Kunstfreiheit und
allgemeines Persönlichkeitsrecht ("Esra")
BVerfG v. 13.6.2007 - 1 BvR
1783/05
Fundstelle:
NJW 2008, 39
s. dazu insbesondere BVerfGE 30, 173
("Mephisto")
Amtl. Leitsätze:
1. Bei dem
gerichtlichen Verbot eines Romans als besonders starkem Eingriff in die
Kunstfreiheit prüft das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit der
angegriffenen Entscheidungen mit der verfassungsrechtlichen
Kunstfreiheitsgarantie auf der Grundlage der konkreten Umstände des
vorliegenden Sachverhalts.
2. Die Kunstfreiheit verlangt für ein literarisches Werk, das sich als Roman
ausweist, eine kunstspezifische Betrachtung. Daraus folgt insbesondere eine
Vermutung für die Fiktionalität eines literarischen Textes.
3. Die Kunstfreiheit schließt das Recht zur Verwendung von Vorbildern aus
der Lebenswirklichkeit ein.
4. Zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste
ästhetische Realität schafft, und der Intensität der Verletzung des
Persönlichkeitsrechts besteht eine Wechselbeziehung. Je stärker Abbild und
Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des
Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung besonders
geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss
die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung
auszuschließen.
Zentrale Probleme:
S. die
Pressemitteilung des BVerfG Nr. 99/2007 vom 12. Oktober
2007. Zum Fortgang des Verfahrens s. BGH
NJW 2008, 2587.
©sl 2008
Gründe:
A. I.
1
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Urteile des Landgerichts
München I, des Oberlandesgerichts München und des Bundesgerichtshofs, durch
die die Veröffentlichung, Auslieferung und Verbreitung des von der
Beschwerdeführerin verlegten Romans "Esra" des Autors B. untersagt wurden,
weil dieser das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerinnen des
Ausgangsverfahrens verletze.
2
1. Der Roman "Esra" erschien im Frühjahr 2003 im Verlag der
Beschwerdeführerin. Erzählt wird darin die Liebesgeschichte von Adam und
Esra, einem Schriftsteller und einer Schauspielerin. Die Liebesbeziehung
zwischen den beiden Hauptfiguren spielt in München-Schwabing und wird über
einen Zeitraum von etwa vier Jahren von Adam als Ich-Erzähler geschildert.
Der Liebesbeziehung stellen sich Umstände aller Art in den Weg: Esras
Familie, insbesondere ihre herrschsüchtige Mutter, Esras Tochter aus der
ersten, gescheiterten Ehe, der Vater ihrer Tochter, und vor allem Esras
passiver schicksalsergebener Charakter.
3
Obwohl nach Ansicht des Autors und der Beschwerdeführerin die Figuren des
Romans fiktiv sind, räumten beide im Ausgangsverfahren ein, dass der Autor
von seiner Liebesbeziehung zur Klägerin zu 1) inspiriert worden war. In
einer Widmung in dem der Klägerin zu 1) übermittelten Exemplar des Buchs
schreibt der Autor:
4
Liebe A... , dieses Buch ist für Dich. Ich habe es nur für Dich geschrieben,
aber ich verstehe, dass Du Angst hast, es zu lesen. Vielleicht liest Du es,
wenn wir alt sind - und siehst dann noch einmal, wie sehr ich Dich geliebt
habe. Maxim. Berlin, den 22.2.03.
5
In einem gedruckten Nachwort heißt es im Buch:
6
Sämtliche Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit
Lebenden und Verstorbenen sind deshalb rein zufällig und nicht beabsichtigt.
7
Die Klägerin zu 1) ist Trägerin des Bundesfilmpreises 1989. Mit 17 Jahren
heiratete sie. Aus der Ehe stammt eine Tochter. Nach dem Scheitern dieser
Ehe hatte die Klägerin zu 1) über eineinhalb Jahre ein intimes Verhältnis
mit dem Autor. Während dieser Beziehung ist ihre Tochter schwer erkrankt.
Nach der Trennung vom Autor hatte die Klägerin zu 1) über kurze Zeit eine
weitere Beziehung mit einem ehemaligen Schulfreund. Aus dieser Beziehung,
die zwischenzeitlich ebenfalls gescheitert ist, stammt ein Kind. Die
Klägerin zu 2) ist die Mutter der Klägerin zu 1). Sie ist Trägerin des
Alternativen Nobelpreises 2000 und Besitzerin eines Hotels in der Türkei.
8
2. Die Romanfigur der Esra wird als eine von dem Willen ihrer Mutter
abhängige, unselbständige Frau geschildert, die in der zuletzt angegriffenen
Version des Romans den "Fritz-Lang-Preis" für eine Filmrolle gewonnen hat.
Die Beziehung zu dem Ich-Erzähler ist durch einen fortdauernden Wechsel von
Zuneigung und Ablehnung und die enttäuschte Liebe des Ich-Erzählers
gekennzeichnet .Sie ist deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sich Esra
nicht aus der Umklammerung durch ihre Mutter, ihre schwerkranke Tochter Ayla
und den Vater ihrer Tochter lösen kann. Die Beziehung des Ich-Erzählers zur
Romanfigur Esra wird auf verschiedenen Ebenen unter Brechung der Chronologie
durch mehrfache Rückblenden und in zahlreichen Details geschildert. Davon
umfasst sind auch Überlegungen Esras darüber, ihr zweites Kind abtreiben zu
lassen, wozu es schließlich nicht kommt, weil sie - so legen es Überlegungen
des Ich-Erzählers nahe - dieses Kind anstelle ihrer todkranken Tochter haben
möchte. Der Roman enthält an mehreren Stellen die Schilderung sexueller
Handlungen zwischen Esra und dem Ich-Erzähler.
9
Esras Mutter, die Romanfigur Lale, besitzt ein Hotel an der Ägäischen Küste
in der Türkei und hat in der ursprünglichen Romanfassung für ihre
Umweltaktivitäten den Alternativen Nobelpreis, in der zuletzt angegriffenen,
nach Vergleichsbemühungen zwischen den Parteien überarbeiteten Fassung den
"Karl-Gustav-Preis" erhalten. Zwischen ihrem Lebenslauf und dem der Klägerin
zu 2) gibt es deutliche und markante Übereinstimmungen (Zahl der Ehen und
Kinder, Wohn- und Handlungsorte). Der Figur der Lale wird im Roman
wesentliche Verantwortung für das Scheitern der Beziehung zwischen Adam und
Esra zugeschrieben. Sie ist deutlich negativ gezeichnet. Nach dem Urteil des
Bundesgerichtshofs wird sie als eine depressive, psychisch kranke
Alkoholikerin dargestellt, die ihre Tochter und ihre Familie tyrannisiert.
II.
10
1. Die Klägerinnen beantragten kurz nach Erscheinen des Romans, von dem bis
dahin rund 4.000 Exemplare verkauft worden waren, beim Landgericht den
Erlass einer auf ein Verbot der Verbreitung des Romans gerichteten
einstweiligen Verfügung. Im Verlauf des Verfahrens gab die
Beschwerdeführerin mehrere Unterlassungsverpflichtungserklärungen ab, mit
denen sie anbot, es bei Vermeidung einer Vertragsstrafe zu unterlassen, den
Roman ohne bestimmte Streichungen beziehungsweise Änderungen zu
veröffentlichen. Das Verfahren endete mit einer Ablehnung des Antrags auf
Erlass einer einstweiligen Verfügung im Hinblick auf die zwischenzeitlich
abgegebenen Unterlassungsverpflichtungserklärungen. Nach Beendigung des
einstweiligen Verfügungsverfahrens veröffentlichte die Beschwerdeführerin
eine "geweißte" Fassung des Romans , die bestimmte Auslassungen aufwies.
11
2. a) Im Hauptsacheverfahren, in dem die Beschwerdeführerin am 18. August
2003 eine letzte - noch über die "geweißte" Fassung hinausgehende -
Unterlassungsverpflichtungserklärung abgab, mit der sie insbesondere anbot,
die Bezeichnung der an die Romanfiguren Esra und Lale verliehenen Preise und
den jeweiligen Grund hierfür zu ändern, trugen die Klägerinnen im
Wesentlichen vor, das Buch stelle eine Biographie ohne wesentliche
Abweichung von der Wirklichkeit dar. Eine Identifizierung ihrer Personen sei
auch in der veränderten Fassung des Romans ohne weiteres möglich. Durch die
Darstellung würden sie diffamiert und in herabwürdigender Weise geschildert.
Durch ausführliche und zum Teil ehrverletzende und beleidigende
Schilderungen aus dem Sexualleben der Klägerin zu 1), der familiären
Beziehungen und Streitigkeiten der Klägerinnen untereinander, den
Auseinandersetzungen mit dem Ehemann der Klägerin zu 1) sowie die
Schilderung der Krankheit der Tochter der Klägerin zu 1) sei in den absolut
geschützten Bereich ihres Intimlebens eingegriffen worden.
12
b) Die Beschwerdeführerin trug im Wesentlichen vor, es handele sich bei dem
Buch nicht um einen Schlüsselroman. Ein Großteil dessen, was in dem Roman
passiere, habe sich in der Realität so nicht ereignet. Es sei nicht richtig,
dass Handlungen und Personen größtenteils den Biographien der Klägerinnen
entnommen seien.
13
3. Das Landgericht verurteilte die Beschwerdeführerin unter Androhung eines
Ordnungsgeldes, es zu unterlassen, das Buch "Esra" zu veröffentlichen oder
veröffentlichen zu lassen, auszuliefern oder ausliefern zu lassen, zu
vertreiben oder vertreiben zu lassen und hierfür zu werben oder werben zu
lassen.
14
Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch sei gemäß §§ 1004, 823 BGB in
Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG begründet. Die Klägerinnen seien durch das
angegriffene Buch in ihrem Persönlichkeitsrecht in einer Art verletzt, dass
demgegenüber die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zurücktrete.
15
Die Klägerinnen seien in den Romanfiguren erkennbar. Ausschlaggebend hierfür
sei die Darstellung der Figur Esra als Trägerin des Bundesfilmpreises 1989,
den die 17-Jährige für die Rolle einer jungen Türkin, die sich in einen
Deutschen verliebe, erhalten habe, und der Mutter der Esra als Trägerin des
Alternativen Nobelpreises des Jahres 2000 wegen ihres Einsatzes gegen den
Goldabbau in der Türkei. Die Kammer gehe davon aus, dass gerade der großen
türkischen Gemeinde in Deutschland, der die beiden Klägerinnen auch
angehörten, die Tatsache der Verleihung von zwei nicht unbedeutenden Preisen
an zwei ihrer Mitglieder auch nach vierzehn beziehungsweise drei Jahren noch
bekannt sei, und dass der Bezug zu den Klägerinnen hergestellt werde.
16
Die Beschwerdeführerin könne sich nicht darauf berufen, dass sie in der
nunmehr streitgegenständlichen Fassung des Buchs den Alternativen Nobelpreis
in "Karl-Gustav-Preis" und den Bundesfilmpreis in den "Fritz-Lang-Preis"
abgeändert habe, die beide nicht existierten. Die zunächst erschienene
Fassung des Buchs müsse bei der Beurteilung der Frage, ob die beiden
Klägerinnen in der nunmehr streitgegenständlichen Fassung im Hinblick auf
die vorbezeichneten Abänderungen noch erkennbar seien, mitberücksichtigt
werden. Gerade die den Tatsachen entsprechende Schilderung der beiden
Klägerinnen als Preisträgerinnen des Bundesfilmpreises beziehungsweise des
Alternativen Nobelpreises in der zunächst erschienenen Fassung führe zu
einer Erkennbarkeit und damit individuellen Betroffenheit der Klägerinnen.
Würde man hinsichtlich der Erkennbarkeit der Klägerinnen ausschließlich auf
die nunmehr streitgegenständliche Fassung abstellen, hätte dies zur Folge,
dass gerade deshalb, weil die Klägerinnen sich gegen eine Fassung des Buchs
zur Wehr gesetzt hätten, in der sie unschwer zu erkennen gewesen seien,
ihnen dies nunmehr zum Nachteil gereichen würde.
17
Nach Abwägung der Umstände des Einzelfalls sei von einem so schweren
Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Klägerinnen auszugehen, dass die
in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistete Kunstfreiheit demgegenüber
zurücktreten müsse.
18
Eine Verselbständigung des Abbilds vom Urbild sei vorliegend nicht zu
erkennen. Bis auf die Namen habe der Autor in dem Buch die familiären
Beziehungen "1:1" der Wirklichkeit entnommen. Die Schilderung stelle eine
Verletzung der Intimsphäre der Klägerin zu 1) dar. Sie habe mit dem Autor
ein intimes Verhältnis gehabt. Wenn dann der Ich-Erzähler des Romans mit der
Hauptfigur Esra, die als die Klägerin zu 1) zu identifizieren sei, ebenfalls
ein sexuelles Verhältnis habe, sei die Intimsphäre der Klägerin zu 1)
betroffen. Auf die Frage, ob die beschriebenen sexuellen Praktiken der
Realität entsprächen oder pure Fiktion seien, komme es insoweit nicht an.
19
Darüber hinaus liege eine ganz erhebliche Verletzung der
Persönlichkeitsrechte in der Schilderung der Krankheit der Tochter der
Klägerin zu 1). Unter anderem würden damit die Probleme begründet, die in
der Beziehung zwischen der Mutter des erkrankten Kindes und dem Ich-Erzähler
entstünden. Die Erörterung der Erkrankung des Kindes habe in der
Öffentlichkeit nichts zu suchen.
20
4. Das Oberlandesgericht wies die Berufung der Beschwerdeführerin gegen das
Urteil des Landgerichts zurück. Die Klägerinnen seien durch die
Veröffentlichung des Romans in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht
verletzt.
21
Sie seien in den Romanfiguren Esra und Lale und in dem Handlungs- und
Beziehungsgeflecht des Buchs erkennbar. Durch die Veröffentlichung des Buchs
seien sie unmittelbar und individuell betroffen. Für einen nicht
unbedeutenden Leserkreis würden erkennbar die Klägerinnen dargestellt. Eine
genügende Verfremdung des Abbilds vom Urbild fehle. Es seien so markante
Übereinstimmungen in dem Erscheinungsbild und dem Lebens- und Berufsweg von
Esra und Lale einerseits und den Klägerinnen andererseits festzustellen,
dass der Leser nicht zwischen Wahrheit und Erdichtetem unterscheiden könne.
22
Es lägen schwere Eingriffe in die Privat- und Intimsphäre der Klägerin zu 1)
vor. Zudem sei ihr Recht am eigenen Lebensbild verletzt worden. Diese
Eingriffe müsse sie nicht hinnehmen.
23
Die Privatsphäre werde durch die Schilderung der schweren Krankheit der
Tochter der Romanfigur Esra verletzt. Dem Leser dränge sich aufgrund der
Darstellung im Buch der Eindruck auf, die Tochter der Klägerin zu 1), die
tatsächlich schwer erkrankt sei, hiervon nach dem Vortrag der Klägerin zu 1)
jedoch nichts wisse, habe eine tödliche Krankheit, die auf mangelnder
Fürsorge der Klägerin zu 1) beruhe. Des Weiteren werde der Eindruck
vermittelt, die Klägerin zu 1) sei nur deshalb erneut schwanger geworden,
weil sie sich vor dem Verlust ihrer Tochter gefürchtet habe.
24
Die Intimsphäre der Klägerin zu 1) werde durch die Schilderung von
Einzelheiten des Sexuallebens von Esra einschließlich eines
Abtreibungsversuchs verletzt. Da der Leser nicht zwischen Wahrheit und
Erdichtetem unterscheiden könne, setze er dies mit realen Einzelheiten des
Sexuallebens der Klägerin zu 1) gleich. Leser, die die Klägerin zu 1)
identifiziert hätten, würden zudem die innersten Empfindungen und
Gedankengänge von Esra mit denen der Klägerin zu 1) gleichsetzen. Der
Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht wiege so schwer, dass er
nicht durch das Recht auf Kunstfreiheit gerechtfertigt sei.
25
Auch die Klägerin zu 2) sei durch die Veröffentlichung des Buchs unmittelbar
betroffen und in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Das Buch
greife schwer in die Privatsphäre der Klägerin zu 2) und ihr Recht am
eigenen Lebensbild ein. Wie bei der Klägerin zu 1) sei auch hinsichtlich der
Klägerin zu 2) nicht erkennbar, was wahr und was erdichtet sei. Leser, die
die Klägerin zu 2) identifiziert hätten, würden die Charakterzüge von Lale
mit denen der Klägerin zu 2) gleichsetzen. Dadurch sei die Klägerin zu 2)
zugleich in ihrem Recht am eigenen Lebensbild verletzt.
26
Das Verbot des Buchs sei nicht unverhältnismäßig. Die Anordnung einzelner
Schwärzungen scheide schon deswegen aus, weil in die gesamte Struktur und
Darstellung des Buchs eingegriffen werden müsste. Aufgabe des Gerichts sei
zwar festzustellen, ob die Veröffentlichung eines Buchs in einer bestimmten
Fassung zu unterlassen sei. Es dürfe jedoch nicht gleichsam wie ein
Schriftsteller dem Buch eine andere Fassung geben und sich künstlerisch
betätigen.
27
5. Der Bundesgerichtshof wies die Revision gegen das Urteil des
Oberlandesgerichts zurück.
28
Der Unterlassungsanspruch sei begründet. Die durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG
grundrechtlich garantierte Kunstfreiheit habe unter den Umständen des
Streitfalls hinter dem gemäß Art. 2 Abs. 1 GG ebenfalls grundrechtlich
geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Klägerinnen zurückzutreten.
Die Klägerinnen würden durch den Roman auch unter Berücksichtigung der in
den Unterlassungsverpflichtungserklärungen vorgenommenen Textänderungen in
ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt.
29
Eine Erkennbarkeit der Klägerinnen setze nicht voraus, dass diese "von einem
nicht unbedeutenden Leserkreis unschwer" in den Romanfiguren wiedererkannt
würden. Bei dieser Formulierung aus der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 1971 (vgl. BVerfGE 30, 173 <198>)
handele es sich um den von den Zivilgerichten seinerzeit zugrundegelegten
Maßstab. Dieser sei indes zu eng, weil grundsätzlich die Erkennbarkeit in
einem mehr oder minder großen Bekanntenkreis beziehungsweise in der näheren
persönlichen Umgebung genüge. Die Erkennbarkeit sei bereits dann gegeben,
wenn die Person ohne namentliche Nennung zumindest für einen Teil des Leser-
oder Adressatenkreises aufgrund der mitgeteilten Umstände hinreichend zu
erkennen sei. Bei Anlegung dieses Maßstabs sei die Auffassung des
Oberlandesgerichts, die Klägerinnen seien in den Romanfiguren Esra und Lale
zu erkennen, nicht zu beanstanden. Dies gelte insbesondere aufgrund der
wesentlichen Übereinstimmungen zwischen dem äußeren Erscheinungsbild und dem
Lebens- und Berufsweg der Klägerinnen und denen der Romanfiguren Esra und
Lale sowie der Verleihung des Bundesfilmpreises an die Klägerin zu 1) und
des Alternativen Nobelpreises an die Klägerin zu 2), die sich im Roman
erkennbar widerspiegelten.
30
Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerinnen sei
rechtswidrig. Ob eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
vorliege, sei aufgrund einer Güter- und Interessenabwägung anhand des zu
beurteilenden Einzelfalls festzustellen. Die Erkennbarkeit der Klägerinnen
reiche allein für die Begründung eines Unterlassungsanspruchs nicht aus.
Hinzukommen müsse vielmehr eine schwerwiegende
Persönlichkeitsrechtsverletzung, die durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht
mehr gerechtfertigt sei. Die Freiheit der Kunst sei nicht schrankenlos
gewährt. Das Grundrecht der Kunstfreiheit stehe zwar nicht unter einem
Gesetzesvorbehalt. Jedoch dürfe sich auch der Künstler, wenn er sich in
seiner Arbeit mit Personen seiner Umwelt auseinandersetze, nicht über deren
verfassungsrechtlich ebenfalls geschütztes Persönlichkeitsrecht
hinwegsetzen. Beide Interessenbereiche seien gegeneinander abzuwägen, wobei
insbesondere auch zu beachten sei, dass Charakter und Stellenwert des
beanstandeten Textes als Aussage der Kunst das Verständnis von ihm im
sozialen Wirkungsbereich zu beeinflussen vermöchten. Keinem der Rechtsgüter
komme von vornherein Vorrang gegenüber dem anderen zu. Zwar könnten
zweifelsfrei feststellbare schwerwiegende Beeinträchtigungen des
Persönlichkeitsrechts durch die Kunstfreiheit nicht gerechtfertigt werden.
Das bedeute jedoch nicht, dass die Prüfung, ob eine solch schwerwiegende
Beeinträchtigung festzustellen sei, isoliert, das heißt ohne
Berücksichtigung des Charakters des Werks, vorgenommen werden dürfe.
31
Der Autor habe mit den Figuren Esra und Lale keine gegenüber dem Urbild der
Klägerinnen verselbständigten Kunstfiguren geschaffen. Auch bei
Berücksichtigung des Umstands, dass es sich um einen Roman handele, ergebe
sich kein anderes Textverständnis. Das Kunstwerk wirke nicht nur als
ästhetische Realität, sondern habe daneben ein Dasein in den Realien, die
zwar in der Darstellung künstlerisch überhöht würden, damit aber ihre
sozialbezogenen Wirkungen nicht verlören. Diese Wirkungen auf der sozialen
Ebene entfalteten sich "neben" dem eigenständigen Bereich der Kunst;
gleichwohl müssten sie auch im Blick auf den Gewährleistungsbereich des Art.
5 Abs. 3 Satz 1 GG gewürdigt werden, da die "reale" und die "ästhetische"
Welt im Kunstwerk eine Einheit bildeten. Lehne sich eine Romanfigur an eine
reale Person an, werde diese daher nicht bereits aufgrund der Einbettung in
die Erzählung zum verselbständigten Abbild.
32
Ob dies der Fall sei, müsse in jedem Einzelfall geprüft werden. Im
Streitfall sei dies zu verneinen. Die tatsächlich nachprüfbaren Merkmale der
Romanfiguren Esra und Lale, die sich mit Merkmalen der Klägerinnen deckten,
seien zahlreich und so charakteristisch, dass daneben die vorhandenen
Unterschiede zurückträten. Mittel künstlerischer Verfremdung fehlten. Für
den Leser, der die dargestellte Person erkannt habe, würden mit den beiden
Romanfiguren keine Typen, sondern die Klägerinnen in ihrem realen Bezug
dargestellt. Diese Wirkung werde noch dadurch verstärkt, dass Daten auf dem
Klappentext zur Person des Autors mit Daten des Ich-Erzählers
übereinstimmten. Wer als Schriftsteller Personen in einer Weise erkennbar
mache, dass sich Romanfiguren einer real existierenden Person eindeutig
zuordnen ließen, kündige die Übereinstimmung zwischen Autor und Leser auf,
dass es sich beim literarischen Werk um Fiktion handele. Die Klägerinnen
müssten ein solches "Porträt" in Buchform nicht dulden. Ihre
Beeinträchtigung wiege so schwer, dass dem Schutz ihres allgemeinen
Persönlichkeitsrechts der Vorrang vor der zugunsten der Beschwerdeführerin
streitenden Kunstfreiheit einzuräumen sei.
33
Das Buch greife unabhängig davon, ob die vom Autor geschilderten zahlreichen
Einzelheiten des Sexuallebens und des Abtreibungsversuchs der Romanfigur
Esra eine Entsprechung im Leben der Klägerin zu 1) hätten, in unzulässiger
Weise in deren Intim- und Privatsphäre ein.
34
Auch gegenüber der Klägerin zu 2) überschreite der Roman den durch die
Kunstfreiheit eröffneten Spielraum. Werde das Lebensbild einer bestimmten
Person, die wie im Streitfall deutlich erkennbar als reale Person und nicht
als Typus dargestellt werde, durch frei erfundene Zutaten grundlegend und in
schwerwiegender Weise negativ entstellt, sei die durch das allgemeine
Persönlichkeitsrecht gesetzte Grenze überschritten. Die Klägerin zu 2) werde
in der Figur der Lale als eine depressive, psychisch kranke Alkoholikerin
geschildert, als eine Frau, die ihre Tochter und ihre Familie tyrannisiere,
herrisch und streitsüchtig sei, ihre Kinder vernachlässigt habe, das
Preisgeld in ihr bankrottes Hotel gesteckt habe, ihren Eltern Land gestohlen
und die Mafia auf sie gehetzt habe, gegen den Goldabbau nur gekämpft habe,
weil auf ihrem eigenen ergaunerten Grundstück kein Gold zu finden gewesen
sei, eine hohe Brandschutzversicherung abgeschlossen habe, bevor ihr Hotel
in Flammen aufgegangen sei, ihre Tochter zur Abtreibung gedrängt habe, von
ihrem ersten Mann betrogen und von ihrem ebenfalls alkoholsüchtigen zweiten
Mann geschlagen worden sei. Derart schwerwiegende Entstellungen seien durch
die Kunstfreiheit nicht gedeckt.
35
Die Untersagung der Verbreitung des gesamten Romans sei entgegen der
Auffassung der Revision nicht unverhältnismäßig. Sie sei begründet, weil die
beanstandeten Textteile für die Gesamtkonzeption des Werks und für das
Verständnis des mit ihm verfolgten Anliegens von Bedeutung seien. Da das
gesamte Buch von zahlreichen Anspielungen und Beschreibungen, die auf die
Klägerinnen hindeuteten, durchzogen sei, müsse bei Vorgabe einzelner
Änderungen, die von der Beschwerdeführerin als milderes Mittel angesehen
werde, in die gesamte Struktur und Darstellung des Werks eingegriffen
werden. Es sei indessen nicht Aufgabe des Gerichts, bestimmte Streichungen
vorzunehmen, um die Persönlichkeitsrechtsverletzung auf das gerade noch
zulässige Maß zu reduzieren, da es eine Vielzahl möglicher Varianten gebe,
wie diese Änderungen vorgenommen werden könnten, und der Charakter des
Romans durch solche Eingriffe eine erhebliche Änderung erfahren würde.
B.
I.
36
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin unter anderem
die Verletzung ihres Rechts aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG durch die
angegriffenen Entscheidungen.
37
1. Das angegriffene Urteil des Bundesgerichtshofs beruhe auf einer
grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Kunstfreiheit.
Insbesondere sei bei der vom Bundesgerichtshof vorgenommenen Abwägung der
Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der beiden Klägerinnen
überdehnt und dadurch der Schutzbereich der Kunstfreiheit der
Beschwerdeführerin unzulässig eingeengt worden. Das Urteil kranke daran,
dass der Beurteilung der - zur individuellen Betroffenheit führenden -
Erkennbarkeit der Klägerinnen ein unrichtiger, nicht werkgerechter Maßstab
zugrundegelegt worden sei.
38
Der Bundesgerichtshof gehe zu Unrecht davon aus, dass für die individuelle
Betroffenheit der Klägerinnen bereits deren Erkennbarkeit in einem mehr oder
minder großen Bekanntenkreis genüge. Damit knüpfe der Bundesgerichtshof an
die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Erkennbarkeit von Personen an, die
Gegenstand von Presseberichterstattung seien. Dieser Maßstab werde dem
Charakter des verbotenen Romans als Belletristik nicht gerecht. Wenngleich
nicht außer Acht gelassen werden könne, dass ein Kunstwerk nicht nur als
ästhetische Realität wirke, sondern daneben ein Dasein in den Realien habe,
dürfe bei der Lösung der Spannungslage zwischen Persönlichkeitsschutz und
Kunstfreiheit nicht allein auf die Wirkungen des Kunstwerks im
außerkünstlerischen Sozialbereich abgehoben werden; vielmehr müsse den
kunstspezifischen Gesichtspunkten Rechnung getragen werden. Deshalb sei
schon für die Frage, ob die Klägerinnen in den Figuren Esra und Lale
erkennbar seien, relevant, dass der verbotene Roman ein Roman sei.
39
Daraus folge zweierlei. Zum einen erkenne der Leser, dass es sich bei dem
Buch um Fiktion handele, mithin einen Wahrheitsanspruch nicht erhebe, so
dass die Romanfiguren gerade nicht Porträts realer Urbilder seien. Zum
anderen folge aus dem Gewicht und der Bedeutung der Kunstfreiheit, dass an
die Erkennbarkeit von Personen, die sich in Romanfiguren porträtiert
wähnten, ein strengerer Maßstab anzulegen sei als an die solcher Personen,
die Gegenstand einer ausschließlich in den Realien wirkenden
Presseberichterstattung seien, die stets Anspruch auf Wahrheitstreue erhebe.
Indem der Bundesgerichtshof für die individuelle Betroffenheit der
Klägerinnen die Erkennbarkeit in deren Bekanntenkreis ausreichen lasse,
weiche er von der Mephisto-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE
30, 173 <198>) ab, in der darauf abgestellt worden sei, dass ein nicht
unbedeutender Leserkreis unschwer in der dortigen Romanfigur Hendrik Höfgen
den Schauspieler Gustaf Gründgens wiedererkenne. Das
Bundesverfassungsgericht habe darüber hinaus ebenso wie der
Bundesgerichtshof in seinem Mephisto-Urteil (BGHZ
50, 133 <141>) darauf abgestellt, dass es sich bei Gründgens um eine
Person der Zeitgeschichte gehandelt habe.
40
Der Bundesgerichtshof gehe außerdem zu Unrecht von einer schwerwiegenden
Persönlichkeitsrechtsverletzung aus. Insbesondere nehme er unzutreffend an,
es würden mit den beiden Romanfiguren keine Typen, sondern die Klägerinnen
in ihrem sozialen Bezug dargestellt. Nur aufgrund dieses Textverständnisses
komme der Bundesgerichtshof zur Annahme von zweifelsfrei feststellbaren
schwerwiegenden Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechts. Der Roman
beanspruche hingegen für jeden Leser erkennbar keine Wirklichkeitstreue und
werde deshalb vom Leser nicht als Darstellung tatsächlicher Erlebnisse
realer Personen missverstanden. Soweit der Bundesgerichtshof davon ausgehe,
der Autor habe mit den Figuren Esra und Lale keine gegenüber dem Urbild
verselbständigten Kunstfiguren geschaffen, weil es eine Vielzahl im Roman
geschilderter Umstände gebe, die eine ausgeprägte Übereinstimmung des
Lebens- und Berufswegs der Klägerinnen mit denen der Romanfiguren aufwiesen,
sei dies unzutreffend. Die Romanhandlung sei ganz überwiegend der Phantasie
des Autors entsprungen. Keineswegs sei die Handlung oder der äußere Rahmen
des Romans den Biographien der Klägerinnen entnommen. Es bestünden auf
künstlerischen Verfremdungen beruhende erhebliche Unterschiede zwischen den
Romanfiguren und -handlungen einerseits und der Realität andererseits, die
gerade von den Lesern aus dem Bekanntenkreis der Klägerinnen erkannt würden.
Aus alledem ergebe sich, dass die Romanfiguren durch die künstlerische
Gestaltung des Stoffs so verselbständigt erschienen, dass das Individuelle,
das Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren
objektiviert sei, und der Autor daher - anders als es das
Bundesverfassungsgericht Klaus Manns Mephisto-Roman attestiert habe - kein
Porträt der Klägerinnen als Urbilder gezeichnet habe. Darüber hinaus sei es
nicht Sache staatlicher Gerichte, Qualitätsmaßstäbe zur Bestimmung
hinreichender Verfremdung und damit des künstlerischen Schaffensprozesses zu
definieren. Der weite Beurteilungsspielraum, den die Gerichte sich in diesem
Punkt einräumten, gefährde die Kunstfreiheit erheblich.
41
Selbst wenn man dem Roman Wahrheitsanspruch erhebende Aussagen über die
Klägerinnen entnehmen könnte, könne darauf ein Verbot nicht gestützt werden.
Soweit das Oberlandesgericht als letzte Tatsacheninstanz gemeint habe, der
Leser könne tatsächlich nicht erkennen, welche Teile des Romans Fiktion und
welche Passagen Wahrheitsanspruch erhebende Mitteilungen über die
Klägerinnen enthielten, handele es sich nur um die Möglichkeit einer
schwerwiegenden Rechtsverletzung, auf die ein Verbot des Romans nicht
gestützt werden könne, da diese im Interesse der Kunstfreiheit zweifelsfrei
feststehen müsse. Da die Möglichkeit nicht auszuschließen sei, dass der
Leser einzelne Umstände in den Bereich der Fiktion einordne, seien die vom
Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 67, 213 <228>) aufgestellten
Verbotsvoraussetzungen nicht erfüllt.
42
Das Urteil des Bundesgerichtshofs offenbare eine grundsätzlich unrichtige
Anschauung vom Umfang des Schutzbereichs der gegen die Kunstfreiheit
abzuwägenden Persönlichkeitsrechte der Klägerinnen. Soweit es eine
Verletzung der Intimsphäre der Klägerin zu 1) feststelle, sei dies
unrichtig, da diese durch fiktive Schilderungen von Verhalten, das es in der
Realität nicht gegeben habe, nicht verletzt werden könne. Der vom
Bundesgerichtshof eigentlich gemeinte Eindruck des Lesers, die Einzelheiten
des Sexuallebens der Romanfigur Esra hätten sich auch im Leben der Klägerin
zu 1) abgespielt, sei nicht zwingend. Betroffen sei nicht die einer
Güterabwägung unzugängliche Intimsphäre, sondern die
persönlichkeitsrechtliche Fallgruppe der Verzerrung des Lebensbilds der
Betroffenen.
43
Hinsichtlich der Klägerin zu 2) nehme der Bundesgerichtshof eine
Persönlichkeitsrechtsverletzung durch negative Entstellung des Lebensbilds
an, begründe jedoch nicht, durch welche unwahren Tatsachenbehauptungen deren
allgemeines Persönlichkeitsrecht in rechtswidriger Weise verletzt sei. Auf
eine im Einzelnen nachvollziehbare Darlegung, durch welche Romanpassage
welcher unwahre Eindruck erweckt worden sei, habe jedoch nicht verzichtet
werden dürfen, weil wegen des mit dem Verbot verbundenen besonders schweren
Eingriffs in die Kunstfreiheit besonders strenge Anforderungen an die
Begründung des Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht und an die Begründung
der Rechtswidrigkeit dieses Eingriffs zu stellen seien. Dies gelte umso
mehr, als der Bundesgerichtshof es selbst für möglich gehalten habe, durch
Änderungen des Romans Rechtsverletzungen zukünftig zu vermeiden, und die
Beschwerdeführerin im Laufe des Rechtsstreits zahlreiche Vorschläge für
Streichungen und Änderungen gemacht habe. Vor diesem Hintergrund verletze
auch das Unterlassen des Bundesgerichtshofs, eine Trennlinie zwischen
erlaubten und rechtsverletzenden Romanpassagen nachvollziehbar darzustellen,
das Grundrecht der Beschwerdeführerin auf Kunstfreiheit.
44
Selbst wenn die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die Kunstfreiheit zum
Schutze des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerinnen
einzuschränken, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sein sollte, so
verstoße doch die Untersagung der Verbreitung des gesamten Romans gegen den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Auch der Bundesgerichtshof stelle nicht
in Frage, dass einzelne Streichungen anstatt des Gesamtverbots geeignet
wären, die Persönlichkeitsrechtsverletzungen auf das gerade noch zulässige
Maß zu reduzieren. Das Gesamtverbot sei mithin nicht erforderlich.
45
2. Auch das Urteil des Oberlandesgerichts verletze die Beschwerdeführerin in
ihrer Kunstfreiheit. Das Oberlandesgericht berücksichtige zu Unrecht, dass
durch das Verfahren über die einstweilige Verfügung und den anschließenden
Prozess die öffentliche Diskussion entfacht und durch die
Presseberichterstattung über das Verfahren die Klägerinnen erkennbar
machende Umstände an die Öffentlichkeit gelangt seien. Das widerspreche dem
von der Kunstfreiheit aufgestellten Gebot der werkgerechten Beurteilung des
Romans, das die Berücksichtigung von Umständen verbiete, die außerhalb des
Romans lägen.
46
Der vom Oberlandesgericht angenommene rechtswidrige Eingriff in die
Privatsphäre der Klägerin zu 1) wegen der Darstellung der Krankheit der
Romanfigur Ayla resultiere aus einer zu weitgehenden Definition der Grenzen
der Privatsphäre und damit des Persönlichkeitsrechts der Klägerin zu 1). Das
Oberlandesgericht lasse eine nur mittelbare Betroffenheit ausreichen, die
die Kunstfreiheit im konkreten Fall überwöge.
47
3. Auch das Landgericht komme in seinem Urteil aufgrund von
verfassungswidrigen Erwägungen zur Annahme der Erkennbarkeit der
Klägerinnen, nehme aufgrund grundsätzlich unrichtiger Auffassungen von der
Bedeutung der widerstreitenden Grundrechte schwerwiegende
Persönlichkeitsrechtsverletzungen der Klägerinnen an und spreche ein
unverhältnismäßiges Gesamtverbot aus.
II.
48
Zu der Verfassungsbeschwerde haben unter anderem der Börsenverein des
Deutschen Buchhandels, der Verband deutscher Schriftsteller in der Vereinten
Dienstleistungsgewerkschaft, das P.E.N.-Zentrum Deutschland und die
Klägerinnen des Ausgangsverfahrens Stellung genommen.
49
1. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ist der Ansicht, dass in den
angegriffenen Entscheidungen der Eigenschaft des Romans als Kunstwerk nicht
genügend Rechnung getragen werde. Dies werde besonders deutlich bei der
Prüfung der Erkennbarkeit sowie der Verletzung der Persönlichkeitsrechte im
Rahmen der Grundrechtsabwägung. Indem der Bundesgerichtshof die
Erkennbarkeit in einem mehr oder minder großen Bekanntenkreis genügen lasse,
weiche er von dem Maßstab des Bundesverfassungsgerichts in der
Mephisto-Entscheidung ab. Diese niedrigeren Anforderungen seien dem
Presserecht entlehnt, in dem jedoch nicht die Kunstfreiheit zur Abwägung mit
dem Persönlichkeitsrecht eines Dritten stehe, sondern die Meinungs- und
Pressefreiheit. Bei der Prüfung der Verletzung von Persönlichkeitsrechten
hätten die Gerichte eine nicht-kunstspezifische Haltung eingenommen und
Erscheinen und Verhalten der Romanfiguren Esra und Lale mit dem
Persönlichkeitsbild der beiden Klägerinnen so verglichen, als gehörten Esra
und Lale der Wirklichkeit an. Das Grundrecht der Kunstfreiheit verliere
dadurch seine gegenüber den anderen kommunikationsbezogenen Grundrechten
herausgehobene Stellung.
50
Zur Erkennbarkeit müsse eine hiervon unabhängig festgestellte
Persönlichkeitsrechtsverletzung hinzukommen. Dafür reiche die Feststellung
einer mangelnden Verfremdung nicht aus, denn die Fragen der Erkennbarkeit
und Verfremdung seien eng miteinander verwoben. Bei der Feststellung der
Persönlichkeitsrechtsverletzung müsse der ästhetischen Wirkungsebene
ausreichend Rechnung getragen werden. Da Konflikte mit dem
Persönlichkeitsrecht sich nur auf der sozialbezogenen Ebene ergäben, nicht
aber auf der ästhetischen, müsse es eine Rolle spielen, welche der
Wirkungsebenen dem Werk seine Prägung gebe, ob es also in seiner Gesamtheit
als fiktive Beschreibung wahrgenommen werde oder aber als Tatsachenbericht.
Bei Zweifeln sei der vorbehaltlos gewährleisteten Kunstfreiheit der Vorrang
einzuräumen.
51
Es sei Kennzeichen jeder Literatur, dass sie sich an Vorbilder anlehne. Wenn
dies in Zukunft nur mit existenzbedrohenden finanziellen Risiken möglich
sei, könnte dies prohibitiv wirken. Die Romane mancher Literaturströmungen
würden möglicherweise nur noch zurückhaltend oder gar nicht mehr verlegt.
Besonders treffen könne dies Werke der "Postmoderne" beziehungsweise des
"Subjektiven Realismus", zu denen auch "Esra" zähle. Kennzeichen dieser
Literaturströmung sei die Verklammerung von autobiographischen und
fiktionalen Elementen, die die zeitgenössische Literatur maßgeblich präge.
Eine Bestätigung der angegriffenen Entscheidungen würde alle Verlage
betreffen, deren Programmschwerpunkt im Bereich der zeitgenössischen
Literatur liege.
52
2. Der Verband deutscher Schriftsteller teilt die Einschätzung des die
Beschwerde führenden Verlags. Es sei nicht auszuschließen, dass angesichts
der angegriffenen Entscheidungen Restriktionen für literarisches Schaffen
entwickelt würden, die mit der künstlerischen Freiheit von Autoren nicht
kompatibel seien. Dass die Gerichte es haben ausreichen lassen, dass die
Klägerinnen in ihrem engeren Bekanntenkreis identifizierbar seien, setze die
Schwelle für ein Veröffentlichungsverbot viel zu niedrig an. Es gebe kaum
ein fiktionales Werk, in dem sich nicht irgendeine Person als geschildert
angesprochen fühle. Der Freiraum der Kunst würde beschnitten, wenn mit einer
Romanfigur, in der sich jemand wiederzuerkennen glaube, umgegangen werden
müsste wie mit einem Bericht.
53
3. Das P.E.N.-Zentrum Deutschland ist der Ansicht, dass der Roman keine
Objektivität beanspruche. Erst der Prozess um "Esra" habe die wahren Namen
der ins erzählerische Spiel gebrachten Personen offenbart, so dass heute
kaum jemand die realistischen Erzählfiguren von den realen Figuren zu
unterscheiden glaube. Der Autor aber habe diese Unterscheidungsschwäche
nicht zu verantworten. Der Roman sei - anders als "Mephisto" von Klaus Mann
- kein "Schlüsselroman", bei dem der Autor wolle, dass eine bestimmte Person
erkannt werde. Indem der Erzähler selbst das Tabu des privaten
Schreibverbots thematisiere, das er auf Seiten Esras als eine engstirnige,
unangenehm kleinbürgerliche Angst vor der Literatur charakterisiere,
reklamiere der Autor die Freiheit der Kunst für sich.
54
Das Grundrecht des Persönlichkeitsschutzes sei gegenüber der Kunstfreiheit
etwas anderes als im journalistischen Zusammenhang. Der
Persönlichkeitsschutz lasse sich nur in Ermittlung der Gesetzlichkeit und
der ästhetischen Konditionen des Werks bestimmen. In die angefochtenen
Urteile sei dieses heuristische Bemühen um das fragliche Werk nur ungenügend
eingegangen. Das werde bereits an der Wahl des "Bekanntenkreises" oder der
"näheren Umgebung" als Maßstab für die Erkennbarkeit durch den
Bundesgerichtshof anstelle des "verständigen Durchschnittslesers" deutlich.
Soweit das Oberlandesgericht behaupte, der Leser könne nicht unterscheiden,
was Fiktion und was wahr sei, zeige dies einen logischen Kurzschluss, wonach
eine weitgehende Identität der Romanfiguren mit wirklichen Personen
unterstellt werde, um dann die fiktionale Abweichung als unzulässige
Verzeichnung des Persönlichkeitsbildes zu insinuieren.
55
4. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens sind der Auffassung, dass die
Beschwerdeführerin durch die angegriffenen Entscheidungen nicht in ihrem
Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verletzt wird. Die Argumentation der
Verfassungsbeschwerde basiere auf den zwei nicht zutreffenden Prämissen,
dass die Romanfiguren entgegen den Feststellungen der Fachgerichte fiktiv
seien und dass entgegen der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung eine
Persönlichkeitsrechtsverletzung in Romanform mangels Wahrheitsanspruch per
se ausscheiden müsse. Damit verkenne die Verfassungsbeschwerde, dass eine
Abwägung und Beurteilung des Einzelfalls dann entbehrlich wäre und der
Kunstfreiheit in verfassungsrechtlicher Hinsicht gegenüber dem
Persönlichkeitsschutz absoluter Vorrang zukäme. Es könnte dann jeder
Künstler bloß durch den Hinweis auf die Kunstfreiheit diese dazu
missbrauchen, andere zu degradieren und gegen ihren Willen in die
Öffentlichkeit zu zerren.
56
Den angegriffenen Entscheidungen liege weder eine unrichtige Anschauung von
der Bedeutung und Tragweite der Kunstfreiheit noch eine Überdehnung des
allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugrunde. Die Fachgerichte hätten eine
nachvollziehbare Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter
Berücksichtigung kunstspezifischer Maßstäbe vorgenommen und erkannt, dass
der Autor lediglich Porträts der Klägerinnen gezeichnet und sie durch
Eingriffe in die Privatsphäre, bei der Klägerin zu 1) sogar in die
Intimsphäre, und in ihr Recht am eigenen Lebensbild schwer in ihren
Persönlichkeitsrechten verletzt habe.
C.
57
Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise begründet. Die angegriffenen Urteile
verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz
1 GG, soweit sie der Klägerin zu 2) einen Unterlassungsanspruch zusprechen.
I.
58
Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen greifen in
das Grundrecht der Kunstfreiheit der Beschwerdeführerin aus Art. 5 Abs. 3
Satz 1 GG ein.
59
1. Unabhängig von der vom Bundesverfassungsgericht wiederholt
hervorgehobenen Schwierigkeit, den Begriff der Kunst abschließend zu
definieren (vgl. BVerfGE 30, 173 <188 f.>; 67,
213 <224 ff.>), stellt der Roman "Esra" nach der zutreffenden Auffassung der
angegriffenen Entscheidungen ein Kunstwerk dar, nämlich eine freie
schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des
Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache, hier des Romans,
zur Anschauung gebracht werden (vgl. BVerfGE 30,
173 <188 f.>; 67, 213 <226>; 75, 369 <377>). Auch wenn wesentlicher
Gegenstand des Rechtsstreits, der zu der vorliegenden Verfassungsbeschwerde
geführt hat, das Ausmaß ist, in dem der Autor in seinem Werk existierende
Personen schildert, ist jedenfalls der Anspruch des Autors deutlich, diese
Wirklichkeit künstlerisch zu gestalten.
60
Wegen der gerade für die Kunstform des Romans, aber auch die künstlerisch
gestaltete Autobiographie, die Reportage und andere Ausdrucksformen (Satire,
Doku-Drama, Faction) häufig unauflösbaren Verbindung von Anknüpfungen an die
Wirklichkeit mit deren künstlerischer Gestaltung ist es nicht möglich, mit
Hilfe einer festen Grenzlinie Kunst und Nichtkunst nach dem Maß zu
unterscheiden, in dem die künstlerische Verfremdung gelungen ist.
61
2. Wie alle Freiheitsrechte richtet sich die Kunstfreiheit in erster Linie
gegen den Staat. Schon die ausdrückliche Aufnahme der Freiheit der Kunst in
die Weimarer Verfassung (Art. 142 Satz 1: "Die Kunst, die Wissenschaft und
ihre Lehre sind frei.") war eine Reaktion auf obrigkeitsstaatliche
Bekämpfung neuer künstlerischer Entwicklungen (vgl. Kitzinger, in:
Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 1929,
Art. 142 Satz 1 WRV, S. 455 ff.). Nach der massiven Verfolgung von Künstlern
im Nationalsozialismus war die Übernahme der Kunstfreiheit als selbständiges
Grundrecht in das Grundgesetz völlig unstreitig (vgl. Matz, in:
Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR n.F., Band 1
<1951>, S. 89 ff.).
62
Das Grundrecht ist aber zugleich eine objektive Entscheidung für die
Freiheit der Kunst, die auch im Verhältnis von Privaten zueinander zu
berücksichtigen ist, insbesondere wenn unter Berufung auf private Rechte
künstlerische Werke durch staatliche Gerichte verboten werden sollen (vgl.
BVerfGE 30, 173 <187 ff.>; 36, 321 <331>).
63
3. Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft in gleicher Weise den "Werkbereich"
und den "Wirkbereich" künstlerischen Schaffens. Nicht nur die künstlerische
Betätigung (Werkbereich), sondern darüber hinaus auch die Darbietung und
Verbreitung des Kunstwerks sind sachnotwendig für die Begegnung mit dem Werk
als eines ebenfalls kunstspezifischen Vorgangs. Dieser "Wirkbereich" ist der
Boden, auf dem die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG bisher vor
allem Wirkung entfaltet hat (vgl. BVerfGE 30, 173
<189>; 36, 321 <331>; 67, 213 <224>; 81, 278 <292>).
64
4. Auf dieses Grundrecht kann sich auch die Beschwerdeführerin als
Verlegerin berufen.
65
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG garantiert die Freiheit der Betätigung im
Kunstbereich umfassend. Soweit es zur Herstellung der Beziehungen zwischen
Künstler und Publikum der publizistischen Medien bedarf, sind auch die
Personen durch die Kunstfreiheitsgarantie geschützt, die eine solche
vermittelnde Tätigkeit ausüben (vgl. BVerfGE 30, 173 <191>; 36, 321 <331>;
77, 240 <251, 254>; 81, 278 <292>; 82, 1 <6>).
66
5. Auch wenn die Parteien in einem Zivilrechtsstreit, in dem es um den
Konflikt von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht geht, um grundrechtlich
geschützte Positionen streiten, handelt es sich um einen Rechtsstreit
zwischen privaten Parteien, zu dessen Entscheidung in erster Linie die
Zivilgerichte berufen sind. Das gilt insbesondere für die tatsächlichen
Feststellungen, die für die Annahme einer Persönlichkeitsrechtsverletzung
von Bedeutung sind. Das Verbot eines Romans stellt allerdings einen
besonders starken Eingriff in die Kunstfreiheit dar. Das
Bundesverfassungsgericht kann seine Überprüfung daher nicht auf die Frage
beschränken, ob die angegriffenen Entscheidungen auf einer grundsätzlich
unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG,
insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Das
Bundesverfassungsgericht muss vielmehr die Vereinbarkeit der angegriffenen
Entscheidungen mit der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie auf der
Grundlage der konkreten Umstände des vorliegenden Sachverhalts überprüfen
(vgl. Sondervotum Stein, BVerfGE 30, 173 <201 f.>).
II.
67
Der durch das Romanverbot bewirkte Eingriff in das Grundrecht der
Kunstfreiheit der Beschwerdeführerin ist nur teilweise gerechtfertigt.
68
1. Die Kunstfreiheit ist nicht mit einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt
versehen. Sie ist aber nicht schrankenlos gewährleistet, sondern findet ihre
Grenzen unmittelbar in anderen Bestimmungen der Verfassung, die ein in der
Verfassungsordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut
schützen (vgl. BVerfGE 30, 173 <193>; 67, 213 <228>).
69
Gerade wenn man den Begriff der Kunst im Interesse des Schutzes
künstlerischer Selbstbestimmung weit fasst und nicht versucht, mit Hilfe
eines engen Kunstbegriffs künstlerische Ausdrucksformen, die in Konflikt mit
den Rechten anderer kommen, von vornherein vom Grundrechtsschutz der
Kunstfreiheit auszuschließen (so in der Tendenz BVerfG, Beschluss des
Vorprüfungsausschusses vom 19. März 1984 - 2 BvR 1/84 -, NJW 1984, S. 1293
<1294> - "Sprayer von Zürich"), und wenn man nicht nur den Werkbereich,
sondern auch den Wirkbereich in den Schutz einbezieht, dann muss
sichergestellt sein, dass Personen, die durch Künstler in ihren Rechten
beeinträchtigt werden, ihre Rechte auch verteidigen können und in diesen
Rechten auch unter Berücksichtigung der Kunstfreiheit einen wirksamen Schutz
erfahren. In dieser Situation sind die staatlichen Gerichte den Grundrechten
beider Seiten gleichermaßen verpflichtet. Auf private Klagen hin erfolgende
Eingriffe in die Kunstfreiheit stellen sich nicht als staatliche
"Kunstzensur" dar, sondern sind darauf zu überprüfen, ob sie den
Grundrechten von Künstlern und der durch das Kunstwerk Betroffenen
gleichermaßen gerecht werden.
70
Dies gilt namentlich für das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1
Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsrecht (vgl. BVerfGE 67, 213 <228>).
Diesem ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein besonders
hoher Rang beigemessen worden. Das gilt insbesondere für seinen
Menschenwürdekern (vgl. BVerfGE 75, 369 <380>; 80, 367 <373 f.>). Das
Persönlichkeitsrecht ergänzt die im Grundgesetz normierten Freiheitsrechte
und gewährleistet die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung
ihrer Grundbedingungen (vgl. BVerfGE 54, 148 <153>; 114, 339 <346>). Damit
kommt es auch als Schranke für künstlerische Darstellungen in Betracht.
71
Der Inhalt dieses Rechts ist nicht allgemein und abschließend umschrieben.
Zu den anerkannten Inhalten gehören das Verfügungsrecht über die Darstellung
der eigenen Person, die soziale Anerkennung sowie die persönliche Ehre (vgl.
BVerfGE 54, 148 <153 f.>; 99, 185 <193>; 114, 339 <346>). Eine wesentliche
Gewährleistung ist der Schutz vor Äußerungen, die geeignet sind, sich
abträglich auf das Ansehen der Person, insbesondere ihr Bild in der
Öffentlichkeit, auszuwirken. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die
Person insbesondere vor verfälschenden oder entstellenden Darstellungen, die
von nicht ganz unerheblicher Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung
sind (vgl. BVerfGE 97, 125 <148 f.>; 99, 185 <193 f.>; 114, 339 <346>).
72
Der Schutz des Persönlichkeitsrechts erstreckt sich auch auf die Beziehungen
von Eltern zu ihren Kindern. Kinder bedürfen eines besonderen Schutzes, weil
sie sich zu eigenverantwortlichen Personen erst entwickeln müssen (vgl.
BVerfGE 24, 119 <144>; 57, 361 <382 f.>). Der Bereich, in dem Kinder sich
frei von öffentlicher Beobachtung fühlen und entfalten dürfen, muss deswegen
umfassender geschützt sein als derjenige erwachsener Personen. Für die
kindliche Persönlichkeitsentwicklung sind in erster Linie die Eltern
verantwortlich. Soweit die Erziehung von ungestörten Beziehungen zu den
Kindern abhängt, wirkt sich der besondere Grundrechtsschutz der Kinder nicht
lediglich reflexartig zugunsten des Vaters und der Mutter aus (vgl. auch
BVerfGE 76, 1 <44 f.>; 80, 81 <91 f.>). Vielmehr fällt auch die spezifisch
elterliche Hinwendung zu den Kindern grundsätzlich in den Schutzbereich von
Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Der Schutzgehalt des
allgemeinen Persönlichkeitsrechts erfährt dann eine Verstärkung durch Art. 6
Abs. 1 und 2 GG (vgl. BVerfGE 101, 361 <385 f.>).
73
2. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens sind in ihrem Persönlichkeitsrecht
betroffen.
74
a) Voraussetzung dafür ist, dass sie als Vorbilder der Romanfiguren
erkennbar sind, ohne dass diese Erkennbarkeit allein bereits eine
Persönlichkeitsrechtsverletzung bedeutet.
75
Die angegriffenen Entscheidungen sind davon ausgegangen, dass die
Klägerinnen als Vorbilder der Romanfiguren Esra und Lale erkennbar sind.
Diese Würdigung und die zugrundeliegenden Feststellungen sind
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere ist der vom
Bundesgerichtshof angelegte Maßstab einer Erkennbarkeit durch einen mehr
oder minder großen Bekanntenkreis auch aus der Sicht des Verfassungsrechts
zutreffend. Wenn das Bundesverfassungsgericht in seiner
Mephisto-Entscheidung den seinerzeit von den Zivilgerichten zugrundegelegten
Maßstab verfassungsrechtlich gebilligt hat, wonach ein nicht unbedeutender
Leserkreis unschwer in der Romanfigur des Hendrik Höfgen den verstorbenen
Schauspieler Gustaf Gründgens wiedererkenne, da es sich bei Gründgens um
eine Person der Zeitgeschichte handele und die Erinnerung des Publikums an
ihn noch recht lebendig sei (vgl. BVerfGE 30, 173 <196>), dann war dies in
der damaligen Fallgestaltung begründet und definierte nicht eine notwendige
Bedingung für die verfassungsrechtlich erhebliche Erkennbarkeit von
Romanfiguren. Der Schutz des Persönlichkeitsrechts gegenüber künstlerischen
Werken würde sonst auf Prominente beschränkt, obwohl gerade die
Erkennbarkeit einer Person durch deren näheren Bekanntenkreis für diese
besonders nachteilig sein kann (zu einem presserechtlichen Fall vgl. BVerfG,
Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juli 2004 - 1 BvR 263/03
-, NJW 2004, S. 3619 <3620>).
76
Auf der anderen Seite reicht die nur nach Hinzutreten weiterer Indizien
nachweisbare Vorbildfunktion einer tatsächlichen Person für eine Romanfigur
nicht, um ihre Erkennbarkeit im genannten Sinne zu begründen. Da Künstler
ihre Inspiration häufig in der Wirklichkeit finden, wird ein sorgfältig
recherchierender Kritiker oder Literaturwissenschaftler in vielen Fällen in
der Lage sein, Vorbilder für Romanfiguren oder einem Roman zugrundeliegende
tatsächliche Begebenheiten zu entschlüsseln. Die Freiheit der Kunst würde zu
weit eingeschränkt, wenn eine derartige Entschlüsselungsmöglichkeit bereits
zur Annahme einer Erkennbarkeit der als Vorbild dienenden Person führte. Die
Identifizierung muss sich vielmehr jedenfalls für den mit den Umständen
vertrauten Leser aufdrängen. Das setzt regelmäßig eine hohe Kumulation von
Identifizierungsmerkmalen voraus.
77
Im vorliegenden Fall ist die Erkennbarkeit der Klägerinnen nach diesem
Maßstab von den Gerichten zutreffend bejaht worden. Für die Urfassung des
Romans ist das schon wegen der eindeutigen Identifizierung der Klägerinnen
durch die ihnen verliehenen Preise (Verleihung des Bundesfilmpreises an eine
17-jährige Türkin, die ein türkisches Mädchen spielt, das sich in einen
deutschen Jungen verliebt, sowie des Alternativen Nobelpreises an ihre
Mutter wegen des Engagements gegen den Goldabbau mittels Zyanid in der
Türkei) nicht zweifelhaft. Die Gerichte gehen aber vertretbar davon aus,
dass auch die Umbenennung der Preise in der zuletzt dem Verfahren
zugrundeliegenden Fassung des Romans wegen der nach wie vor bestehenden Nähe
der Fakten (Verleihungsgrund, Anspielung auf den Nobelpreis), verbunden mit
den zahlreichen weiteren Daten, die insbesondere das Urteil des
Oberlandesgerichts aufführt, die Identifizierung nicht beseitigt, diese sich
vielmehr in der Verbindung und Summierung zahlreicher Umstände förmlich
aufdrängt. Die Feststellung der Tatsachen, aus denen die Erkennbarkeit
betroffener Personen abgeleitet werden kann, ist dabei in erster Linie Sache
der Fachgerichte.
78
b) Die Klägerinnen sind auch nicht so geringfügig betroffen, dass ihr
Persönlichkeitsrecht von vornherein hinter der Kunstfreiheit zurücktreten
müsste. Den Romanfiguren, als deren Vorbild sie erkennbar sind, werden
Handlungen und Eigenschaften zugeschrieben, die, wenn der Leser sie auf die
Klägerinnen beziehen kann, geeignet sind, ihr Persönlichkeitsrecht erheblich
zu beeinträchtigen.
79
3. Allerdings zieht die Kunstfreiheit ihrerseits dem Persönlichkeitsrecht
Grenzen. Das gilt im Verhältnis von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht
auch deshalb, weil die Durchsetzung dieses Rechts gegenüber der
Kunstfreiheit stärker als andere gegenüber einem Kunstwerk geltend gemachte
private Rechte (vgl. zum Eigentum BVerfG, Beschluss des
Vorprüfungsausschusses vom 19. März 1984 - 2 BvR 1/84 -, NJW 1984, S. 1293)
geeignet ist, der künstlerischen Freiheit inhaltliche Grenzen zu setzen.
Insbesondere besteht die Gefahr, dass unter Berufung auf das
Persönlichkeitsrecht öffentliche Kritik und die Diskussion von für die
Öffentlichkeit und Gesellschaft wichtigen Themen unterbunden werden (vgl.
Sondervotum Stein, BVerfGE 30, 200 <206 f.>).
80
Um diese Grenzen im konkreten Fall zu bestimmen, genügt es daher im
gerichtlichen Verfahren nicht, ohne Berücksichtigung der Kunstfreiheit eine
Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts festzustellen. Steht im
Streitfall fest, dass in Ausübung der Kunstfreiheit durch
schriftstellerische Tätigkeit das Persönlichkeitsrecht Dritter
beeinträchtigt wird, ist bei der Entscheidung über den auf das allgemeine
Persönlichkeitsrecht gestützten zivilrechtlichen Abwehranspruch der
Kunstfreiheit angemessen Rechnung zu tragen. Es bedarf daher der Klärung, ob
diese Beeinträchtigung derart schwerwiegend ist, dass die Freiheit der Kunst
zurückzutreten hat. Eine geringfügige Beeinträchtigung oder die bloße
Möglichkeit einer schwerwiegenden Beeinträchtigung reichen hierzu angesichts
der hohen Bedeutung der Kunstfreiheit nicht aus. Lässt sich freilich eine
schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts zweifelsfrei
feststellen, so kann sie auch nicht durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt
werden (vgl. BVerfGE 67, 213 <228>).
81
Die Schwere der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts hängt dabei
sowohl davon ab, in welchem Maß der Künstler es dem Leser nahelegt, den
Inhalt seines Werks auf wirkliche Personen zu beziehen, wie von der
Intensität der Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung, wenn der Leser diesen
Bezug herstellt.
82
a) Zu den Spezifika erzählender Kunstformen wie dem Roman gehört, dass sie
zwar häufig - wenn nicht regelmäßig - an die Realität anknüpfen, der
Künstler dabei aber eine neue ästhetische Wirklichkeit schafft. Das
erfordert eine kunstspezifische Betrachtung zur Bestimmung des durch den
Roman im jeweiligen Handlungszusammenhang dem Leser nahegelegten
Wirklichkeitsbezugs, um auf dieser Grundlage die Schwere der
Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bewerten zu können.
83
Ein Kunstwerk strebt eine gegenüber der "realen" Wirklichkeit
verselbständigte "wirklichere Wirklichkeit" an, in der die reale
Wirklichkeit auf der ästhetischen Ebene in einem neuen Verhältnis zum
Individuum bewusster erfahren wird. Die künstlerische Darstellung kann
deshalb nicht am Maßstab der Welt der Realität, sondern nur an einem
kunstspezifischen, ästhetischen Maßstab gemessen werden (vgl. Sondervotum
Stein, BVerfGE 30, 200 <204>). Das bedeutet, dass die Spannungslage zwischen
Persönlichkeitsschutz und Kunstfreiheit nicht allein auf die Wirkungen eines
Kunstwerks im außerkünstlerischen Sozialbereich abheben kann, sondern auch
kunstspezifischen Gesichtspunkten Rechnung tragen muss. Die Entscheidung
darüber, ob eine Persönlichkeitsrechtsverletzung vorliegt, kann daher nur
unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls getroffen werden. Dabei ist zu
beachten, ob und inwieweit das "Abbild" gegenüber dem "Urbild" durch die
künstlerische Gestaltung des Stoffs und seine Ein- und Unterordnung in den
Gesamtorganismus des Kunstwerks so verselbständigt erscheint, dass das
Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der
"Figur" objektiviert ist (vgl. BVerfGE 30, 173 <195>).
84
Die Gewährleistung der Kunstfreiheit verlangt, den Leser eines literarischen
Werks für mündig zu halten, dieses von einer Meinungsäußerung zu
unterscheiden und zwischen der Schilderung tatsächlicher Gegebenheiten und
einer fiktiven Erzählung zu differenzieren. Ein literarisches Werk, das sich
als Roman ausweist, ist daher zunächst einmal als Fiktion anzusehen, das
keinen Faktizitätsanspruch erhebt. Ohne eine Vermutung für die Fiktionalität
eines literarischen Textes würde man die Eigenarten eines Romans als
Kunstwerk und damit die Anforderungen der Kunstfreiheit verkennen. Diese
Vermutung gilt im Ausgangspunkt auch dann, wenn hinter den Romanfiguren
reale Personen als Urbilder erkennbar sind. Da die Kunstfreiheit eine
derartige Verwendung von Vorbildern in der Lebenswirklichkeit einschließt,
kann es auch kein parallel zum Recht am eigenen Bild verstandenes Recht am
eigenen Lebensbild geben, wenn dies als Recht verstanden würde, nicht zum
Vorbild einer Romanfigur zu werden. Dabei muss es sich bei der in Rede
stehenden Publikation allerdings tatsächlich um Literatur handeln, die für
den Leser erkennbar keinen Faktizitätsanspruch erhebt. Ein fälschlicherweise
als Roman etikettierter bloßer Sachbericht käme nicht in den Schutz einer
kunstspezifischen Betrachtung.
85
Je stärker der Autor eine Romanfigur von ihrem Urbild löst und zu einer
Kunstfigur verselbständigt ("verfremdet"; vgl. BVerfGE 30, 173 <195>), umso
mehr wird ihm eine kunstspezifische Betrachtung zugutekommen. Dabei geht es
bei solcher Fiktionalisierung nicht notwendig um die völlige Beseitigung der
Erkennbarkeit, sondern darum, dass dem Leser deutlich gemacht wird, dass er
nicht von der Faktizität des Erzählten ausgehen soll. Zwar wirkt ein
Kunstwerk neben seiner ästhetischen Realität zugleich in den Realien. Wäre
man aber wegen dieser "Doppelwirkung" gezwungen, im Rahmen einer
Grundrechtsabwägung stets allein auf diese möglichen Wirkungen in den
Realien abzustellen, könnte sich die Kunstfreiheit in Fällen, in denen der
Roman die Persönlichkeitssphäre anderer Menschen tangiert, niemals
durchsetzen. Das Gegenteil wäre der Fall, wenn man nur die ästhetische
Realität im Auge behielte. Dann könnte sich das Persönlichkeitsrecht nie
gegen die Kunstfreiheit durchsetzen. Eine Lösung kann daher nur in einer
Abwägung gefunden werden, die beiden Grundrechten gerecht wird.
86
b) Für die Abwägung ist entscheidend, mit welcher Intensität das
Persönlichkeitsrecht betroffen ist.
87
Der Inhalt dieses Rechts ist nicht allgemein und abschließend umschrieben.
Seinen einzelnen Ausprägungen kommt ungeachtet der grundsätzlichen Bedeutung
des Grundrechts unterschiedliches Gewicht als mögliche Schranke der
Kunstfreiheit zu.
88
Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus,
dass wegen der besonderen Nähe zur Menschenwürde ein Kernbereich privater
Lebensgestaltung als absolut unantastbar geschützt ist (vgl. BVerfGE 6, 32
<41>; 6, 389 <433>; 27, 344 <350 f.>; 32, 373 <378 f.>; 34, 238 <245>; 35,
35 <39>; 38, 312 <320>; 54, 143 <146>; 65, 1 <46>; 80, 367 <373 f.>; 89, 69
<82 f.>; 109, 279 <313>). Diesem absolut geschützten Kernbereich, zu dem
insbesondere auch Ausdrucksformen der Sexualität gehören (vgl. BVerfGE 109,
279 <313>), ist die Privatsphäre in der Schutzintensität nachgelagert (vgl.
BVerfGE 32, 373 <379 ff.>; 35, 35 <39>; 35, 202 <220 f.>; 80, 367 <374 f.>).
89
Die unterschiedlichen Dimensionen des Persönlichkeitsrechts sind nicht im
Sinne einer schematischen Stufenordnung zu verstehen, wohl aber als
Anhaltspunkte für die Intensität der Beeinträchtigung durch das literarische
Werk.
90
c) Zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste
ästhetische Realität schafft und der Intensität der Verletzung des
Persönlichkeitsrechts besteht eine Wechselbeziehung. Je stärker Abbild und
Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des
Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung die besonders
geschützten Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker
muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung
auszuschließen.
91
4. Nach diesen Maßstäben sind die Gerichte im vorliegenden Fall den
Anforderungen der Freiheit der Kunst nur teilweise gerecht geworden. Sie
haben den Klagen beider Klägerinnen uneingeschränkt stattgegeben, obwohl
diese hinsichtlich der Abwägung zwischen Freiheit der Kunst und
Persönlichkeitsrecht deutliche Unterschiede aufweisen.
92
a) Hinsichtlich der Klägerin zu 2) werden die angegriffenen Entscheidungen
der gebotenen kunstspezifischen Betrachtung nicht in jeder Hinsicht gerecht;
sie verstoßen damit gegen die Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz
1 GG.
93
Verfassungsrechtlich ist allerdings nicht zu beanstanden, dass die
angefochtenen Entscheidungen von einem geringen Maß an Verfremdung der
Romanfigur der Lale gegenüber der Klägerin zu 2) als Urbild ausgegangen
sind. Insoweit haben die Gerichte in verfassungsrechtlich nicht zu
beanstandender Weise festgestellt, dass die Klägerin zu 2) anhand einer
ganzen Reihe biographischer Merkmale, insbesondere anhand der
Preisverleihung, als Vorbild der Romanfigur erkennbar gemacht ist.
94
Entgegen dem eigenen Ausgangspunkt insbesondere des Bundesgerichtshofs, nach
dem eine solche Erkennbarkeit für ein Veröffentlichungsverbot nicht
ausreicht, sondern zusätzlich eine schwere Persönlichkeitsrechtsverletzung
erforderlich ist, begnügen sich die Gerichte damit, festzustellen, dass die
Romanfigur der Lale sehr negativ gezeichnet ist, und sehen darin die
Persönlichkeitsrechtsverletzung. Dabei gehen sie aber letztlich selbst davon
aus, und machen dem Roman gerade dies zum Vorwurf, dass nicht alles, was im
Roman über Lale steht, den Tatsachen entspricht. Damit, dass die Klägerin zu
2) erkennbar Vorbild der Lale ist, ist jedoch nicht gesagt, dass der Roman
es nahelegt, dass alle Handlungen und Eigenschaften der Lale von einem Leser
der Klägerin zu 2) zugeschrieben werden müssen.
95
Die Entscheidungen berücksichtigen damit nicht hinreichend, dass der Roman
im Ausgangspunkt als Fiktion anzusehen ist. Allerdings ist es nicht zu
beanstanden, dass der Bundesgerichtshof einen "disclaimer" am Anfang oder
Ende des Buchs, wonach Übereinstimmungen mit realen Personen rein zufällig
und nicht gewollt seien, nicht für die Annahme eines fiktiven Textes
ausreichen lässt. Diese muss vielmehr auch aus dem Text selbst heraus
beurteilt werden. Stellt sich ein literarischer Text demnach als eine bloße
Abrechnung oder Schmähung heraus, so kann durchaus der Persönlichkeitsschutz
überwiegen.
96
Beim vorliegenden Roman ist dies jedoch nicht der Fall. Zwar handelt es sich
bei "Esra" um realistische Literatur in dem Sinne, dass der Roman an realen
Schauplätzen spielt mit Personen als Hauptfiguren, die realistische Züge
aufweisen. Auch findet durchaus ein Spiel des Autors mit der Verschränkung
von Wahrheit und Fiktion statt. Der Autor will insoweit bewusst Grenzen
verschwimmen lassen. Gleichwohl vermag ein literarisch verständiger Leser zu
erkennen, dass sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von
realen Personen und Ereignissen erschöpft, sondern dass er eine zweite Ebene
hinter dieser realistischen Ebene besitzt. Die Figur der Lale spielt eine
wichtige Rolle im Gesamtgefüge des Romans bei der Suche nach der Schuld für
das Scheitern der Beziehung zwischen Adam und Esra. Der Roman gleitet
hinsichtlich der Klägerin zu 2) wegen dieser Funktionalisierung der
Romanfigur der Lale nicht in eine Schmähung ab. Der Autor legt vielmehr in
gleicher Weise bei sich selbst charakterliche Schwächen offen, dargestellt
anhand der Figur des Ich-Erzählers, der ebenfalls gegenüber seiner Tochter
versagt und von großer Zerrissenheit und Eifersucht geprägt ist. Gerade auch
dieses Stellen der Schuldfrage unter besonderer Hervorhebung des schwierigen
Verhältnisses zwischen einem Liebhaber und der Mutter der Geliebten zeigt
die Existenz einer zweiten Ebene des Romans.
97
Das gilt hinsichtlich der Figur der Lale auch deshalb, weil der Autor sie
anders als Esra ganz überwiegend nicht aus eigenem Erleben schildert. Die
Lebensgeschichte der Lale ist ein breit ausgemalter Roman im Roman. Gerade
die von der Klägerin zu 2) angegriffenen Inhalte des Romans sind deutlich
erzählerisch, zum Teil auch mit Distanz nur als Wiedergabe fremder
Erzählungen, Gerüchte und Eindrücke geschildert.
98
Schon von daher wird die Kennzeichnung der Klägerin zu 2) durch den
Bundesgerichtshof "als eine depressive, psychisch kranke Alkoholikerin", die
"als eine Frau (erscheint), die ihre Tochter und ihre Familie tyrannisiert,
herrisch und streitsüchtig ist, ihre Kinder vernachlässigt hat, das
Preisgeld in ihr bankrottes Hotel gesteckt hat, ihren Eltern Land gestohlen
und die Mafia auf sie gehetzt hat, gegen den Goldabbau nur gekämpft hat,
weil auf ihrem eigenen ergaunerten Grundstück kein Gold zu finden gewesen
ist, eine hohe Brandschutzversicherung abgeschlossen hat, bevor ihr Hotel in
Flammen aufgegangen ist, ihre Tochter zur Abtreibung gedrängt hat, von ihrem
ersten Mann betrogen und von ihrem ebenfalls alkoholsüchtigen zweiten Mann
geschlagen worden ist", nur unzureichend der gebotenen kunstspezifischen
Betrachtung gerecht. In dieser Zusammenfassung mischen sich Aussagen, die
sogar als Tatsachenfeststellungen zum Beispiel in einer Autobiographie oder
als Kritik an der Trägerin eines Alternativen Nobelpreises erlaubt sein
könnten, mit fiktiven Gehalten und eigener, zugespitzter Interpretation des
Gerichts. Der Bundesgerichtshof sagt zwar zum möglichen Einwand der
Richtigkeit einiger der inkriminierten Passagen, dass die Beschwerdeführerin
keinen Wahrheitsbeweis angetreten habe, mutet damit aber dem Künstler etwas
zu, was er nach seinem Selbstverständnis gar nicht kann, weil er selbst von
der Fiktionalität der Schilderung ausgeht. Das an die Wirklichkeit
anknüpfende Kunstwerk hätte mit diesem Ansatz daher weniger Schutz als der
Tatsachenbericht, bei dem der Wahrheitsbeweis offenstünde.
99
Für ein literarisches Werk, das an die Wirklichkeit anknüpft, ist es gerade
kennzeichnend, dass es tatsächliche und fiktive Schilderungen vermengt.
Unter diesen Umständen verfehlt es den Grundrechtsschutz solcher Literatur,
wenn man die Persönlichkeitsrechtsverletzung bereits in der Erkennbarkeit
als Vorbild einerseits und in den negativen Zügen der Romanfigur
andererseits sieht. Ein solches Verständnis des Rechts am eigenen Lebensbild
würde der Kunstfreiheit nicht gerecht. Nötig wäre vielmehr jedenfalls der
Nachweis, dass dem Leser vom Autor nahegelegt wird, bestimmte Teile der
Schilderung als tatsächlich geschehen anzusehen, und dass gerade diese Teile
eine Persönlichkeitsrechtsverletzung darstellen, entweder weil sie
ehrenrührige falsche Tatsachenbehauptungen aufstellen oder wegen der
Berührung des Kernbereichs der Persönlichkeit überhaupt nicht in die
Öffentlichkeit gehören. Ein solcher Nachweis ergibt sich aus den
angegriffenen Entscheidungen nicht. Sie verkennen vielmehr, dass die
Kunstfreiheit es erfordert, zunächst einmal von der Fiktionalität des Textes
auszugehen.
100
b) Im Gegensatz dazu sind die angegriffenen Entscheidungen, soweit sie der
Klägerin zu 1) einen Unterlassungsanspruch zugesprochen haben, im Ergebnis
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Anders als im Fall der Klägerin
zu 2) haben die Gerichte hier nicht nur die Erkennbarkeit der Klägerin zu
1), sondern auch in bestimmten Schilderungen des Romans konkrete schwere
Persönlichkeitsrechtsverletzungen festgestellt. Dabei haben sie teilweise
auf die Verletzung der Intimsphäre, teilweise auf die
Mutter-Tochter-Beziehung im Hinblick auf die lebensbedrohliche Krankheit der
Tochter abgestellt. Beide Gesichtspunkte vermögen das Verbot zu tragen.
101
aa) Die Klägerin zu 1) ist nicht nur, wie die Gerichte zutreffend
festgestellt haben, in der Romanfigur der Esra erkennbar dargestellt. Ihre
Rolle im Roman betrifft auch zentrale Ereignisse, die unmittelbar zwischen
ihr und dem Ich-Erzähler, der seinerseits unschwer als der Autor zu erkennen
ist, und während deren Beziehung stattgefunden haben. Sowohl ihre intime
Beziehung zum Autor wie ihre Ehe, die Krankheit ihrer Tochter und ihre neue
Beziehung sind nach den zutreffenden Feststellungen der Gerichte mehr oder
weniger unmittelbar der Wirklichkeit entnommen, so dass dem Leser anders als
bei der Klägerin zu 2) nicht nahegelegt wird, diese Geschehnisse als Fiktion
zu verstehen, auch weil schon aus der Perspektive des Romans eigenes Erleben
des Ich-Erzählers geschildert wird.
102
bb) Gerade durch die aus vom Autor unmittelbar Erlebtem stammende,
realistische und detaillierte Erzählung der Geschehnisse wird das
Persönlichkeitsrecht der Klägerin zu 1) besonders schwer betroffen. Dies
geschieht insbesondere durch die genaue Schilderung intimster Details einer
Frau, die deutlich als tatsächliche Intimpartnerin des Autors erkennbar ist.
Hierin liegt eine Verletzung ihrer Intimsphäre und damit eines Bereichs des
Persönlichkeitsrechts, der zu dessen Menschenwürdekern gehört (vgl. BVerfGE
109, 279 <313>). Auf diesem Gebiet sind weder ihr noch dem Autor
Wahrheitsbeweise möglich oder auch nur zumutbar. Die eindeutig als Esra
erkennbar gemachte Klägerin zu 1) muss aufgrund des überragend bedeutenden
Schutzes der Intimsphäre nicht hinnehmen, dass sich Leser die durch den
Roman nahegelegte Frage stellen, ob sich die dort berichteten Geschehnisse
auch in der Realität zugetragen haben. Daher fällt die Abwägung zwischen der
Kunstfreiheit des die Verfassungsbeschwerde führenden Verlags und des
Persönlichkeitsrechts der Klägerin zu 1) zu deren Gunsten aus (vgl. auch
BVerfGE 75, 369 <380>).
103
cc) Daneben stellt auch die Schilderung der tatsächlich bestehenden
lebensbedrohlichen Krankheit der Tochter eine schwere
Persönlichkeitsrechtsverletzung der Klägerin zu 1) dar. Auch die Tochter ist
für ihr Umfeld, zum Beispiel ihre Mitschüler, eindeutig identifizierbar.
Angesichts des besonderen Schutzes von Kindern und der Mutter-Kind-Beziehung
(vgl. BVerfGE 101, 361 <385 f.>) hat die Darstellung der Krankheit und der
dadurch gekennzeichneten Beziehung von Mutter und Kind bei zwei eindeutig
identifizierbaren Personen, wie es das Landgericht zutreffend ausgeführt
hat, in der Öffentlichkeit nichts zu suchen.
104
c) Die angegriffenen Entscheidungen durften, soweit sie der
Unterlassungsklage der Klägerin zu 1) stattgegeben haben, ein Gesamtverbot
aussprechen. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass weder im
Tenor noch in den Gründen eine Beschränkung auf bestimmte Passagen des
Romans erfolgt ist, in denen die Gerichte konkret die nicht gerechtfertigte
Persönlichkeitsrechtsverletzung gesehen haben. Insoweit ist die vom
Bundesgerichtshof unter Rückgriff auf eine ältere Entscheidung (BGH, Urteil
vom 3. Juni 1975 - VI ZR 123/74 -, NJW 1975, S. 1882 <1884 f.>) vertretene
Ansicht, wonach ein Gesamtverbot dann nicht unverhältnismäßig ist, wenn die
beanstandeten Textteile für die Gesamtkonzeption des Werks beziehungsweise
für das Verständnis des mit ihm verfolgten Anliegens von Bedeutung sind,
auch aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Es ist nicht
Aufgabe der Gerichte, bestimmte Streichungen oder Abänderungen vorzunehmen,
um die Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen, da es eine Vielzahl
möglicher Varianten gäbe, wie diese Änderungen vorgenommen werden könnten ,
und der Charakter des Romans durch solche Eingriffe eine erhebliche
Veränderung erfahren würde. Allerdings erfordert die Kunstfreiheit, dass die
Kennzeichnung der Persönlichkeitsrechtsverletzung so konkret ist, dass Autor
und Verlag erschließen können, wie sie den Mangel beseitigen können. Das ist
im Fall der Klägerin zu 1) erfolgt.
105
Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin
und der Autor die Möglichkeit haben müssen, einen verfassungsgemäßen Zustand
herzustellen, indem sie eine Romanfassung veröffentlichen, die das
allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin zu 1) nicht verletzt. Dies
könnte sowohl durch Änderungen, die die Identifizierbarkeit verringern, wie
durch den Wegfall persönlichkeitsrechtsverletzender Teile des Romans
erfolgen. Wegen der Wechselbeziehung zwischen dem Maß, in dem der Autor eine
ästhetische Realität schafft, und der Intensität der Verletzung des
Persönlichkeitsrechts bedeutet das weder eine "Tabuisierung des Sexuellen",
da die Schilderung von Intimbeziehungen unbenommen bleibt, wenn dem Leser
nicht nahegelegt wird, sie auf bestimmte Personen zu beziehen, noch ein
Verbot der Verwendungen biographischen Materials, wie zum Beispiel in dem in
einem der Sondervoten erwähnten Werk "Die Leiden des jungen Werthers". Dass
die Verringerung der Identifizierbarkeit durch den Rechtsstreit um den Roman
jedenfalls vorübergehend schwerer geworden ist, haben Autor und Verlag
hinzunehmen, da es Folge einer Persönlichkeitsrechtsverletzung ist, gegen
die sich die Klägerin zu 1) wehren durfte.
III.
106
Weitere Verfassungsrechtsverletzungen sind nicht erkennbar. Die
angegriffenen Entscheidungen verstoßen entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführerin weder gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) noch
gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).
IV.
107
Die angegriffenen Entscheidungen beruhen bezüglich der Klägerin zu 2) auf
dem ausgeführten verfassungsrechtlichen Mangel. Es kann nicht ausgeschlossen
werden, dass die Gerichte bei Beachtung der dargelegten
verfassungsrechtlichen Anforderungen, insbesondere der gebotenen
kunstspezifischen Betrachtung, über die Klage der Klägerin zu 2) anders
entschieden hätten. Die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an den
Bundesgerichtshof zurückzuverweisen.
V.
108
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3
BVerfGG.
109
Die Entscheidung ist mit 5:3 Stimmen ergangen.
Abweichende Meinung
Abweichende Meinung 1
110
Wir stimmen der Entscheidung der Senatsmehrheit nicht zu. Bei der
Mephisto-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 30, 173 ff.)
sind es noch die Zivilgerichte gewesen, die bei der Abwägung der
Kunstfreiheit mit dem Persönlichkeitsschutz einer Person, an die ein Roman
anknüpft, in Verkennung der Notwendigkeit einer kunstspezifischen
Betrachtung des Romans das zur Bemessung der Schwere einer
Persönlichkeitsbeeinträchtigung untaugliche Kriterium der Erkennbarkeit
angewandt haben, wie dies damals der Richter Stein und die Richterin Rupp-v.
Brünneck in ihren Sondervoten zu Recht beanstandet haben. Nun hat die
Senatsmehrheit im Falle des Romans "Esra" dieses Kriterium zum eigenen
Prüfmaßstab erhoben. Damit wird die in Art. 5 Abs. 3 GG verbürgte
Kunstfreiheit in untragbarer Weise eingeschränkt (I.) Zudem wird dieser
Maßstab in unterschiedlicher Weise mit inakzeptablem Ergebnis auf die beiden
in ihrem Persönlichkeitsrecht betroffenen Klägerinnen des Ausgangsverfahrens
angewandt (II.). Bei kunstspezifischer Betrachtung verletzt der Roman "Esra"
unseres Erachtens das Persönlichkeitsrecht der Klägerinnen des
Ausgangsverfahrens nicht und darf deshalb nicht verboten werden (III.).
I.
111
1. Zunächst einmal teilen wir die insoweit von der Mephisto-Entscheidung
abweichende Meinung der Senatsmehrheit, dass sich das
Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung zivilgerichtlicher Entscheidungen,
die das Verbot eines Romans aussprechen und damit besonders stark in die
Kunstfreiheit eingreifen, nicht auf die Frage beschränken darf, ob die
angegriffenen Entscheidungen auf einer grundsätzlichen Verkennung der
Bedeutung und des Schutzumfangs von Art. 5 Abs. 3 GG beruhen. Vielmehr muss
es die Entscheidungen auf ihre Vereinbarkeit mit der Kunstfreiheitsgarantie
auf der Grundlage der konkreten Umstände des vorliegenden Falls überprüfen.
Auch folgen wir der Auffassung, dass ein Konflikt zwischen der Kunstfreiheit
des Romanciers wie seines Verlegers und dem Schutz der Persönlichkeit nur
dann entstehen kann, wenn eine Person als Vorbild einer Romanfigur nicht nur
entschlüsselbar, sondern erkennbar ist, wobei die Erkennbarkeit sich auf
einen mehr oder minder großen Bekanntenkreis beschränken kann. Die
Erstreckung der Erkennbarkeit ist keine Frage der Betroffenheit, sondern des
Ausmaßes der Betroffenheit. Schließlich unterstreichen wir auch die
Ausführungen der Senatsmehrheit, dass ein Roman, auch wenn er an die
Wirklichkeit anknüpft, diese in andere ästhetische Ebenen hebt, sie umformt,
weiter ausgestaltet, in andere thematische Beziehungen setzt, damit neue
Wirklichkeiten schafft und insofern grundsätzlich zunächst einmal als
Fiktion ohne Faktizitätsanspruch anzusehen ist. Um herauszufinden, ob in der
künstlerischen Darstellung dennoch eine schwerwiegende
Persönlichkeitsrechtsverletzung liegen könnte, darf das literarische Werk
deshalb in Anbetracht, dass mit ihm eine neue, durch Phantasie geformte
Wirklichkeit geschaffen wurde, nicht an der Realität gemessen werden.
Vielmehr ist dabei an das Geschriebene ein kunstspezifischer Maßstab
anzulegen, der im Übrigen auch in der Mephisto-Entscheidung als maßgeblich
für eine solche Prüfung benannt wurde, doch dann nicht zum Tragen kam (vgl.
BVerfGE 30, 173 <195>).
112
2. Dieser von der Senatsmehrheit zu Recht reklamierte kunstspezifische
Maßstab wird aber dann doch wieder von ihr auf die Realität zurückgeführt.
Denn gemessen werden soll nicht an der Art der Literatur, dem spezifischen
Genre des Romans, seinen Darstellungsformen und thematischen Ebenen. Einem
Autor soll vielmehr dieser Maßstab nur in dem Ausmaß zugutekommen, in dem er
seine Figuren von der Wirklichkeit ablöst, also verfremdet. Und maßgeblich
für das Vorliegen einer Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung durch das als
Roman eingestufte und akzeptierte Kunstwerk soll letztlich sein, wie viel
von einer Person darin erkennbar und welcher Bereich der geschützten
Persönlichkeit des Betreffenden angesprochen ist. Die Schlussfolgerung
daraus ist: je mehr Verfremdung, desto mehr Kunst, je mehr Erkennbarkeit,
desto größer die Beeinträchtigung, und je mehr Intimbereich, desto mehr
Verfremdung sei notwendig. Hieraus folgen unseres Erachtens Fehlschlüsse,
die der Kunstfreiheit nicht gerecht werden.
113
Es ist widersprüchlich, die Anwendung eines Maßstabs, der seine Begründung
gerade darin findet, dass Kunst Reales in neue Wirklichkeiten verwandelt,
sogleich zu relativieren, vom Ausmaß der Abweichung des Kunstwerks vom
Realen abhängig zu machen und die künstlerisch verwandelte Realität damit
doch wieder für bare Münze zu nehmen. Mit solch quantitativem Messen, an
denen ein Abgleich des Romans mit der Wirklichkeit vorgenommen werden soll,
wird man der qualitativen Dimension der künstlerischen Verarbeitung von
Wirklichkeit nicht gerecht. Darauf hat schon Richter Stein hingewiesen,
indem er ausgeführt hat, der Grad der Übereinstimmung zwischen einer
Romanfigur und den Persönlichkeitsdaten realer Personen sei grundsätzlich
irrelevant. Denn solche Daten würden vom Romanschreiber in eine ästhetische
Realität versetzt, in der Faktisches und Fiktives ungesondert gemischt, eine
unauflösbare Verbindung seien (vgl. BVerfGE 30, 173 <205 f.>). Wenn beides
aber nicht zu trennen ist, wie auch wir der Meinung sind, kann ihr
Verhältnis zueinander nicht graduell bemessen werden. Kunst erschöpft sich
nicht in der subjektiven Sicht auf Realitäten, sondern formt aus diesen
eigene Welten, mit denen Anliegen des Künstlers ihren Ausdruck finden.
114
Einleuchtend ist ebenfalls nicht, wie aus dem Grad der Erkennbarkeit einer
Person in einem Roman auf eine schwere Beeinträchtigung ihrer Persönlichkeit
geschlossen werden kann. Erkennbarkeit führt allein dazu, die Möglichkeit
einer Beeinträchtigung nicht ausschließen zu können. Sie kann nicht dabei
helfen zu unterscheiden, was in einem Roman Wahrheit oder Dichtung ist. Es
ist ein Zirkelschluss, mit steigender Anzahl erkennbarer einzelner Daten von
Personen die Kunstfreiheit zurücktreten zu lassen und dabei nicht nur eine
Beeinträchtigung entdecken zu wollen, sondern auch ihre Schwere daran zu
bemessen. Einzelne Wiedererkennungsmomente sagen nichts darüber aus, ob die
Erzählung, in die sie eingeflossen sind, Reales wiedergibt und wieweit
Reales wiederum so ausgestaltet worden ist, dass sein Gehalt sich wandelt.
115
Schließlich ist unseres Erachtens nicht haltbar, wegen erkennbarer Hinweise
auf bestimmte Personen deren Persönlichkeitsbeeinträchtigung zu unterstellen
und daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, je mehr der Roman mit seinen
Schilderungen den Kernbereich privater Lebensgestaltung, insbesondere den
Intim- und Sexualbereich berühre, desto mehr müsse eine Verletzung der
Persönlichkeit durch Fiktionalisierung des Vorbildes, also Verfremdung,
ausgeschlossen werden. So richtig es ist, dass die Intimsphäre zu dem
Bereich der Persönlichkeit eines Menschen gehört, der seine Würde berührt
und deshalb als unantastbar geschützt werden muss, so falsch ist es, allein
aus dem Umstand, dass in einem Roman intime Szenen enthalten sind, zu
folgern, sie berichteten über das wahre Sexualleben der Person, die als
Vorbild einer in diesen Szenen agierenden Romanfigur erkennbar ist, und
tangierten insofern ihren absolut geschützten Persönlichkeitsbereich. Dafür
gibt es, jenseits der Daten, die das Vorbild erkennen lassen, keinerlei
Anhaltspunkte. Zudem stellt sich die Frage, welche Art von Verfremdung denn
dem Autor nahegelegt wird, um die vermeintliche Grundrechtsbeeinträchtigung
auszuschließen. Gemeint sein kann wohl nicht, die Schilderung so zu
verändern, dass sie möglichem Realen nicht mehr entspricht. Denn ob und wie
sich Intimes im Realen abgespielt hat und ob und wie der Autor es
gegebenenfalls schon verfremdet hat, kann der Leser nicht erkennen. Auch die
Verfremdung der Person hilft nicht viel weiter, solange sie als Vorbild
erkennbar ist. So bliebe nur, auf diese Romanfigur in Anlehnung an das reale
Vorbild ganz zu verzichten oder den Intim- und Sexualbereich im Roman nicht
zu berühren. Und dies, obwohl es sich bei dem, was beschrieben werden soll,
um Dichtung handelt. Nichts anderes ergibt sich aus dem Hinweis der
Senatsmehrheit, die Schilderung von Intimbeziehungen bleibe einem Autor
unbenommen, wenn dem Leser nicht nahegelegt werde, sie auf eine bestimmte
Person zu beziehen. Denn bleibt eine Person in einer geschilderten intimen
Situation erkennbar, ist sie zwangsläufig in Beziehung zu dieser Situation
gebracht - unabhängig davon, aus wie vielen identifizierbaren Merkmalen sich
die Erkennbarkeit ergibt. Auch dies stellt einen Autor letztlich vor die
Alternative, Intimes im Roman entweder nur mit nicht erkennbaren Personen
darzustellen oder es überhaupt nicht zu thematisieren.
116
Ein solches Ansinnen schränkt die Kunstfreiheit in nicht hinnehmbarer Weise
ein, denn es führt letztendlich zu einer der Kunst verordneten Tabuisierung
des Sexuellen, weil sie von Anlehnungen an die Wirklichkeit lebt und damit
immer in der Gefahr steht, dass Personen sich in ihr wiedererkennen und für
andere erkennbar sind.
117
Es ist fraglich, ob Goethe's Roman "Die Leiden des jungen Werther" nach
diesen Maßstäben der Senatsmehrheit nicht hätte verboten werden müssen, auch
wenn die Senatsmehrheit dies von sich weist. Immerhin wurde schon bei
damaligem Erscheinen dieses Briefromans in der Romanfigur Lotte Charlotte
Buff erkannt, in die sich Goethe, den man in der Figur des Werther's zu
entdecken glaubte, während seiner Wetzlarer Referendarzeit verliebt hatte.
Charlotte Buff war ebenso wie die Romanfigur Lotte zur Zeit ihrer Begegnung
mit Goethe schon verlobt und dann verheiratet. Ihr Ehemann Johann Christian
Kestner, der sich in der Romanfigur Albert, dem Verlobten und späteren
Ehemann von Lotte wiederfand, schrieb damals über den Roman an einen Freund:
"Lotte hat z.B. weder mit Goethe noch mit sonst einem anderen in dem
ziemlich genauen Verhältnis gestanden, wie da beschrieben ist. Dies haben
wir ihm allerdings sehr übelgenommen, indem verschiedene Nebenumstände zu
wahr und zu bekannt sind, als dass man nicht auf uns hätte fallen sollen ...
Lottens Portrait ist im Ganzen das von meiner Frau" (zitiert nach: Bernhard
von Becker, Fiktion und Wirklichkeit im Roman, Der Schlüsselprozess um das
Buch "Esra", Würzburg 2006, S. 16). Dabei ist nicht zu bestreiten, dass der
Roman höchst intime Szenen zwischen Lotte und Werther enthält. Deutliche
Erkennbarkeit der in Bezug genommenen Personen und Schilderungen, die sich
in der Intimsphäre abspielen - beide Voraussetzungen, die die Senatsmehrheit
für eine schwere Persönlichkeitsverletzung ausreichen lässt, liegen hier
eigentlich vor.
II.
118
Diese, der Kunstfreiheit nicht gerecht werdenden Maßstäbe wendet die
Senatsmehrheit überdies bei der Prüfung, ob der Roman "Esra" die
Persönlichkeitsrechte der sich in ihm wiedererkennenden Klägerinnen des
Ausgangsverfahrens verletzt, in unterschiedlicher Weise an und bedient sich
dabei zusätzlicher Kriterien. Sie unterscheidet nach den Stilmitteln und
prüft anhand derer, inwieweit der Autor es dem Leser nahelegt, dass Passagen
seines Romans der Wirklichkeit entsprechen. Auch diese Herangehensweise ist
untauglich, Faktizität von Fiktion in einem Roman zu unterscheiden und zu
ergründen, ob mit einer Darstellung eine Persönlichkeitsrechtsverletzung
verbunden ist, die so schwerwiegend ist, dass sie durch die Kunstfreiheit
nicht mehr gerechtfertigt ist.
119
1. Bei der Klägerin zu 2), an die sich die Romanfigur Lale anlehnt, kommt
die Senatsmehrheit zu dem Ergebnis, die Gerichte hätten es unter Verstoß
gegen die Kunstfreiheit unterlassen, eine kunstspezifische Betrachtung des
Romans vorzunehmen. Die negative Darstellung dieser Romanfigur reiche nicht
aus, um darauf eine Persönlichkeitsrechtsverletzung zu stützen, denn bei
Literatur, die an Wirklichkeit anknüpfe, verschränkten sich Wahrheit und
Fiktion, sodass Handlungen und Eigenschaften nicht ohne weiteres der
Klägerin zu 2) zugeschrieben werden könnten. Nicht hinreichend sei
berücksichtigt worden, dass der Roman im Ausgangspunkt als Fiktion anzusehen
sei. Dieser Auffassung und den Ausführungen dazu können wir uns voll und
ganz anschließen. Es fragt sich nur, warum die Senatsmehrheit es in diesem
Fall unterlässt, den von ihr zuvor aufgestellten, von uns für falsch
erachteten Maßstab der Erkennbarkeit anzuwenden, aus der sich doch die
Persönlichkeitsverletzung und deren Ausmaß erschließen soll. Denn die
Klägerin zu 2) ist nicht weniger erkennbar als die Klägerin zu 1). Anstelle
der Erkennbarkeit bringt die Senatsmehrheit hier nun die Art ins Spiel, in
der die Romanfigur beschrieben wird. Die Annahme, der Roman sei Fiktion,
werde dadurch gestützt, dass der Autor Lale überwiegend nicht aus eigenem
Erleben, sondern in Wiedergabe fremder Erzählungen, Gerüchte und Eindrücke
geschildert habe. Das eingesetzte Stilmittel soll dabei Ausdruck und Maßstab
dafür sein, ob der Autor es dem Leser an bestimmten Stellen nahelegt,
Geschildertes als tatsächlich geschehen anzusehen. Damit aber wird von der
Form der Erzählung auf den Wahrheitsgehalt ihres Inhalts fehlgeschlossen und
unterstellt, dass ein Autor seine Erzählweise davon abhängig macht, wie nah
oder fern er sich in seinem Roman an der Realität entlang bewegt. Dafür gibt
es jedoch nicht den geringsten Anhaltspunkt. Die Wahl des Stilmittels ist
vornehmlich Ausdruck der künstlerischen Handschrift eines Autors und passt
sich dem Genre des Romans, seinem Stoff sowie der Thematik an, die der Autor
behandeln will. Fernliegend ist zudem anzunehmen, dass ein Autor, der gerade
durch Verweben von Wirklichkeit und Phantasie eine neue Geschichte kreieren
will, dann doch erkennen lassen, gar nahelegen wollte, wo in seinem Roman
die "Wahrheit" zu finden ist. So kommt die Senatsmehrheit hier zwar zu einem
richtigen Ergebnis, bei dem jedoch nur der Grund trägt, die angegriffenen
Entscheidungen ermangelten einer kunstspezifischen Betrachtungsweise.
120
2. Dagegen glaubt die Senatsmehrheit bei der Klägerin zu 1) eine schwere
Persönlichkeitsverletzung durch die Darstellung der Romanfigur Esra erkennen
zu können. Eine kunstspezifische Betrachtungsweise wird hier, anders als bei
der Klägerin zu 2), nicht reklamiert. Vielmehr stützt sich die
Senatsmehrheit zur Begründung dieses Ergebnisses nun zum einen auf die
Erkennbarkeit der Klägerin zu 1), zum anderen darauf, dass die Erzählung
betreffend Esra aus vom Autor unmittelbar Erlebtem stamme, realistisch und
detailliert sei und gerade dadurch das Persönlichkeitsrecht der Klägerin zu
1) besonders schwer treffe, und schließlich darauf, dass intimste Details
geschildert würden, was nicht hingenommen werden müsse. Auch hier schließt
die Senatsmehrheit wieder von der Erkennbarkeit des Vorbilds und von der
Erzählweise auf die Realität des Erzählten und bleibt dabei die Antwort
schuldig, woher sie das Wissen nimmt und worauf sie ihre Einschätzung
stützt, die Schilderung gebe Erlebtes wieder. Dies mag ein subjektiver
Eindruck aus richterlicher Leserbrille sein, kann aber auch ganz anders
gesehen werden, insbesondere bei kunstspezifischer Betrachtungsweise, die
hier aber nicht vorgenommen wird. Und hinsichtlich der intimen Szenen ebenso
wie der Passagen, in denen das Kind der Klägerin zu 1) als Vorbild erkennbar
erscheint, soll es noch nicht einmal mehr auf den "Wahrheitsgehalt" des
Erzählten ankommen. Hier belässt man es bei den kategorischen Imperativen,
dies sei nicht hinzunehmen und habe in der Öffentlichkeit nichts zu suchen,
um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung anzunehmen und das Verbot des Romans
zu bestätigen. Moral allein ohne einen Anhaltspunkt, ob das Geschilderte so
oder überhaupt geschehen ist, ob es nicht lediglich dichterisches
Ausdrucksmittel für Gefühle und Konflikte ist oder vielleicht doch der
Portraitierung der Klägerin zu 1) diente, ist aber keine Messlatte, die an
die Kunst angelegt werden darf, wenn sie frei sein soll, wie es Art. 5 Abs.
3 GG fordert.
121
3. Betrachtet man zudem das Entscheidungsergebnis der Senatsmehrheit in
seiner Gesamtheit, ist schwer nachvollziehbar, weshalb in ein und demselben
Roman bei ähnlich vielen Anknüpfungspunkten, die sich in ihm aus dem Leben
der Klägerinnen wiederfinden, die Schilderungen und Charakterdarstellungen
der einen dem Fiktiven, die der anderen dagegen dem Realen zugeordnet
werden. Ein Roman ist ein Gesamtwerk, das sich schwerlich in einzelne
Passagen sezieren lässt. Entweder ist das Werk insgesamt ein Roman und
erzählt Fiktives, oder es ist gar kein Roman. Dass es sich bei dem Buch
"Esra" um einen Roman handelt, wird aber zu Recht von der Senatsmehrheit gar
nicht in Abrede gestellt. Deshalb kann sein Inhalt auch nicht mit zweierlei
Maß gemessen werden. Nur wenn es Anhaltspunkte gäbe, die deutlich machten,
dass die Form eines Romans benutzt wird, um eine bestimmte Person mit
Schmähungen zu überziehen, gäbe dies Anlass für eine differenzierende
Betrachtung. Dies aber ist gerade auch bei vergleichender Betrachtung der
beiden Romanfiguren bei Esra nicht der Fall. Im Übrigen wird die
Notwendigkeit einer Gesamtschau des Werks auch deutlich, blickt man auf die
Konsequenzen der Entscheidung. Denn was nutzt es dem Autor und seinem
Verleger, dass sie im Hinblick auf die Romanfigur Lale Recht bekommen,
dennoch aber das Buch vollständig verboten bleibt und die Befolgung des Rats
der Senatsmehrheit, andere Stilmittel zu wählen und mehr zu verfremden, wo
die Romanfigur Esra auftaucht, das Schreiben eines anderen, neuen Romans
erforderlich machte? Und was bewirkt die teilweise Zurückverweisung der
Sache an den Bundesgerichtshof mehr als ein Glasperlenspiel? Denn wenn das
Gericht nun entsprechend der schon von der Senatsmehrheit vorgezeichneten
Argumentationslinie zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin zu 2) sei durch
die Schilderung der Romanfigur Lale nicht in ihrem Persönlichkeitsrecht
verletzt, ändert das nichts an dem Verbot des Romans. Wenn es aber doch
glaubt, Passagen im Roman zu finden, in denen der Autor den Lesern
"nahegelegt" hat, hier die "Wahrheit" über die Klägerin zu 2) zu entdecken
und dabei ehrrührig Falsches erzählt hat, dann gereicht diese Mühe nur dazu,
das Verbot des Romans zu bestätigen und eine der Klägerin zu 2) günstige
Kostenentscheidung zu treffen.
III.
122
Will man der Maßgabe folgen, Literatur um der Kunstfreiheit willen einer
kunstspezifischen Betrachtung zu unterziehen, wie dies eigentlich auch die
Senatsmehrheit zu Recht verlangt, dann reicht es nicht aus, nur die Gattung
festzustellen, in die das Erzählte sich einordnet, auch wenn hiervon Signale
ausgehen, wie ein Text zu verstehen ist. Das Buch "Esra" ist auch nach
Auffassung der Senatsmehrheit als Roman einzustufen, was darauf hinweist,
dass die darin enthaltene Geschichte Fiktion ist, auch wenn sie an realen
Personen oder Begebenheiten anknüpft. Doch damit ist noch nicht abschließend
geklärt, ob der Inhalt der Erzählung auch dem Romanhaften entspricht und in
ihr Reales und Fiktives eine Symbiose eingegangen sind, aus der eine eigene
Geschichte entstanden ist. Dies aber zu beurteilen kann man nicht allein dem
vielzitierten Leser mit seiner jeweils mehr oder weniger ausgeprägten
Literaturkenntnis und seiner jeweils eigenen Sichtweise auf den Roman
überlassen. Auch ein fiktiver Leser, den man sich zurechtlegt und ihm
unterstellt, wie er den Roman beurteilt und versteht, führt hier nicht
weiter. Vielmehr ist dafür auf literaturwissenschaftlichen Sachverstand
zurückzugreifen.
123
Tut man dies aber, dann stößt man auf einhellige Meinung, dass der Roman
"Esra" zwar von der Beziehung des Ich-Erzählers, der übereinstimmende Daten
mit dem Autor aufweist, mit der Romanfigur Esra handelt, die in einigen
Bezügen an die Klägerin zu 1) angelehnt ist, doch diese Beziehung vom Autor
aus eigener Sichtweise erzählt und als Mittel benutzt wird, um nicht nur
subjektive Befindlichkeiten hierin zum Ausdruck zu bringen, sondern um mit
dieser Rahmengeschichte zugleich in vielschichtiger Weise Themen
anzusprechen, die sich wiederum in den Reden und Verhaltensweisen der
Romanfiguren niederschlagen und diese prägen wie leiten. So wird darauf
verwiesen, dass im Roman selbst in Dialogen zwischen Esra und dem
Ich-Erzähler die Realitätswahrnehmung thematisiert und die Frage aufgeworfen
wird, ob Literatur, die Reales verarbeitet, als Wirklichkeit missverstanden
werden kann, und der Autor damit sich selbst und sein Wirken provozierend
hinterfragt, weshalb ein Kritiker das Buch "Esra" als verschlüsselten Roman
über das Problem des Schlüsselromans bezeichnet hat (vgl. Bernhard von
Becker, a.a.O., S. 84). Aufgezeigt wird, dass die realen Bezüge des Romans
im Hinblick auf Personen und Örtlichkeiten dem Autor nur dazu dienen, in
nahegehender Weise auf Konflikte hinzuweisen, die aus der
Individualisierung, Vereinsamung und aus kulturellen Differenzen herrühren,
um damit Zustände im Gemeinwesen wiederzuspiegeln, weshalb der Roman
beispielhaft für die nicht nur in Deutschland wachsende Literaturrichtung
des "Subjektiven Realismus" sei (vgl. Anja Ohmer,
Literaturwissenschaftliches Gutachten zu Esra von B., 2004,
unveröffentlicht, S. 31). Und anhand der jeweiligen Romanpassagen wird
schließlich nachgezeichnet, wie der Roman die Suche nach Identität in einer
multikulturellen Welt thematisiert, wie er das Thema des heutigen Umgangs
mit Medien zur Sprache bringt, wie der Autor selbstreflexiv seine Rolle und
sein Handeln betrachtet und dabei in die Geschichte durch Zitate und
Anspielungen literarische Bezüge einflicht, wobei die jeweiligen Botschaften
des Texts ganz unabhängig und losgelöst von der Kenntnis der Klägerinnen
seien (vgl. Michael Ansel, Buddenbrooks, Bilse und B.. Thomas Mann, der
Schlüsselroman und die Kunstfreiheit, Überarbeitete Fassung eines Vortrags,
gehalten 2007 an der Evangelischen Akademie Tutzing, S. 24). Bei alledem
kommt man aus literaturwissenschaftlicher Sicht übereinstimmend zu dem
Schluss, dass der Roman "Esra" weder Erfahrungswelten reproduziert noch
Autobiographisches darstellt, sondern einer literaturästhetischen
Programmatik folgt und eine narrative Konstruktion, ein Roman ist (vgl.
Christian Eichner, York-Gothart Mix, Ein Fehlurteil als Maßstab? Zu B.'s
Esra, Klaus Mann's Mephisto und dem Problem der Kunstfreiheit in der
Bundesrepublik, unveröffentlichtes Gutachten, Düsseldorf, Marburg 2007, S.
5).
124
Dies bestätigt nicht nur unser Verständnis des Buchs, sondern führt dazu,
dass auch im Hinblick auf die Klägerin zu 1) eine Persönlichkeitsverletzung
weder ersichtlich ist noch angenommen werden kann. Für uns bleibt richtig,
was die Richterin Rupp-v. Brünneck in ihrem damaligen Sondervotum zur
Mephisto-Entscheidung zu der Grenze ausgeführt hat, die um des
Persönlichkeitsschutzes willen auch der Kunstfreiheit gezogen ist. Wird bei
einer Gesamtbetrachtung eines Romans offensichtlich, dass diese Kunstform
missbraucht wurde und lediglich eine Mogelpackung, ein Transportmittel ist,
um bestimmte Personen zu beleidigen, zu verleumden oder verächtlich
herabzuwürdigen, dann ist dies nicht mehr von der Kunstfreiheit gedeckt
(vgl. BVerfGE 30, 218 <224>). Eine solche Intention des Autors ist für uns
in dem Buch "Esra" nicht erkennbar und wird auch von
literaturwissenschaftlicher Seite nicht gesehen. Ist das Buch "Esra" demnach
ein Roman, dann hat sich in ihm Reales in Kunst aufgelöst. Damit kann aber
nicht mehr unterschieden werden, was Dichtung und was Wahrheit ist. "Denn
alles, was die Kunstwerke an Form und Materialien, an Geist und Stoff in
sich enthalten, ist aus der Realität in die Kunstwerke emigriert und in
ihnen seiner Realität entäußert"; dieser Aussage von Adorno (Ästhetische
Theorie, Hrsg. Rolf Tiedemann, Frankfurt 1990, S. 158) schließen wir uns an.
Das sich auf eine Persönlichkeitsverletzung der Klägerinnen zu 1) und 2)
stützende, von den Gerichten in den angegriffenen Entscheidungen
ausgesprochene Verbot des Buchs "Esra" ist deshalb ein verfassungswidriger
Eingriff in die von Art. 5 Abs. 3 GG geschützte Kunstfreiheit des Autors und
des Beschwerdeführers.
Abweichende Meinung 2
125
Die Entscheidung des Senats trägt der Kunstfreiheit stärker Rechnung als die
sogenannte Mephisto-Entscheidung (BVerfGE 30, 173). Diese forderte zwar bei
der rechtlichen Bewertung der Wirkungen eines Kunstwerks die
Berücksichtigung kunstspezifischer Gesichtspunkte, ließ dies aber nicht
hinreichend folgenreich werden; insbesondere die jetzt vom Senat anerkannte
Vermutung für die Fiktionalität eines literarischen Textes wurde nicht
zugrundegelegt. Der Senat macht jetzt ferner deutlich, dass die
Erkennbarkeit einer Person im Roman selbst dann, wenn der Person negative
Züge zugeschrieben werden, nicht als Grundlage einer
Persönlichkeitsverletzung ausreicht. Vielmehr muss unter Berücksichtigung
der Vermutung der Fiktionalität nachgewiesen sein, dass der Autor dem Leser
nahelegt, die dargestellten Ereignisse seien tatsächlich geschehen oder die
dieser Person zugeschriebenen Eigenschaften kämen ihr tatsächlich zu.
126
Ungeachtet dieser anzuerkennenden Fortentwicklungen des Schutzes durch Art.
5 Abs. 3 GG überzeugen mich einzelne Elemente der rechtsdogmatischen
Argumentation (1) sowie die Anwendung der Grundsätze auf den konkreten Fall
nicht (2). An meine Fragen und Kritik anschließend versuche ich zu
erläutern, warum die Mehrheit von ihrem Ausgangspunkt aus Gefahr läuft, die
Besonderheit von Kunstwerken und ihres Schutzes zu verfehlen (3).
127
Zutreffend sieht die Mehrheit des Senats in dem gerichtlichen Verbot der
Veröffentlichung des Romans einen Eingriff in die Kunstfreiheit.
Demgegenüber überzeugen die Ausführungen dazu, dass dieser Eingriff
teilweise gerechtfertigt ist, mich verfassungsrechtlich nicht. Ergänzend zu
der abweichenden Meinung der Richterin Hohmann-Dennhardt und des Richters
Gaier merke ich an:
128
1. a) Anders als der Bundesgerichtshof, dem die Erkennbarkeit einer
bestimmten Person als Vorbild für eine Romanfigur für die Bejahung einer
Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts (er spricht von einem "Eingriff")
ausreicht, geht die Mehrheit zutreffend davon aus, dass die Erkennbarkeit
zunächst nur die Betroffenheit einer Person ergibt. Betroffenheit - als
erste Stufe der Prüfung - ist eine notwendige, aber nicht hinreichende
Bedingung der Möglichkeit einer Persönlichkeitsverletzung.
129
b) Wird die Erkennbarkeit bejaht, fordert die Senatsmehrheit für die zweite
Stufe die Feststellung, die Betroffenheit dürfe nicht so geringfügig sein,
dass das Persönlichkeitsrecht von vornherein hinter die Kunstfreiheit
zurücktreten muss. Dies deutet auf einen Bagatellvorbehalt hin: nur eine
Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts von einer gewissen Schwere kommt
überhaupt als Grundlage einer Beschränkung der Kunstfreiheit in Betracht.
130
c) Da die Mehrheit im konkreten Fall davon ausgeht, dass die Bagatellhürde
genommen ist, wird auf der dritten Stufe die Wechselwirkung zwischen
Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz thematisiert. Hier wird erneut die
gleiche Formel wie auf der zweiten Stufe genutzt: Die Beeinträchtigung des
Persönlichkeitsrechts müsse so schwerwiegend sein, dass die Freiheit der
Kunst zurückzutreten habe. Insoweit ist allerdings offenbar eine schwerere
Beeinträchtigung als auf der zweiten Stufe gemeint: Sie soll durch die
Abwägung mit der Kunstfreiheit im konkreten Fall bestimmt werden, ist also
grundsätzlich variabel.
131
Auf dieser dritten Stufe wird eine kunstspezifische Betrachtung gefordert (C
II 3 a). Sie soll insbesondere dazu dienen, den Bereich des Fiktionalen zu
bestimmen. Dementsprechend lässt die Mehrheit eine Vermutung für die
Fiktionalität sprechen, wenn ein literarisches Werk sich als Roman ausweist
und dieser - ungeachtet der Nutzung realer Personen als Vorbilder -
erkennbar keinen Faktizitätsanspruch erhebt, also nicht etwa ein bloßer
Sachbericht ist, der fälschlicherweise als Roman etikettiert wird. Auch wenn
der Roman "neben seiner ästhetischen Realität zugleich in den Realien"
wirke, dürfe nicht allein auf die möglichen Wirkungen in diesen Realien
abgestellt werden; vielmehr müsse eine Lösung in einer Abwägung gefunden
werden. Dabei bezieht sich die Vermutung der Fiktionalität nicht nur auf die
dargestellten Personen, sondern auch auf die geschilderten Geschehnisse,
Charaktereigenschaften oder ähnliches.
132
d) Die Bedeutung einer Zuordnung zum Fiktionalen wird von der Senatsmehrheit
allerdings auf einer vierten Prüfungsstufe teilweise wieder zurückgenommen
(C II 3 c). Bei einer hohen Intensität der Persönlichkeitsverletzung - im
konkreten Fall werden die Darstellungen zum Intim- und Sexualbereich sowie
über die Krankheit des Kindes hier eingeordnet (C II 4 b) - greift die
Vermutung des Fiktionalen nicht mehr. Stattdessen gilt ein Gebot, sich umso
mehr um die Fiktionalisierung des Vorbilds zu bemühen, je stärker die
betroffene Persönlichkeitsdimension geschützt ist. Allerdings soll die
Darstellung des Sexuallebens einer durch Tatsachen als Vorbild erkennbaren
Person, die "mehr oder weniger unmittelbar der Wirklichkeit entnommen" sind,
stets unzulässig sein, weil die Person es nicht hinzunehmen habe, "dass sich
Leser die durch den Roman nahegelegte Frage stellen, ob sich die dort
berichteten Geschehnisse auch in der Wirklichkeit zugetragen haben". Für
solche Inhalte gibt es also praktisch keine Vermutung des Fiktionalen,
sondern ein grundsätzliches Verbot, wenn nicht hinreichend sicher ist, dass
es um Fiktionalität geht. Auch das Bemühen um Fiktionalisierung (die
Mehrheit spricht auch von "Verfremdung") - hinsichtlich der Person oder
hinsichtlich der geschilderten Geschehnisse - reicht insofern nicht, wie die
weitere Argumentation der Mehrheit für den Fall ergibt, dass es sich um eine
vom Autor aus "unmittelbarem Erleben stammende, realistische und
detaillierte Erzählung der Geschehnisse" handelt, insbesondere um die genaue
Schilderung intimster Details der Frau, die deutlich als tatsächliche
Intimpartnerin des Autors erkennbar sei.
133
2. Ich habe zwar keinen Zweifel, dass es das Persönlichkeitsrecht verletzt,
wenn jemand - einerlei, ob aus unmittelbarem Erleben oder nicht -
realistisch und detailliert intimste Details des Verhaltens seiner
Sexualpartnerin anderen oder gar der Öffentlichkeit zugänglich macht.
Vorliegend aber ist gerade zweifelhaft und wird vom Autor bestritten, dass
er vergangenes Sexualgeschehen beschreiben wollte oder gar einen Sachbericht
darüber verfasst hat. Darauf geht die Mehrheit m. E. nicht in angemessener
Weise ein und erklärt die tatsächlichen Feststellungen der Fachgerichte
schlicht als zutreffend, die ihrerseits jedoch nicht von einer Vermutung des
Fiktionalen ausgegangen sind.
134
a) Wenn Art. 5 Abs. 3 GG gebietet, dass für die Kunstform des Romans die
Vermutung des Fiktionalen auch bei Erkennbarkeit eines konkreten Vorbilds
spricht und dies auch für die konkret geschilderten Ereignisse,
Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften gilt, ist nicht
nachvollziehbar, warum dies nicht auch Darstellungen über den Sexualbereich
umfasst. Kommt die Vermutung hier letztlich aber gar nicht zum Tragen,
bedeutet dies, dass die kunstspezifische Betrachtung insoweit aufgegeben
wird. Anders formuliert: Darstellungen von Sexualität sind nur als Kunst
geschützt, wenn ihre Fiktionalität - ohne dass insoweit eine darauf
gerichtete Vermutung angewandt wird - stärker nachgewiesen ist als sonst.
Dafür verwendet der Senat die in Leitsatz 4 enthaltene Je-desto-Formel (Je
mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des
Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung
sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen). Bei Geltung
einer solchen Je-desto-Formel ist es schwer, ein Geschehen mit Anklängen an
reale Vorgänge durch die künstlerische Transformation auf "eine zweite
Ebene" zu heben und dadurch in den Genuss der Kunstfreiheit zu kommen. Ein
Autor, der, wie vorliegend, die betroffene Person aus eigenem sexuellem
Erleben kennt, hat nach den Maßgaben der Mehrheit praktisch keine
Möglichkeit, die Darstellung von Sexualität so zu fiktionalisieren, dass der
verfassungsrechtliche Schutz greift.
135
Würde die mit der Notwendigkeit einer kunstspezifischen Betrachtung
begründete Vermutung der Fiktionalität demgegenüber auch hier zum Zuge
kommen können, wäre die Vermutung nicht schon dadurch widerlegt, dass
Geschlechtsverkehr detailliert und realistisch beschrieben wird - das kann
auch in einer fiktionalen Darstellung geschehen. Dass ein Autor, der auch
nach Auffassung der Mehrheit eine konkrete Person als Vorbild einer
Romanfigur nehmen darf, über das Verhalten oder die Eigenschaften einer
Person aus eigenem Erleben schreibt, indiziert selbst dann, wenn sie als
Intimpartner erkennbar ist, für sich allein nicht den Anspruch oder auch nur
eine Vermutung, dass das jeweils konkret Dargestellte ein Sachbericht über
ausgeübte Sexualpraktiken ist. Gleichwohl geht die Mehrheit dem Ergebnis
nach von der unwiderleglichen Vermutung des "Realen" aus, wenn ein Autor in
einem Roman einer erkennbaren Person, die er aus eigenem Intimleben kennt,
Intimszenen zuschreibt. Wie er die von der Mehrheit eröffnete Möglichkeit,
die Persönlichkeitsrechtsverletzung durch "Fiktionalisierung des Vorbilds"
auszuschließen, nutzen könnte, ist unerfindlich. Ist das Vorbild erkennbar,
käme nur eine Fiktionalisierung des dargestellten Geschehens in Betracht.
Das müsste vom Gericht gegebenenfalls überprüft werden. Angesichts der
Beweisschwierigkeiten hinsichtlich von Geschehnissen im Intimbereich
erscheint dies kaum möglich. Ein Weg wäre, jedenfalls die Vermutung des
Fiktionalen gelten zu lassen. Der Senat wendet sie vorliegend aber nicht an.
136
Im Gegensatz zum Vorgehen hinsichtlich Esra nutzt die Mehrheit die Vermutung
des Fiktionalen hinsichtlich der Schilderung von Lale und wendet sich gegen
den Einwand des Bundesgerichtshofs, die Beschwerdeführerin habe keinen
Wahrheitsbeweis angetreten, mit der Aussage, damit werde dem Künstler etwas
zugemutet, was er nach seinem Selbstverständnis nicht könne, weil er selbst
von der Fiktionalität der Schilderung ausgehe.
137
b) Warum dies in dem einen Fall gilt, in dem anderen aber nicht, ist nicht
nachvollziehbar. Dass der Autor bei Lale "mit Distanz" fremde Erzählungen,
Gerüchte und Eindrücke wiedergebe, bei Esra aber aus eigenem Erleben
schildere, kann - selbst wenn dieser Einschätzung der Mehrheit zu folgen
wäre - nicht den Ausschlag geben. Dass diese Differenz der Figur der
"kunstspezifischen Betrachtung" geschuldet sei, ist kaum anzunehmen. Da für
die Mehrheit von dieser Weichenstellung die Frage des Schutzes durch die
Kunstfreiheit abhängt, könnte die Differenz allenfalls im Zuge der Abwägung
mit der Schwere der Persönlichkeitsverletzung begründbar sein. Diese wird
aber - nach der sonstigen Rechtsprechung des Senats für Konflikte zwischen
Persönlichkeitsschutz und Meinungsfreiheit - üblicherweise nicht davon
abhängig gemacht, ob etwas die Persönlichkeit Verletzendes aus eigenem
Erleben oder als Resultat aus Erzählungen Dritter dargestellt wird.
138
c) Maßgebend soll offensichtlich sein, welcher Teil des
Persönlichkeitsrechts nachteilig betroffen ist. Dass die über Lale
aufgestellten Behauptungen - so unter anderem die, sie sei eine depressive,
psychisch kranke Alkoholikerin, die ihre Kinder vernachlässige, ihre Familie
tyrannisiere, von ihrem Mann geschlagen worden sei - die Persönlichkeit
weniger schwer betreffen als die Darstellung von Sexualpraktiken, liegt
jedenfalls nicht in einer Weise auf der Hand, dass der Unterschied es
rechtfertigt, in dem einen Fall die Garantie der Kunstfreiheit in Form der
Vermutung des Fiktionalen durchschlagen zu lassen, im anderen durch
Nichtanwendung der Vermutung aber nicht.
139
3. Die Schwierigkeiten der Mehrheit, der kunstspezifischen Betrachtung
Konturen zu geben und bei der Rechtsanwendung in eine in sich stimmige
rechtsdogmatische Konstruktion einzubinden, scheinen mir in dem begründet zu
sein, was die Mehrheit als Beschreibung von Wirklichkeit (Realien) und was
sie als Verarbeitung zu Kunst versteht. Dabei scheint sie von der
Vorstellung der Unterscheidbarkeit oder gar eines Gegenüber von Empirie und
künstlerischer Fiktion auszugehen. Die gleichwohl aus
Abwägungsschwierigkeiten entstehenden Dilemmata durch die Vermutung
zugunsten des Fiktionalen bewältigen zu wollen, mag in vielen Fällen
tragfähige Ergebnisse begründen helfen, taugt aber, wie die vorliegende
Konstellation zeigt, nicht immer, insbesondere dann nicht, wenn der Künstler
nicht ein Phantasieprodukt beschreibt, sondern intersubjektiv beobachtbares
Geschehen künstlerisch verarbeitet.
140
a) In Anlehnung an Ausführungen des Richters Stein im Minderheitenvotum der
Mephisto-Entscheidung meint die Mehrheit, die "Welt der Realität" sei durch
einen Maßstab zu erschließen, der sich grundlegend von dem
"kunstspezifischen, ästhetischen Maßstab" unterscheide, mit dem der Künstler
auf die Realität sehe. Diese Aussage lässt sich in dem vor allem im
Konstruktivismus (mit Unterschieden in seinen verschiedenen Varianten) näher
analysierten Umstand fundieren, dass die beobachtbare (Um)Welt erst durch
die Wahrnehmung des Beobachters "Realität" gewinnt, das heißt durch seine
Verarbeitung des Beobachteten, die er unter anderem auf der Grundlage
eigener Einsichten und Erfahrungen, früherer Beobachtungen und unter Nutzung
kultureller Werte vornimmt. Dabei sowie bei der Übersetzung des Beobachteten
in Sprache kommen ihm gesellschaftliche Konventionen zur Hilfe, die
Wirklichkeitsbilder kommunizierbar machen. Empirisches Wissen ist insofern
Wissen über das Erleben in der Welt. Alltagsweltliche Konventionen erlauben
ebenso wie spezifische professionelle Konventionen - wie beispielsweise die
in der Rechtsordnung anerkannten Regeln über das, was Tatsachen sind und wie
sie gerichtlich festgestellt werden und dann "gelten" - die intersubjektive
Verständigung über wechselseitig kompatible "Realitätskonstruktionen", kurz:
über "die Realität".
141
Wenn Richter Stein unter Billigung der Mehrheit davon spricht, dass ein
Kunstwerk eine "wirklichere Wirklichkeit" anstrebt, nämlich eine, "in der
die reale Wirklichkeit auf der ästhetischen Ebene zu einem neuen Verhältnis
zum Individuum bewusster erfahren wird" (BVerfGE 30, 200 <204>), dann spielt
dies auf den Umstand an, dass die für den jeweiligen Künstler maßgebenden
Konstruktionen von Realität üblicherweise anderen Konventionen, etwa den als
"ästhetisch" bezeichneten, folgen als die der alltagsweltlich
kommunizierenden Bürger und dass Künstler mit je eigenen Werten,
Erfahrungen, Perspektiven oder Selektivitäten beobachten und beschreiben und
das Beobachtete in Form eines Kunstwerks kommunizierbar zu machen suchen.
142
Wenn Art. 5 Abs. 3 GG die Freiheit der Kunst besonders schützt, dann
bedeutet dies Schutz der Freiheit zur "kunstspezifischen" Konstruktion von
Wirklichkeit. Insoweit gibt es allerdings keine allgemeingültigen Regeln
oder Konventionen über das, was Kunst oder Kunstspezifisches ist. Kunst
erfindet die Art der Konstruktion von Realität immer neu, stellt den Maßstab
des Ästhetischen immer wieder in Frage und bestimmt ihn variierend. Viele
Kunstwerke zielen auf Überschreitungen bisher anerkannter Grenzen und die
Künstler beteiligen sich an Entgrenzungen und Vermischungen hinsichtlich
tradierter oder neu entwickelter Kategorien.
143
b) Wird die auch von der Mehrheit grundsätzlich akzeptierte Notwendigkeit
einer kunstspezifischen Betrachtung auf die Art der
Wirklichkeitskonstruktionen durch Künstler in Kunstwerken bezogen, so können
davon verschiedene der für Juristen wichtigen Phänomene betroffen sein. So
können Erscheinungen, die jedermann, also auch ein "Alltagsbeobachter",
wahrnehmen und sich über sie mit anderen Alltagsbeobachtern intersubjektiv
verständigen kann, von einem Künstler in seinem Referenzfeld völlig anders
beobachtet und beschrieben werden. Eine derartige Art der Beobachtung und
Beschreibung meint die Mehrheit offenbar, wenn sie - hinsichtlich Lale -
davon spricht, die Schilderung besitze "eine zweite Ebene" hinter "der
realistischen Ebene", der Schilderung des Verhaltens von realen Personen an
realen Schauplätzen.
144
Davon graduell (nicht prinzipiell) zu trennen ist eine künstlerische
Darstellung, die gar nicht ein auch von anderen beobachtbares Geschehen
beschreiben oder nach ästhetischen Prinzipien kunstspezifisch abbilden will,
sondern die sich - gewissermaßen als Produkt von Phantasie des Künstlers -
von konkret Beobachtbarem ablöst, wenn auch gegebenenfalls in der
Verarbeitung und Beschreibung auf Einsichten und Erfahrungen aus früheren
Beobachtungen zurückgreift und den Eindruck erweckt, das Beschriebene könne
einem Geschehen gelten, das auch durch andere beobachtbar war. Jedenfalls
dieser zweite Typ ist gemeint, wenn von Fiktionalem gesprochen wird. Der
Charakter des Fiktionalen entfällt selbst dann nicht, wenn dem Autor
bescheinigt wird, er habe mit seinem fiktionalen Produkt "die Wahrheit"
getroffen. Gemeint ist dann meist, dass er etwas Typisches oder
Allgemeingültiges erfasst hat.
145
Die Kunstfreiheit erstreckt sich aber unstreitig nicht nur auf Darstellungen
derartiger "Phantasieprodukte", sondern auch auf künstlerische
Verarbeitungen von intersubjektiv beobachtbarem und kommunizierbarem
Realgeschehen. Darüber hinaus erstreckt sie sich auch auf Zwischenformen,
also Kombinationen und Vermischungen von künstlerischen Bearbeitungen der
intersubjektiv beobachtbaren Sachverhalte mit "Produkten der Phantasie".
146
c) Diese Vielfalt künstlerischen Schaffens und die Notwendigkeit der
Herausarbeitung sie berücksichtigender Schutzdimensionen drohen aus dem
Blick zu geraten, wenn der Schutz des Künstlerischen letztlich auf das
Fiktionale begrenzt und ein Kunstwerk rechtlich unter der Annahme eines
Entweder-Oder von Fiktion oder Empirie (Realien) bewertet wird. Damit droht
die Eigenständigkeit des Umgangs mit Beobachtbarem in der Kunst - der
künstlerischen Konstruktion von Wirklichkeit - verloren zu gehen. Dieses
Risiko wird auch nicht vermieden, wenn die Intensität und Reichweite des
Schutzes der Kunstfreiheit - wie es die Mehrheit befürwortet - von dem Grad
der Fiktionalität abhängig gemacht wird. Eine Operationalisierung unter
Rückgriff auf das Überwiegen des Fiktionalen mag als juristisches
Hilfsmittel taugen, um intersubjektiv Beobachtbares von "Phantasieprodukten"
unterscheiden zu können, nicht aber, um die besondere Art der künstlerischen
Verarbeitung eines intersubjektiv beobachtbaren Geschehens zu
berücksichtigen. Die künstlerische Verarbeitung eines solchen Geschehens in
einer romanhaften Darstellung - in der Sprache der Mehrheit unter
Herausarbeitung einer "zweiten Ebene" - macht es nicht zur Fiktion, wohl
aber zum Kunstwerk. Dann muss auch insoweit eine Vermutung zugunsten des
Künstlerischen gelten. Die Redeweise von der Vermutung der "Fiktionalität"
droht diese Dimension des Schutzbedarfs zu verschütten, es sei denn, sie
werde im weiten Sinne verstanden, der auch den künstlerischen Umgang mit
intersubjektiv beobachtbarem Geschehen umfasst. Dann darf vom Künstler aber
nicht verlangt werden, das Geschehen zu "fiktionalisieren", wenn dies so zu
verstehen sein sollte, dass er die von ihm künstlerisch verarbeiteten Fakten
verändern oder unkenntlich machen, "falsche Fährten" legen soll oder
ähnliches. Was die Mehrheit unter Fiktionalisierung versteht, wird
jedenfalls nicht so deutlich, dass ein Autor handhabbare Maßstäbe vorfindet.
Die Mehrheit meint, er könne "die Identifizierbarkeit verringern" - sie
bleibt dann aber offenbar bestehen - und er könne die
persönlichkeitsrechtsverletzenden Teile des Romans wegfallen lassen: Wann
aber kann eine "ästhetische Realität" (verstanden als kunstspezifische
Konstruktion von Wirklichkeit) Persönlichkeitsrechte überhaupt verletzen?
147
d) Wenn der Schutz durch die Kunstfreiheit trotz dieser Einwände vom Grad
der Fiktionalität abhängig gemacht wird, müsste es jedenfalls darauf
bezogene Beweisgrundsätze oder Grundsätze der Widerlegung der Vermutung
geben. Die Mehrheit erkennt insoweit die Untauglichkeit der Grundsätze
juristischer Beweisbarkeit, als sie hinsichtlich der Darstellung von Lale
würdigt, der Autor habe Grenzen verwischen lassen und mit der Verschränkung
von Wahrheit (offenbar gemeint im Sinne eines intersubjektiv beobachtbaren
Geschehens) und Fiktion (offenbar gemeint als Zugaben der Phantasie)
gespielt, und wenn die Mehrheit zusätzlich meint, es sei dem Autor nicht
zumutbar, dann, wenn er keine Reportage habe schreiben wollen, etwas
beweisen zu müssen, was er als fiktional ansieht. Es kann hinzugefügt
werden: Was den Anspruch des Fiktionalen erhebt, kann auch
Persönlichkeitsrechte anderer nicht verletzen.
148
Schwieriger ist die Zuordnung, wenn der Künstler ein auch von Dritten
beobachtbares Geschehen als Ausgangspunkt seiner Beschreibung wählt, aber
aufgrund seiner besonderen Sichtweise als Künstler und/oder aufgrund des
Hinzufügens weiterer, "der Phantasie" entsprungener, aber wie beobachtbares
Geschehen dargestellter Handlungen oder Charaktereigenschaften nicht im
Einzelnen erkennen lässt, inwieweit er Beobachtbares abbildet und wie weit
er künstlerische "Zugaben" durch die Art der Beobachtung und Beschreibung
oder gar durch frei Erdachtes vornimmt.
149
Die Senatsmehrheit hat hinsichtlich der Darstellung von Esra keinen Versuch
unternommen, hierzu differenzierend Feststellungen zu treffen. Vielmehr wird
aus Indizien (wie: Schilderung eigenen Erlebens des Ich-Erzählers,
realistische und detaillierte Erzählung) geschlossen, der Autor habe ein
grundsätzlich auch von Dritten beobachtbares Geschehen geschildert und
insofern dem Leser nahegelegt, er schildere tatsächliches Geschehen. Seine
im Verfahren erfolgten gegenteiligen Darlegungen werden ebenso wenig einer
Erörterung für Wert befunden wie die verschiedenen veröffentlichten
literaturwissenschaftlichen Expertisen - also kunstspezifische Analysen -
des hier streitgegenständlichen Textes. Es drängt sich daher der Eindruck
auf, es sei der Gegenstand - insbesondere die Schilderung von Details aus
dem Sexualbereich - der es ausschließt, Zugang zur Berücksichtigung des
Kunstspezifischen einer solchen Darstellung in einem Roman bei der Abwägung
zu suchen. Kurzgeschlossen wird die Möglichkeit verworfen, dass der Autor
auch bei diesem von ihm gewählten literarischen Gegenstand eine
kunstspezifische, ästhetische Realität "konstruiert" habe.
150
Die Vermutung der Fiktionalität wird ihm nicht zugutegehalten. Diese müsste
allerdings in einem weiteren Sinne verstanden werden, um sie auf die hier
maßgebende Konstellation erstrecken zu können. Wäre sie anzuwenden, müsste,
soweit einzelne Parallelen in dem Geschehen zu intersubjektiv Beobachtbarem
bestehen, gefragt werden, ob die künstlerische Verarbeitung dieses
Geschehens es derart in die von der Mehrheit als maßgebend betonte "zweite
Ebene" gehoben hat, dass der Künstler eine eigene, ästhetischen Regeln
folgende "neue Realität" konstruiert hat. Dies bedarf einer sachverständigen
Klärung, die auf literaturwissenschaftlichen Beistand grundsätzlich nicht
verzichten kann.
151
Zur Verdeutlichung, dass der Leser nicht von der Faktizität
(intersubjektiven Beweisbarkeit) des Erzählten ausgehen soll (C II 3 a),
kann es beitragen, wenn der Autor in dem Buch einen entsprechenden "disclaimer"
formuliert. Diesem kommt eigenständige Bedeutung zu, wenn sein Inhalt eine
Entsprechung in dem Roman selbst hat, er also nicht als Falschdeklaration
erscheint. Handelt es sich aber um eine Falschdeklaration, löst der Autor
also den durch die Wahl der Form des Romans gestellten eigenen Anspruch
einer künstlerischen Bearbeitung nicht ein, kommt ihm die Kunstfreiheit als
Schutz nicht zugute. Dabei ist es allerdings unglücklich, dass die Mehrheit
für das Gegenstück zum Kunstwerk den Begriff der "Schmähung" benutzt.
Jedenfalls ist der Begriff der "Schmähkritik" im Rahmen der Dogmatik zu Art.
5 Abs. 1 GG ein terminus technicus, der sich auf die rechtliche Einordnung
von Werturteilen bezieht und begrenzt und Fälle erfasst, in denen die
Wertung auch vom Standpunkt des Kritikers aus jeglicher Grundlage entbehrt
und auf persönliche Diffamierung abzielt. Geht es aber - wie im vorliegenden
Fall - um die Frage, ob eine Schilderung als intersubjektiv nachvollziehbare
Beschreibung tatsächlichen Geschehens oder als Fiktionales oder als
kunstspezifische Konstruktion von Realität einzuordnen ist, taugen solche
Kategorien nicht oder jedenfalls nur als grobe Indizien.
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