Postmortaler
Persönlichkeitsschutz und Freiheit der Kunst ("Mephisto-Beschluß")
BVerfG, Beschluß v. 24.02.1971 - 1
BvR 435/68
Fundstelle:
BVerfGE 30, 173
NJW 1971, 1645
Vgl. dazu BGHZ 50, 133;
BGH v. 21.6.2005 - VI ZR 122/04 sowie
BVerfG v. 13.6.2007 - 1 BvR 1783/05, NJW 2008, 39
Leitsätze:
a) Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist eine das Verhältnis
des Bereiches Kunst zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm.
Sie gewährt zugleich ein individuelles Freiheitsrecht.
b) Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft nicht
nur die künstlerische Betätigung, sondern auch die Darbietung
und Verbreitung des Kunstwerks.
c) Auf das Recht der Kunstfreiheit kann sich
auch ein Buchverleger berufen.
d) Für die Kunstfreiheit gelten weder
die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG noch die des Art. 2 Abs. 1 Halbsatz
2 GG.
e) Ein Konflikt zwischen der Kunstfreiheitsgarantie
und dem verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsbereich
ist nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung zu lösen;
hierbei ist insbesondere die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Würde
des Menschen zu beachten.
Aus den Gründen:
A. I. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen
das von dem Adoptivsohn und Alleinerben des verstorbenen Schauspielers
und Intendanten Gustaf Gründgens gegen die Beschwerdeführerin
erwirkte Verbot, das Buch „Mephisto, Roman einer Karriere" von KLAUS MANN
zu vervielfältigen, zu vertreiben und zu veröffentlichen.
Der Autor, der im Jahre 1933 aus Deutschland ausgewandert
ist, hat den Roman 1936 im Querido-Verlag, Amsterdam, veröffentlicht.
Nach seinem Tode im Jahre 1949 ist der Roman 1956 im Aufbau-Verlag in Ost-Berlin
erschienen.
Der Roman schildert den Aufstieg des hochbegabten
Schauspielers Hendrik Höfgen, der seine politische Überzeugung
verleugnet und alle menschlichen und ethischen Bindungen abstreift, um
im Pakt mit den Machthabern des nationalsozialistischen Deutschlands eine
künstlerische Karriere zu machen. Der Roman stellt die psychischen,
geistigen und soziologischen Voraussetzungen dar, die diesen Aufstieg möglich
machten.
Der Romanfigur des Hendrik Höfgen hat der
Schauspieler Gustav Gründgens als Vorbild gedient. Gründgens
war in den zwanziger Jahren, als er noch an den Hamburger Kammerspielen
tätig war, mit Klaus Mann befreundet und mit dessen Schwester Erika
Mann verheiratet, von der er nach kurzer Zeit wieder geschieden wurde.
Zahlreiche. Einzelheiten der Romanfigur des Hendrik Höfgen - seine
äußere Erscheinung, die Theaterstücke, an denen er mitwirkte,
und ihre zeitliche Reihenfolge, der Aufstieg zum Preußischen Staatsrat
und zum Generalintendanten der Preußischen Staatstheater - entsprechen
dem äußeren Erscheinungsbild und dem Lebenslauf von Gründgens.
Auch an Personen aus der damaligen Umgebung von Gründgens lehnt sich
der Roman an.
… C. I. Die in bezug auf das Verfahren vor dem
OLG und dem BGH (vgl. NJW 1968, 1773)
erhobenen Rügen einer Verletzung des Anspruchs der Beschwerdeführerin
auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) sind nicht gerechtfertigt.
…
II. Soweit die angegriffenen Entscheidungen den
mit der Klage geltend gemachten Unterlassungsanspruch nach Maßgabe
der höchstrichterlichen Rechtsprechung in analoger Anwendung negatorischer
Zivilrechtsnormen für begründet erklärt haben, handelt es
sich um Anwendung einfachen Rechts, die vom BVerfG - da Willkür offensichtlich
ausscheidet - nicht nachgeprüft werden kann (BVerfGE 18, 85 [92 f.,
96 f.] = NJW 1964, 1715). Dasselbe gilt für die Frage, ob der
Kläger als Angehöriger des verstorbenen Gustaf Gründgens
zivilrechtliche Unterlassungsansprüche aus eigenem Recht oder aus
fortbestehenden Rechten des Verstorbenen geltend machen kann.
Jedoch hat das BVerfG zu prüfen, ob die angefochtenen
Entscheidungen der Gerichte bei der Anwendung bürgerlich-rechtlicher
Normen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung
der Grundrechte beruhen, deren Verletzung die Beschwerdeführerin gerügt
hat, oder ob das Auslegungsergebnis selbst die geltend gemachten Grundrechte
verletzt (BVerfGE 7, 198 [205 f.] = NJW 1958, 257; BVerfGE 21, 209
[216]). Soweit es um diese verfassungsrechtlichen Ausstrahlungswirkungen
geht, handelt es sich in erster Linie um die Tragweite der von der Beschwerdeführerin
in Anspruch genommenen verfassungsverbürgten Kunstfreiheit (Art. 5
Abs. 3 Satz 1 GG), sodann um das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art.
5 Abs. 1 GG), insbesondere um das Verhältnis dieser Grundrechte zu
dem geschützten Persönlichkeitsbereich, den die Urteile dem verstorbenen
Gustaf Gründgens nach Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG eingeräumt
haben.
III. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG erklärt die
Kunst neben der Wissenschaft, Forschung und Lehre für frei. Mit dieser
Freiheitsverbürgung enthält Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nach Wortlaut
und Sinn zunächst eine objektive, das Verhältnis des Bereiches
Kunst zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm. Zugleich gewährleistet
die Bestimmung jedem, der in diesem Bereich tätig ist, ein individuelles
Freiheitsrecht.
1. Der Lebensbereich „Kunst" ist durch die vom
Wesen der Kunst geprägten, ihr allein eigenen Strukturmerkmale zu
bestimmen. Von ihnen hat die Auslegung des Kunstbegriffs der Verfassung
auszugehen. Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist
die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen,
Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache
zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit
ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen,
die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen
wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär
nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der
individuellen Persönlichkeit des Künstlers.
Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft in gleicher
Weise den „Werkbereich" und den „Wirkbereich" des künstlerischen Schaffens.
Beide Bereiche bilden eine unlösbare Einheit. Nicht nur die künstlerische
Betätigung (Werkbereich), sondern darüber hinaus auch die Darbietung
und Verbreitung des Kunstwerks sind sachnotwendig für die Begegnung
mit dem Werk als einen ebenfalls kunstspezifischen Vorgang; dieser „Wirkbereich",
in dem der Öffentlichkeit Zugang zu dem Kunstwerk verschafft wird,
ist der Boden, auf dem die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG vor allem
erwachsen ist. Allein schon der Rückblick auf das nationalsozialistische
Regime und seine Kunstpolitik zeigt, daß die Gewährleistung
der individuellen Rechte des Künstlers nicht ausreicht, die Freiheit
der Kunst zu sichern. Ohne eine Erstreckung des personalen Geltungsbereichs
der Kunstfreiheitsgarantie auf den Wirkbereich des Kunstwerks würde
das Grundrecht weitgehend leerlaufen.
2. Wie weit die Verfassungsgarantie der Kunstfreiheit
reicht und was sie im einzelnen bedeutet, läßt sich ohne tieferes
Eingehen auf die sehr verschiedenen Äußerungsformen künstlerischer
Betätigung in einer für alle Kunstgattungen gleichermaßen
gültigen Weise nicht erschöpfend darstellen. Für die Zwecke
dieser Entscheidung bedarf es jedoch einer so weit ausgreifenden Erörterung
nicht, da die Instanzgerichte - in Übereinstimmung mit den Prozeßbeteiligten
und soweit ersichtlich mit dem Urteil aller kompetenten Sachverständigen
- dem hier zu beurteilenden Roman die Eigenschaft eines Kunstwerks mit
Recht zuerkannt haben. Es genügt deshalb, auf die spezifischen Gesichtspunkte
einzugehen, die bei der Beurteilung eines Werkes der erzählenden (epischen)
Kunst in Betracht kommen können, das an Vorgänge der historischen
Wirklichkeit anknüpft und bei dem deshalb die Gefahr eines Konfliktes
mit schutzwürdigen Rechten und Interessen der in dem Werk dargestellten
Personen gegeben ist.
Auch wenn der Künstler Vorgänge des
realen Lebens schildert, wird diese Wirklichkeit im Kunstwerk „verdichtet".
Die Realität wird aus den Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten
der empirisch-geschichtlichen Wirklichkeit gelöst und in neue Beziehungen
gebracht, für die nicht die „Realitätsthematik", sondern das
künstlerische Gebot der anschaulichen Gestaltung im Vordergrund steht.
Die Wahrheit des einzelnen Vorganges kann und muß unter Umständen
der künstlerischen Einheit geopfert werden.
Sinn und Aufgabe des Grundrechts aus Art. 5 Abs.
3 Satz 1 GG ist es vor allem, die auf der Eigengesetzlichkeit der Kunst
beruhenden, von ästhetischen Rücksichten bestimmten Prozesse,
Verhaltensweisen und Entscheidungen von jeglicher Ingerenz öffentlicher
Gewalt freizuhalten. Die Art und Weise, in der der Künstler der Wirklichkeit
begegnet und die Vorgänge gestaltet, die er in dieser Begegnung erfährt,
darf ihm nicht vorgeschrieben werden, wenn der künstlerische Schaffensprozeß
sich frei soll entwickeln können. Über die „Richtigkeit" seiner
Haltung gegenüber der Wirklichkeit kann nur der Künstler selbst
entscheiden. Insoweit bedeutet die Kunstfreiheitsgarantie das Verbot, auf
Methoden, Inhalte und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeit
einzuwirken, insbesondere den künstlerischen Gestaltungsraum einzuengen,
oder allgemein verbindliche Regeln für diesen Schaffensprozeß
vorzuschreiben. Für das erzählende Kunstwerk ergibt sich daraus
im besonderen, daß die Verfassungsgarantie die freie Themenwahl und
die freie Themengestaltung umfaßt, indem sie dem Staat verbietet,
diesen Bereich spezifischen künstlerischen Ermessens durch verbindliche
Regeln oder Wertungen zu beschränken. Das gilt auch und gerade dort,
wo der Künstler sich mit aktuellem Geschehen auseinandersetzt; der
Bereich der „engagierten" Kunst ist von der Freiheitsgarantie nicht ausgenommen.
3. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG garantiert die Freiheit
der Betätigung im Kunstbereich umfassend. Soweit es daher zur Herstellung
der Beziehungen zwischen Künstler und Publikum der publizistischen
Medien bedarf, sind auch die Personen durch die Kunstfreiheitsgarantie
geschützt, die hier eine solche vermittelnde Tätigkeit ausüben.
Da ein Werk der erzählenden Kunst ohne die Vervielfältigung,
Verbreitung und Veröffentlichung durch den Verleger keine Wirkung
in der Öffentlichkeit entfalten könnte, der Verleger daher eine
unentbehrliche Mittlerfunktion zwischen Künstler und Publikum ausübt,
erstreckt sich die Freiheitsgarantie auch auf seine Tätigkeit. Die
Beschwerdeführerin als Verleger des Romans kann sich deshalb auf das
Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG berufen (vgl. auch BVerfGE 10, 118
[121] = NJW 1960, 29; BVerfGE 12, 205 [260] = NJW 1961, 547
zur Pressefreiheit).
4. Die Kunst ist in ihrer Eigenständigkeit
und Eigengesetzlichkeit durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos gewährleistet.
Versuche, die Kunstfreiheitsgarantie durch wertende Einengung des Kunstbegriffes,
durch erweiternde Auslegung oder Analogie auf Grund der Schrankenregelung
anderer Verfassungsbestimmungen einzuschränken, müssen angesichts
der klaren Vorschrift des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG erfolglos bleiben.
Unanwendbar ist insbesondere, wie auch der BGH
mit Recht annimmt, Art. 5 Abs. 2 GG, der die Grundrechte aus Art. 5 Abs.
1 GG beschränkt. Die systematische Trennung der Gewährleistungsbereiche
in Art. 5 GG weist den Abs. 3 dieser Bestimmung gegenüber Abs. 1 als
lex specialis aus und verbietet es deshalb, die Schranken des Abs. 2 auch
auf die in Abs. 3 genannten Bereiche anzuwenden. Ebensowenig wäre
es angängig, aus dem Zusammenhang eines Werkes der erzählenden
Kunst einzelne Teile herauszulösen und sie als Meinungsäußerungen
im Sinne des Art. 5 Abs. 1 GG anzusehen, auf die dann die Schranken des
Abs. 2 Anwendung fänden. Auch die Entstehungsgeschichte des Art. 5
Abs. 3 GG bietet keinen Anhalt für die Annahme, daß der Verfassunggeber
die Kunstfreiheit als Unterfall der Meinungsäußerungsfreiheit
habe betrachten wollen.
Die Äußerung des Abgeordneten v. MANGOLDT
in der Sitzung des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rats v. 5.
10. 1948, daß die Gewährleistung der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit
in unmittelbarer Verbindung mit der Freiheit der Meinungsäußerung
stehe (JÖR N. F. Bd. 1, 89 ff.), sollte die Stellung des damals noch
selbständigen Artikels unmittelbar hinter den Garantien der Meinungsfreiheit
erklären. Sie ging also gerade von der Selbständigkeit der Regelungsbereiche
aus. Von Bedeutung ist auch die Stellungnahme des Allgem. Redaktionsausschusses
v. 16. 12. 1948 (Parl.RatDrucks. 370), in der das Zensurverbot ausdrücklich
für das Theater mit der Begründung gefordert wurde, daß
durch den im Entwurf enthaltenen Art. 7 (dem jetzigen Art. 5 Abs. 3 GG)
die Freiheit des Theaters noch nicht garantiert werde, daß nicht
jede Theateraufführung Kunst zu sein brauche.
Zu berücksichtigen ist ferner, daß
für den Verfassunggeber auf Grund der Erfahrungen aus der Zeit des
NS-Regimes, das Kunst und Künstler in die völlige Abhängigkeit
politisch-ideologischer Zielsetzungen versetzt oder zum Verstummen gebracht
hatte, begründeter Anlaß bestand, die Eigenständigkeit
und Eigengesetzlichkeit des Sachbereichs Kunst besonders zu garantieren.
Abzulehnen ist auch die Meinung, daß die
Freiheit der Kunst gemäß Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG durch die
Rechte anderer, durch die verfassungsmäßige Ordnung und durch
das Sittengesetz beschränkt sei. Diese Ansicht ist unvereinbar mit
dem vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung anerkannten Verhältnis
der Subsidiarität des Art. 2 Abs. 1 GG zur Spezialität der Einzelfreiheitsrechte
(vgl. u.a. BVerfGE 6, 32 [36 ff.] = NJW 1957, 297; BVerfGE 9, 63
[73] = NJW 1959, 188; BVerfGE 9, 73 [77] = NJW 1959, 667; BVerfGE
9, 338 [343] = NJW 1959, 1579; BVerfGE 10, 55 [58] = NJW 1959,
1627; BVerfGE 10, 185 [199] = NJW 1960, 139; BVerfGE 11, 234 [238];
BVerfGE 21, 227 [234] = NJW 1967, 1315; BVerfGE 23, 50 [55 f.]),
das eine Erstreckung des Gemeinschaftsvorbehalts des Art. 2 Abs. 1 Halbsatz
2 auf die durch besondere Grundrechte geschützten Lebensbereiche nicht
zuläßt. Aus den gleichen Erwägungen verbietet sich, Art.
2 Abs. 1 GG als Auslegungsregel zur Interpretation des Sinngehalts von
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG heranzuziehen. Diese Schrankenregelung ist auch
nicht auf den „Wirkbereich" der Kunst anzuwenden.
5. Andererseits ist das Freiheitsrecht nicht schrankenlos
gewährt. Die Freiheitsverbürgung in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geht
wie alle Grundrechte vom Menschenbild des Grundgesetzes aus, d. h. vom
Menschen als eigenverantwortlicher Persönlichkeit, die sich innerhalb
der sozialen Gemeinschaft frei entfaltet (BVerfGE 4, 7 [15, 16] = NJW
1954, 1235; BVerfGE 7, 198 [205] = NJW 1958, 257; BVerfGE 24, 119
[144] = NJW 1968, 2233; BVerfGE 27, 1 [7] = NJW 1969, 1707).
Jedoch kommt der Vorbehaltlosigkeit des Grundrechts die Bedeutung zu, daß
die Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie nur von der Verfassung selbst zu
bestimmen sind. Da die Kunstfreiheit keinen Vorbehalt für den einfachen
Gesetzgeber enthält, darf sie weder durch die allgemeine Rechtsordnung
noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden, welche ohne verfassungsrechtlichen
Ansatzpunkt und ohne ausreichende rechtsstaatliche Sicherung auf eine Gefährdung
der für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendigen Güter
abhebt. Vielmehr ist ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender
Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter
Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch
Verfassungsauslegung zu lösen. Als Teil des grundrechtlichen Wertsystems
ist die Kunstfreiheit insbesondere der in Art. 1 GG garantierten Würde
des Menschen zugeordnet, die als oberster Wert das ganze grundrechtliche
Wertsystem beherrscht (BVerfGE 6, 32 [41] = NJW 1957, 297; BVerfGE
27, 1 [6] = NJW 1969, 1707). Dennoch kann die Kunstfreiheitsgarantie
mit dem ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsbereich
in Konflikt geraten, weil ein Kunstwerk auch auf der sozialen Ebene Wirkungen
entfalten kann.
Daß im Zugriff des Künstlers auf Persönlichkeits-
und Lebensdaten von Menschen seiner Umwelt der soziale Wert- und Achtungsanspruch
des Dargestellten betroffen sein kann, ist darin begründet, daß
ein solches Kunstwerk nicht nur als ästhetische Realität wirkt,
sondern daneben ein Dasein in den Realien hat, die zwar in der Darstellung
künstlerisch überhöht werden, damit aber ihre sozialbezogenen
Wirkungen nicht verlieren. Diese Wirkungen auf der sozialen Ebene entfalten
sich „neben" dem eigenständigen Bereich der Kunst; gleichwohl müssen
sie auch im Blick auf den Gewährleistungsbereich des Art. 5 Abs. 3
Satz 1 GG gewürdigt werden, da die „reale" und die „ästhetische"
Welt im Kunstwerk eine Einheit bilden.
6. Die Gerichte haben in diesem Zusammenhang mit
Recht zur Beurteilung der Schutzwirkungen aus dem Persönlichkeitsbereich
des verstorbenen Schauspielers Gründgens Art. 1 Abs. 1 GG wertend
herangezogen. Es würde mit dem verfassungsverbürgten Gebot der
Unverletzlichkeit der Menschenwürde, das allen Grundrechten zugrunde
liegt, unvereinbar sein, wenn der Mensch, dem Würde kraft seines Personseins
zukommt, in diesem allgemeinen Achtungsanspruch auch nach seinem Tode herabgewürdigt
oder erniedrigt werden dürfte. Dementsprechend endet die in Art. 1
Abs. 1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen
Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht
mit dem Tode.
Der BGH und das OLG erkennen darüber hinaus
auch nach Art. 2 Abs. 1 GG Ausstrahlungswirkungen für den zivilrechtlichen
Schutzbereich um die Person des verstorbenen Schauspielers Gründgens
an, wenn auch in einem durch sein Ableben bedingten eingeschränkten
Umfang. Die Fortwirkung eines Persönlichkeitsrechts nach dem Tode
ist jedoch zu verneinen, weil Träger dieses Grundrechts nur die lebende
Person ist; mit ihrem Tode erlischt der Schutz aus diesem Grundrecht. Das
Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG setzt die Existenz einer wenigstens potentiell
oder zukünftig handlungsfähigen Person als unabdingbar voraus.
Daran vermag auch die Erwägung des BGH nichts zu ändern, daß
die Rechtslage nach dem Tode für die freie Entfaltung der Person zu
ihren Lebzeiten nicht ohne Belang sei. Die Versagung eines Persönlichkeitsschutzes
nach dem Tode stellt keinen Eingriff dar, der die in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete
Handlungs- und Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt.
7. Die Lösung der Spannungslage zwischen
Persönlichkeitsschutz und dem Recht auf Kunstfreiheit kann deshalb
nicht allein auf die Wirkungen eines Kunstwerks im außerkünstlerischen
Sozialbereich abheben, sondern muß auch kunstspezifischen Gesichtspunkten
Rechnung tragen. Das Menschenbild, das Art. 1 Abs. 1 GG zugrunde liegt,
wird durch die Freiheitsgarantie in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ebenso mitgeprägt,
wie diese umgekehrt von der Wertvorstellung des Art. 1 Abs. 1 GG beeinflußt
ist. Der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Einzelnen ist ebensowenig
der Kunstfreiheit übergeordnet, wie sich die Kunst ohne weiteres über
den allgemeinen Achtungsanspruch des Menschen hinwegsetzen darf.
Die Entscheidung darüber, ob durch die Anlehnung
der künstlerischen Darstellung an Persönlichkeitsdaten der realen
Wirklichkeit ein der Veröffentlichung des Kunstwerks entgegenstehender
schwerer Eingriff in den schutzwürdigen Persönlichkeitsbereich
des Dargestellten zu befürchten ist, kann nur unter Abwägung
aller Umstände des Einzelfalles getroffen werden. Dabei ist zu beachten,
ob und inwieweit das „Abbild" gegenüber dem „Urbild" durch die künstlerische
Gestaltung des Stoffs und seine Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus
des Kunstwerks so verselbständigt erscheint, daß das Individuelle,
Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der „Figur"
objektiviert ist. Wenn eine solche das Kunstspezifische berücksichtigende
Betrachtung jedoch ergibt, daß der Künstler ein „Porträt"
des „Urbildes" gezeichnet hat oder gar zeichnen wollte, kommt es auf das
Ausmaß der künstlerischen Verfremdung oder den Umfang und die
Bedeutung der „Verfälschung" für den Ruf des Betroffenen oder
für sein Andenken an.
IV. Das BVerfG hat danach zu entscheiden, ob die
Gerichte der von ihnen vorgenommenen Abwägung zwischen dem durch Art.
1 Abs. 1 GG geschützten Persönlichkeitsbereich des verstorbenen
Gustaf Gründgens und seines Adoptivsohnes und der durch Art. 5 Abs.
3 Satz 1 GG gewährleisteten Kunstfreiheit den dargelegten Grundsätzen
Rechnung getragen haben. Bei der Entscheidung dieser Frage ergab sich im
Senat Stimmengleichheit. Infolgedessen konnte gemäß § 15
Abs. 2 Satz 4 BVerfGG nicht festgestellt werden, daß die angefochtenen
Urteile gegen das GG verstoßen.
1. Die Heranziehung des Art. 2 Abs. 1 GG durch
die Gerichte ist, wie oben dargelegt, zu Unrecht erfolgt. Dies ist jedoch
unschädlich, weil die in erster Linie gegebene Begründung aus
Art. 1 Abs. 1 GG die Entscheidung trägt.
2. Das OLG als letzte Tatsacheninstanz hat festgestellt,
bei Gründgens handle es sich um eine Person der Zeitgeschichte und
die Erinnerung des Publikums an ihn sei noch lebendig. Auf Grund dieser
Feststellungen sind das OLG und der BGH davon ausgegangen, daß der
Schutz des Achtungsanspruchs des verstorbenen Gründgens im sozialen
Raum noch fortdauere. Hierbei hat der BGH zutreffend berücksichtigt,
daß das Schutzbedürfnis - und entsprechend die Schutzverpflichtung
- in dem Maße schwindet, in dem die Erinnerung an den Verstorbenen
verblaßt und im Laufe der Zeit auch das Interesse an der Nichtverfälschung
des Lebensbildes abnimmt. Diese Anwendung des Art. 1 Abs. 1 GG ist nicht
zu beanstanden. Andererseits gehen die Gerichte davon aus, daß es
sich bei dem Roman des verstorbenen Klaus Mann um ein Kunstwerk im Sinne
des Art. 5 Abs. 3 GG handelt und daß sich auch die Beschwerdeführerin
auf dieses Grundrecht berufen kann. Hiernach haben die Gerichte die verfassungsrechtliche
erhebliche Spannungslage zwischen den durch die Art. 1 Abs. 1 und Art.
5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Bereichen erkannt. Sie haben deren
Lösung in einer Abwägung der widerstreitenden Interessen gesucht.
3. Das BVerfG geht in ständiger Rechtsprechung
davon aus, daß gerichtliche Entscheidungen auf eine Verfassungsbeschwerde
hin nur in engen Grenzen nachgeprüft werden können (BVerfGE 22,
93 [97] = NJW 1967, 1507), daß insbesondere die Feststellung
und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts
und seine Anwendung auf den einzelnen Fall allein Sache der dafür
allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das
BVerfG entzogen sind (BVerfGE 18, 85 [92] = NJW 1964, 1715]). Diese
Grundsätze gelten auch bei der Nachprüfung der hier in Rede stehenden
Abwägung zwischen den nach Art. 1 und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten
Bereichen zweier Parteien eines Zivilrechtsverhältnisses. Diese Abwägung
ist zunächst den zuständigen Gerichten im Rahmen der Anwendung
und Auslegung bürgerlich-rechtlicher Vorschriften aufgetragen. Die
Aufgabe des Zivilrichters besteht in derartigen Fällen darin, auf
Grund einer wertenden Abwägung der Umstände des Einzelfalles
- unter Beachtung des allgemeinen Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG)
- die Schranken des Grundrechtsbereichs der einen Partei gegenüber
demjenigen der anderen Partei zu konkretisieren. Das Grundrecht der jeweils
unterlegenen Partei ist nicht schon dann verletzt, wenn bei dieser dem
Richter aufgetragenen Abwägung widerstreitender Belange die von ihm
vorgenommene Wertung fragwürdig sein mag, weil sie den Interessen
der einen oder der anderen Seite zu viel oder zu wenig Gewicht beigelegt
hat (vgl. BVerfGE 18, 85 [93] = NJW 1964, 1715; BVerfGE 22, 93 [99
f.] = NJW 1967, 1507). Das BVerfG ist nicht befugt, seine eigene
Wertung des Einzelfalles nach Art eines Rechtsmittelgerichts an die Stelle
derjenigen des zuständigen Richters zu setzen. Es kann vielmehr in
derartigen Fällen eine Verletzung des Grundrechts der unterlegenen
Partei nur feststellen, wenn der zuständige Richter entweder nicht
erkannt hat. daß es sich um eine Abwägung widerstreitender Grundrechtsbereiche
handelt, oder wenn seine Entscheidung auf einer grundsätzlich unrichtigen
Anschauung von der Bedeutung des einen oder anderen der Grundrechte, insbesondere
vom Umfang ihrer Schutzbereiche, beruht.
Die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidungen
nach diesen Maßstäben ergibt: Das OLG und der BGH haben erkannt,
daß eine Spannungslage zwischen den durch Art. 1 Abs. 1 und Art.
5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Bereichen besteht und daß diese
durch eine Abwägung gelöst werden muß. Würdigt man
die angefochtenen Entscheidungen in ihrem Gesamtzusammenhang, so ist nicht
festzustellen, daß sie auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung
von der Bedeutung und vom Umfang des Schutzbereiches der beiden Grundrechte
beruhen. Insbesondere lassen die Entscheidungen keine fehlerhafte Auffassung
vom Wesen des bei der Abwägung unterlegenen Grundrechts, auf das sich
die Beschwerdeführerin beruft, erkennen. Die Gerichte haben nicht
allein auf die Wirkungen des Romans im außerkünstlerischen Sozialbereich
abgehoben, sondern auch kunstspezifischen Gesichtspunkten Rechnung getragen.
Sie haben eingehend und sorgfältig dargelegt, daß die Romanfigur
des Hendrik Höfgen in so zahlreichen Einzelheiten dem äußeren
Erscheinungsbild und dem Lebenslauf von Gründgens derart deutlich
entspreche, daß ein nicht unbedeutender Leserkreis unschwer in Höfgen
Gründgens wiedererkenne. Ob dies richtig ist, hat das BVerfG nicht
zu entscheiden; jedenfalls liegt darin die maßgebliche Wertung der
Tatsachen durch die Gerichte, daß das „Abbild" Höfgen gegenüber
dem „Urbild" Gründgens durch die künstlerische Gestaltung des
Stoffes und seine Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Romans
nicht so verselbständigt und in der Darstellung künstlerisch
transzendiert sei, daß das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten
des Allgemeinen, Zeichenhaften der „Figur" genügend objektiviert erscheine.
Die Gerichte haben auch eingehend erörtert, daß der Autor ein
grundlegend negatives Persönlichkeits- und Charakterbild des Höfgen
und damit des verstorbenen Gründgens gezeichnet habe, das in zahlreichen
Einzelheiten unwahr, durch erfundene, die Gesinnung negativ kennzeichnende
Verhaltensweisen - namentlich das erdichtete Verhalten gegenüber der
schwarzen Tänzerin - angereichert sei und verbale Beleidigungen und
Verleumdungen enthalte, die Gründgens durch die Person des Höfgen
zugefügt worden seien. Das OLG hat - vom BGH unbeanstandet - den Roman
als „Schmähschrift in Romanform" bezeichnet. Es gibt keine hinreichenden
Gründe, dieser von den Gerichten vorgenommenen Wertung entgegenzutreten,
daß der Autor ein negativ-verfälschendes Porträt des „Urbildes"
Gründgens gezeichnet habe.
Das von den Gerichten gefundene Ergebnis, daß
bei dieser Sach- und Rechtslage der Schutz aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG
gegenüber dem geltend gemachten Unterlassungsanspruch versage, kann
schließlich auch nicht mit der Erwägung in Frage gestellt werden,
der Erlaß des Veröffentlichungsverbots stehe außer Verhältnis
zu der zu erwartenden Beeinträchtigung des Achtungsanspruchs des verstorbenen
Gustaf Gründgens. Das BVerfG hat zwar wiederholt betont, daß
der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlichen
Rang hat (vgl. BVerfGE 19, 342 [348 f.] = NJW 1966, 243) und deshalb
bei allen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in den Freiheitsbereich
des Bürgers beachtet werden muß. Um einen derartigen Eingriff
handelt es sich hier jedoch nicht. Die Gerichte hatten lediglich einen
von dem einen gegen den anderen Bürger geltend gemachten zivilrechtlichen
Anspruch zu beurteilen, d. h. ein zivilrechtliches Rechtsverhältnis
im Einzelfall zu konkretisieren. Zur Beurteilung von Grund und Höhe
eines zivilrechtlichen Anspruchs, etwa eines Schadensersatzanspruchs, können
diejenigen Erfordernisse, die von Verfassungs wegen im Verhältnis
des Bürgers zum Staat bei Eingriffen in die Freiheitssphäre des
Einzelnen zu beachten sind, auch nicht entsprechend herangezogen werden.
Aufgabe des bürgerlichen Rechts ist es in erster Linie, Interessenkonflikte
zwischen rechtlich gleichgeordneten Rechtssubjekten möglichst sachgerecht
zu lösen. Demgemäß kann das BVerfG das durch die angefochtenen
Urteile ausgesprochene Veröffentlichungsverbot nur daraufhin nachprüfen,
ob Art. 3 Abs. 1 GG beachtet ist. Das ist zu bejahen. Die Gerichte haben
erwogen, ob die Veröffentlichung des Romans mit einem „klarstellenden
Vorwort" (eingeschränktes Veröffentlichungsverbot) zugelassen
werden könne; sie haben sich mit den Gründen, die nach ihrer
Ansicht für oder gegen ein absolutes oder ein eingeschränktes
Veröffentlichungsverbot sprechen, auseinandergesetzt und sich schließlich
für das Veröffentlichungsverbot entschieden. Die diesem Verbot
zugrunde liegenden Erwägungen sind nicht sachfremd und daher nicht
willkürlich.
V. Eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 5
Abs. 1 GG entfällt schon deshalb, weil diese Bestimmung mangels Vorliegens
einer Meinungsäußerung nicht anzuwenden ist. Künstlerische
Aussagen bedeuten, auch wenn sie Meinungsäußerungen enthalten,
gegenüber diesen Äußerungen ein aliud. Insoweit ist Art.
5 Abs. 3 Satz 1 GG gegenüber Art. 5 Abs. 1 GG eine lex specialis.
Ebensowenig ist für eine besondere Prüfung am Maßstab des
Art. 14 Abs. 1 und 3 GG Raum (vgl. BVerfGE 13, 290 [296] = NJW 1962,
437).
Abweichende Meinung des Bundesverfassungsrichters
DR. ... (hier nicht wiedergegeben)
<- Zurück mit dem "Back"-Button Ihres Browsers!
|