem anderen Ergebnis gelangen würde (BGH, Beschl. v. 14. 10. 1981 - IVb ZB 718/80, BGHZ 82, 34, 36 f.; BGH, Beschl. v. 11. 7. 1990 - XII ZB 113/87, BGHZ 112, 127, 129; BGH, Beschl. v. 19. 2. 1992 - VIII ARZ 5/91, BGHZ 117, 217, 221). Die Vereinigten Großen Senate vertreten für die Vorlage nach §132 GVG keine davon abweichende Auffassung, wie die Bezugnahme auf die oben genannten Entscheidungen im Beschluss vom 5. Mai 1994 belegt (vgl. BGHZ 126, 63, 72 = ZIP 1994, 809).

Das erscheint auch allein sachgerecht. §132 GVG räumt dem Großen Senat die Befugnis zur Beantwortung streitiger oder grundsätzlich bedeutsamer Rechtsfragen nur ein, soweit deren Beantwortung für die Entscheidung des konkreten Falles nach Auffassung des vorlegenden Senats erforderlich wird. Diese Beschränkung geht mittelbar auch aus §138 Abs. 1 Satz 3 GVG hervor, der die Bindungswirkung der Entscheidung auf die vorgelegte Sache bezieht. Die Großen Senate können nicht mit dem Ziel angerufen werden, verbindliche Rechtsgutachten zu erteilen. Daher ist es unstatthaft, ihnen Fragen vorzulegen, deren Beantwortung lediglich die Art der Begründung einer Entscheidung, nicht jedoch deren Ergebnis beeinflusst. Auch im Schrifttum wird diese Ansicht nahezu einhellig vertreten (Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 58. Aufl., §132 GVG Rz. 7; Kissel, GVG, 2. Aufl., §132 Rz. 38, Schäfer/Harms, in: Löwe-Rosenberg, StPO u. GVG, 24. Aufl., §132 Rz. 41; Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, ZPO u. Nebengesetze, 3. Aufl., §132 Rz. 8; Zöller/Gummer, ZPO, 21. Aufl., §132 GVG Rz. 4; a. A. Bettermann, DVBl 1982, 954, 955).

2. Im Ausgangsfall begehrt die Klägerin, die für eine Darlehensforderung die Mithaftung übernommen hat, die Feststellung, dass sie der Gläubigerin keine Zahlungen aus dem Darlehensvertrag schuldet. Das Landgericht hat diesem Antrag stattgegeben, das Oberlandesgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Es hat dies - der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des BGH zu Ehegatten-Bürgschaften folgend - damit begründet, dass die Mithaftungsvereinbarung nicht sittenwidrig sei, die Klägerin jedoch nach den Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage die Leistung endgültig verweigern könne (vgl. BGHZ 128, 230, 235 ff. = ZIP 1995, 203, dazu EWiR 1995, 561 (Honsell); BGHZ 132, 328, 331 ff. = ZIP 1996, 1126, dazu EWiR 1996, 833 (Bydlinski); BGHZ 134, 325, 328 ff. = ZIP 1997, 406, dazu EWiR 1997, 289 (Medicus)). Die Begründung des Vorlagebeschlusses zeigt, dass der XI. Zivilsenat der Revision der Bank nicht stattgeben, sondern die angefochtene Entscheidung im Ergebnis bestätigen will. Er beabsichtigt offenbar lediglich, dies, anders als das Berufungsgericht, damit zu begründen, die Mithaftungsvereinbarung sei wegen Sittenwidrigkeit von Anfang an nichtig gewesen. Alle vom XI. Zivilsenat in diesem Zusammenhang angesprochenen Fragen können auf der Grundlage der von ihm vertretenen Auffassung das Ergebnis der vorgelegten Sache nicht beeinflussen. Sollte der XI. Zivilsenat dies anders sehen, wäre es seine Aufgabe, für jede Frage die Voraussetzungen der Entscheidungserheblichkeit im Einzelnen darzulegen.

3. Der dem Vorlagebeschluss möglicherweise zugrunde liegenden Meinung des XI. Zivilsenats, an Zulässigkeitsfragen dürfe die Grundsatzvorlage nicht scheitern, wenn der vorlegende Senat sie aus Zweckmäßigkeitsgründen für geboten halte, kann nicht zugestimmt werden. Die klaren Schranken der gesetzlichen Regelung entsprechen der Aufgabe des Richters, fallbezogen zu entscheiden, und dürfen nicht beiseite geschoben werden. An der langjährigen Rechtsprechung der Großen Senate und der Vereinigten Großen Senate zu den Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Vorlage nach §132 GVG ist daher festzuhalten.

III. Gelingt es dem vorlegenden Senat, die Entscheidungserheblichkeit der einen oder anderen Frage darzutun, oder will der Große Senat für Zivilsachen den Begriff, abweichend von der bisherigen Rechtsprechung, in einem weiter gehenden Sinne verstehen, so ist doch allein eine Divergenzvorlage nach §132 Abs. 2 GVG möglich.

1. Sinn und Zweck einer Grundsatzvorlage nach §132 Abs. 4 GVG bestehen darin, schon im Vorfeld das Entstehen einer Divergenz bei der Fortbildung des Rechts zu verhindern (z.B. Zöller/Gummer, aaO, §132 GVG Rz. 6). Insbesondere ermöglicht §132 Abs. 4 GVG die Vorlage, wenn ein anderer Senat seine abweichende Auffassung bereits zum Ausdruck gebracht hat, dies jedoch nur in Form eines obiter dictum geschehen ist, so dass eine Divergenzvorlage nach §132 Abs. 2 GVG nicht möglich ist (Kissel, aaO, §132 Rz. 30; Schäfer/Harms, aaO, §132 Rz. 38; Zöller/Gummer, aaO, Rz. 4). Aus dieser Zielrichtung der Grundsatzvorlage ergibt sich, dass eine solche nicht in Betracht kommt, wenn schon eine Vorlage nach §132 Abs. 2 GVG geboten ist; diese hat Vorrang vor einer Grundsatzvorlage nach §132 Abs. 4 GVG (BGH, Beschl. v. 7. 11. 1985 - GSSt 1/85, BGHSt 33, 356, 359; vgl. auch Vorlagebeschl. v. 6. 3. 1997 - IX ZR 74/95, ZIP 1997, 632, 635, dazu EWiR 1998, 627 (Medicus)). Das gilt hier für alle Fragen. In denen der IX. und der XI. Zivilsenat unterschiedliche Auffassungen vertreten; dies betrifft insbesondere das Problem, unter welchen Voraussetzungen Bürgschaften oder Mithaftungsübernahmen, die den Schuldner finanziell krass überfordern, gem. §138 Abs. 1 BGB nichtig sind, wann der Gläubiger ein berechtigtes Interesse hatte, sich vor Vermögensverlagerungen auf den Bürgen/Mithaftenden zu schützen.

2. In einer erheblichen Anzahl von Punkten, die der Vorlagebeschluss anspricht, besteht zwischen beiden Senaten keine Divergenz, so dass insoweit eine Vorlage nach §132 Abs. 2 GVG nicht in Betracht kommt. In diesem Umfang scheidet aber auch eine Vorlage nach §132 Abs. 4 GVG aus. Soweit der IX. und der XI. Zivilsenat sich in der rechtlichen Beurteilung einig sind, bedarf es weder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung noch zur Fortbildung des Rechts der Anrufung des Großen Senats; denn es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass andere Zivilsenate In einem Punkt von der Auffassung abweichen wollen, die der IX. und der XI. Zivilsenat übereinstimmend vertreten (vgl. dazu Kissel, aaO, §132 Rz. 34 bis 36, MünchKomm-Manfred Wolf, aaO, §132 Rz. 23 f.; Schäfer/Harms, aaO, §132 Rz. 34 bis 36; Schreiber, aaO, §132 GVG Rz. 8). Schon um festzustellen, welche Fragen beide Senate noch unterschiedlich beurteilen, ist es unabweisbar, eine Stellungnahme des für die Bürgschaft zuständigen Fachsenats einzuholen.