Analoge Anwendung von §
79 II 3 BVerfGG auf rechtskräftige Entscheidungen bei verfassungsgerichtlich
verworfener Auslegungsvariante des einfachen Rechts (Sittenwidrigkeit der
Mithaftung naher Angehöriger)
BVerfG vom 6.12.2005 - 1
BvR 1905/02
Fundstelle:
noch nicht bekannt
Amtl. Leitsatz:
Zur analogen Anwendung
des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG auf nicht mehr anfechtbare Entscheidungen,
die auf einer vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen verfassungskonformer
Auslegung als verfassungswidrig verworfenen Interpretationsvariante einer
Rechtsvorschrift oder auf der Auslegung und Anwendung unbestimmter
Gesetzesbegriffe beruhen, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar
mit dem Grundgesetz erklärt worden ist.
Zentrale Probleme:
In der hochinteressanten, mit einem abweichenden Votum
versehenen Entscheidung geht es um die Frage der analogen Anwendung von § 79
II S. 3 BVerfGG. Nach dieser Norm dürfen Entscheidungen nicht vollstreckt
werden, die auf für verfassungswidrig erklärten Normen beruhen. Hier ging es
aber um eine Entscheidung, die auf einer für verfassungswidrig erachteten
Auslegung einfachen Rechts zurückging (es geht um die berühmte
Bürgschaftsentscheidung des BVerfG und die Folgen in der Rspr. des BGH, die
hier auch resümiert wird). Die Mehrheitsmeinung sieht in der Nichtanwendung
von § 79 II S. 3 BVerfGG einen Verstoß gegen Art. 3 I GG (Gleichheitssatz).
Lesenswert ist aber insbesondere auch das abweichende Votum! S. aber auch
BGH, Urteil vom 26.
April 2006 - IV ZR 26/05 (keine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 580
ZPO).
©sl 2005
Gründe:
A. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob § 79 Abs. 2 Satz 3
des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht auch den Fall erfasst, dass
die zu vollstreckende Entscheidung eines Zivilgerichts auf der vom
Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Auslegung und
Anwendung einer zivilrechtlichen Generalklausel beruht.
I. 1. Mit Beschluss vom 19. Oktober 1993 (BVerfGE 89,
214) entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Zivilgerichte
verpflichtet sind, bei der Konkretisierung und Anwendung von Generalklauseln
wie § 138 und § 242 BGB die grundrechtliche Gewährleistung der
Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG zu beachten. Gegenstand der Entscheidung
waren unter anderem ein Urteil des Bundesgerichtshofs und die von diesem
wiederhergestellte Entscheidung eines Landgerichts. Darin war die damalige
Beschwerdeführerin zur Zahlung von 100.000 DM aus einem Bürgschaftsvertrag
verurteilt worden, den sie zugunsten ihres - zunächst als Immobilienmakler,
später als Reeder tätigen - Vaters mit einer Sparkasse abgeschlossen hatte.
Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses war die Bürgin 21 Jahre alt, überwiegend
arbeitslos und ohne Vermögen (vgl. ZIP 1989, S. 629).
Das Bundesverfassungsgericht hob das Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs
wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG auf. Dieser gewährleiste die
Privatautonomie als Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben. Dabei
bestehe weitgehend Einigkeit darüber, dass die Vertragsfreiheit nur im Fall
eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Vertragspartner als
Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs tauge und der Ausgleich
gestörter Vertragsparität zu den Hauptaufgaben des Zivilrechts gehöre. In
diesem Zusammenhang hätten die Generalklauseln des Bürgerlichen Gesetzbuchs
zentrale Bedeutung. Der Wortlaut des § 138 Abs. 2 BGB bringe das besonders
deutlich zum Ausdruck. Darin würden typische Umstände bezeichnet, die
zwangsläufig zur Verhandlungsunterlegenheit des einen Vertragsteils führten.
Nutze der überlegene Vertragsteil eine solche Schwäche aus, um seine
Interessen einseitig durchzusetzen, führe das zur Nichtigkeit des Vertrags.
Differenziertere Rechtsfolgen ergäben sich aus § 242 BGB. Nach der
Auffassung der Zivilrechtswissenschaft begründe der Grundsatz von Treu und
Glauben, der eine immanente Grenze vertraglicher Gestaltungsmacht bezeichne,
die Befugnis zu einer richterlichen Kontrolle des Inhalts von Verträgen.
Über Voraussetzungen und Intensität dieser Kontrolle bestehe zwar Streit.
Für die verfassungsrechtliche Würdigung genüge aber die Feststellung, dass
das geltende Recht Instrumente bereit halte, die es ermöglichten, auf
strukturelle Störungen der Vertragsparität angemessen zu reagieren.
Für die Zivilgerichte folge daraus die Pflicht, bei der Auslegung und
Anwendung der Generalklauseln darauf zu achten, dass Verträge nicht als
Mittel der Fremdbestimmung dienten. Sei der Inhalt eines Vertrags für eine
Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich
unangemessen, müssten sie klären, ob die vereinbarte Regelung eine Folge
strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist, und gegebenenfalls mit Hilfe
der zivilrechtlichen Generalklauseln korrigierend eingreifen. Wie sie dabei
zu verfahren hätten und zu welchem Ergebnis sie gelangen müssten, sei in
erster Linie eine Frage des einfachen Rechts, dem die Verfassung einen
weiten Spielraum lasse. Ein Verstoß gegen die Gewährleistung der
Privatautonomie komme aber dann in Betracht, wenn das Problem gestörter
Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mitteln
versucht werde. In dem hier zu beurteilenden Fall sei ein solcher Verstoß
gegeben. 2. Bei der Umsetzung
dieser Entscheidung gingen die für das Bürgschaftsrecht und den
Schuldbeitritt zuständigen Senate des Bundesgerichtshofs zunächst
unterschiedliche Wege (vgl. Fischer, WM 1998, S. 1749 <1750 ff., 1757 f.>;
Tonner, ZIP 1999, S. 901). Die Annäherung ihrer Rechtsprechung fand - im
Wesentlichen auf der Grundlage des § 138 BGB - schrittweise statt.
Inzwischen herrscht Einigkeit darüber, dass eine finanzielle Überforderung
von Bürgen, die dem Hauptschuldner als Ehegatte, Verwandter oder sonst
emotional verbunden sind und für diesen ohne eigenes Interesse an der
Kreditgewährung bürgen, nicht allein schon zur Sittenwidrigkeit im Sinne des
§ 138 Abs. 1 BGB führt. Es müssen vielmehr weitere, die
Entschließungsfreiheit des Bürgen beeinträchtigende und dem Kreditgeber
zurechenbare Umstände hinzutreten. Bei krasser finanzieller Überforderung
besteht allerdings eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass die
Bürgschaft nicht in realistischer Einschätzung des wirtschaftlichen Risikos,
sondern allein im Hinblick auf die emotionale Verbundenheit mit dem
Hauptschuldner übernommen und dies vom Kreditgeber in sittlich anstößiger
Weise ausgenutzt worden ist. Dabei geht die Rechtsprechung von einer krassen
finanziellen Überforderung aus, wenn der Bürge nach der Beurteilung im
Zeitpunkt der Bürgschaftsübernahme bei Eintritt des Sicherungsfalls
voraussichtlich nicht einmal die auf die Hauptschuld entfallenden laufenden
Zinsen aus dem pfändbaren Teil seines Einkommens und Vermögens wird
aufbringen können. Anderweitige Sicherheiten des Kreditgebers schließen die
Annahme einer krassen finanziellen Überforderung des Bürgen nur aus, wenn
sie das Haftungsrisiko für ihn auf ein rechtlich vertretbares Maß
beschränken (zu den Einzelheiten vgl. Nobbe/Kirchhof, BKR 2001, S. 5 <6
ff.>; Schimansky, WM 2002, S. 2437; Tiedtke, NJW 2003, S. 1359 <1360 f.>).
II. 1. Die Beschwerdeführerin des vorliegenden Verfahrens übernahm 1988
gegenüber der im Ausgangsrechtsstreit beklagten Bank zur Absicherung
mehrerer Darlehen ihres - später von ihr geschiedenen - Ehemanns eine
selbstschuldnerische Bürgschaft in Höhe von 200.000 DM. Sie widmete sich
damals ausschließlich der Haushaltsführung und der Erziehung der Kinder.
Nennenswertes Vermögen hatte sie nicht. 1991 kündigte die Bank die
Geschäftsverbindung zum Hauptschuldner, stellte ihre Gesamtforderung fällig
und nahm nach Verwertung anderer Sicherheiten die Beschwerdeführerin aus der
Bürgschaft in Höhe einer Restforderung von gut 70.000 DM in Anspruch. Da die
Beschwerdeführerin, die seit Ende 1990 von Sozialhilfe lebte, die Forderung
nicht erfüllen konnte, erhob die Bank Klage, der 1992, nachdem zuvor ein
Prozesskostenhilfegesuch der Beschwerdeführerin mit ausführlicher Begründung
zurückgewiesen worden war, durch rechtskräftig gewordenes Versäumnisurteil
stattgegeben wurde.
2. Nachdem 1993 die Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts
ergangen war und die Rechtsprechung der Zivilgerichte begonnen hatte, diese
Entscheidung umzusetzen (vgl. dazu oben unter A I 2), wandte sich die
Beschwerdeführerin im Ausgangsverfahren im Wege der
Vollstreckungsabwehrklage gegen die Vollstreckung aus dem Versäumnisurteil.
Das Landgericht erklärte die Zwangsvollstreckung nach § 767 ZPO in
Verbindung mit § 79 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht
(Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BVerfGG) in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) für unzulässig. Das
Oberlandesgericht wies die Klage dagegen auf die Berufung der beklagten Bank
ab (NJW-RR 2001, S. 139). Die Revision der Beschwerdeführerin gegen diese
Entscheidung hat der Bundesgerichtshof mit dem angegriffenen Urteil
zurückgewiesen (BGHZ 151, 316):
Die Revision mache zwar zu Recht geltend, dass der Bürgschaftsvertrag von
1988 auf der Grundlage der heutigen Rechtsprechung des IX. und des XI.
Zivilsenats des Bundesgerichtshofs wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1
BGB als nichtig anzusehen sei. Das im Vorprozess ergangene Versäumnisurteil
von 1992 habe aber damals mit der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats in
Einklang gestanden. Eine dem Bürgen günstige Änderung dieser Rechtsprechung
habe für die Öffentlichkeit erkennbar erst nach dem Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1993 eingesetzt. Die
Beschwerdeführerin könne sich nicht unter Berufung auf diese Entscheidung
gegen die Vollstreckung des Versäumnisurteils wenden.
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts enthalte keine Aussage, die die
Wirkungen des § 79 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG auslöse. Nach § 79 Abs. 1
BVerfGG sei die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ein rechtskräftiges
Strafurteil nicht nur im Fall einer für nichtig erklärten Norm (Alternative
2), sondern auch dann zulässig, wenn das Bundesverfassungsgericht die
Unvereinbarkeit einer Vorschrift mit dem Grundgesetz festgestellt
(Alternative 1) oder eine bestimmte Auslegung der Norm für grundgesetzwidrig
erklärt habe (Alternative 3). Die beiden zuletzt genannten Fälle erwähne §
79 Abs. 2 BVerfGG nicht.
Ob bei allen Entscheidungen außerhalb von Strafurteilen die
Vollstreckungssperre nur nach Nichtigerklärung einer Norm greife oder § 79
Abs. 2 Satz 3 BVerfGG sich auf alle in § 79 Abs. 1 BVerfGG enthaltenen
Alternativen beziehe, werde in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedlich
beurteilt. Im Gegensatz zur wohl überwiegenden Meinung, nach der § 79 Abs. 2
BVerfGG nur die Entscheidungen erfasse, die auf einer für nichtig erklärten
Norm beruhen, werde in den Kommentaren zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz
praktisch durchgängig die Auffassung vertreten, die weitere Vollstreckung
aus einem hoheitlichen Akt sei gemäß § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG auch dann
unzulässig, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Norm oder eine bestimmte
Normauslegung für mit dem Grundgesetz unvereinbar bezeichnet habe.
Selbst wenn § 79 Abs. 2 BVerfGG in diesem weiten Sinne verstanden werde,
erfasse er nicht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die
fachgerichtliche Entscheidungen nur wegen verfassungswidriger Anwendung
einer Rechtsnorm aufheben. Der Richter habe bei Auslegung und Anwendung
aller Rechtsvorschriften das verfassungsrechtliche Wertsystem als
interpretationsleitend zu berücksichtigen. Weise die gerichtliche
Entscheidung in dieser Hinsicht erhebliche Mängel auf, handele es sich nur
um verfassungsrechtlich bedeutsame Subsumtionsfehler, die vom
Bundesverfassungsgericht im Einzelfall korrigiert werden könnten. Solche
Entscheidungen ließen in der Regel den Bestand der einschlägigen Norm
unberührt. § 79 Abs. 2 BVerfGG setze demgegenüber normbezogene Erkenntnisse
des Verfassungsgerichts voraus und verbiete daher die Vollstreckung nur aus
solchen Entscheidungen, die auf einem Inhalt der Rechtsnorm beruhten, den
das Bundesverfassungsgericht im Wege der verfassungskonformen Auslegung
ausgeschlossen habe.
Eine solche Auslegung enthalte der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
vom 19. Oktober 1993 nicht. Er mache keine Vorgaben, wie § 765 BGB zu
verstehen sei oder die §§ 138, 242 BGB auszulegen seien, sondern beanstande
nur, dass sich der Bundesgerichtshof im vorausgegangenen Verfahren mit der
ausgeprägten Unterlegenheit der Bürgin und der von ihr geltend gemachten
Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfreiheit nicht in der gebotenen Weise
auseinander gesetzt habe. Das Bundesverfassungsgericht habe damit nur einen
verfassungsrechtlichen Fehler allgemeiner Art bei der rechtlichen Subsumtion
im konkreten Einzelfall festgestellt und darauf hingewiesen, die Gerichte
müssten in solchen Fällen klären, ob die vertragliche Regelung eine Folge
strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sei, und gegebenenfalls im Rahmen
der Generalklauseln des Zivilrechts korrigierend eingreifen. Wie sie dabei
zu verfahren hätten und zu welchem Ergebnis sie gelangen müssten, sei nach
der Aussage des Bundesverfassungsgerichts in erster Linie eine Frage des
einfachen Rechts, dem die Verfassung einen weiten Spielraum lasse.
Der Beschluss vom 19. Oktober 1993 besage mithin nichts darüber, ob und
unter welchen Voraussetzungen Bürgschaften wegen finanzieller Überforderung
des Verpflichteten als nichtig anzusehen seien. Die entsprechenden Kriterien
herauszuarbeiten, sei allein Aufgabe der Zivilgerichte gewesen. Das sei erst
in der Folgezeit geschehen. Dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
fehle damit eine normbezogene Aussage im Sinne des § 79 Abs. 2 BVerfGG.
III. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die
Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG.
Der Bundesgerichtshof habe die Bedeutung des § 79 Abs. 2 BVerfGG
verkannt. Er interpretiere den zentralen Begriff der Norm in dieser
Vorschrift als förmliche Rechtsvorschrift mit der Folge, dass das
Vollstreckungsverbot nach den Sätzen 2 und 3 nur gelte, wenn die so
verstandene Norm für nichtig erklärt worden sei. Im vorliegenden Fall sei
weder § 138 noch § 242 BGB für nichtig erklärt, sondern nur eine
Interpretation dieser Generalklauseln vorgenommen worden. Norm im Sinne von
§ 79 Abs. 2 BVerfGG sei aber nicht nur ein Gesetz im formellen Sinne. Es sei
letztlich unerheblich, ob es sich um ein formelles Gesetz oder um
Richterrecht handele.
Die §§ 138, 242 BGB seien infolge der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zu einzelnen Themenbereichen zu
Auffangvorschriften mit klaren Tatbestandsmerkmalen geworden. Daher müssten
insoweit auch die Auslegung und das Verständnis dieser Vorschriften so
gewertet werden, als handele es sich um Normen mit eindeutig bestimmbarem
Inhalt. Das gelte gerade für den Bereich der Ehegattenbürgschaft. Die
Auslegung der §§ 138, 242 BGB und die Rechtsfragen im Zusammenhang mit
solchen Bürgschaften seien durch die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts auf ein grundlegend neues Fundament gestellt
worden. Es sei dabei abstrakt-generell eine neue Rechtslage entstanden, die
für alle Fälle gleich zu behandeln sei. Bei der Korrektur der
fachgerichtlichen Rechtsprechung habe es sich nicht nur um eine
Einzelfallentscheidung gehandelt.
Die vom Bundesgerichtshof vertretene Rechtsauffassung verstoße auch gegen
den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Werde zwischen
Richterrecht und förmlichem Gesetzesrecht unterschieden, wie es infolge der
angegriffenen Entscheidung geschehe, werde ein im Wesentlichen gleich
gelagerter Sachverhalt ohne sachliche Rechtfertigung ungleich behandelt. Für
die Beschwerdeführerin sei es unerheblich, ob die übernommene Bürgschaft mit
der zugrunde liegenden gesetzlichen Regelung oder auf Grund der inzwischen
ständigen Rechtsprechung zu den §§ 138, 242 BGB nichtig sei.
Werde der mit der Verfassungsbeschwerde vorgetragenen Ansicht nicht gefolgt,
sei § 79 Abs. 2 BVerfGG wegen Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 3 GG
verfassungswidrig.
IV. Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium der Justiz, der
Bundesfinanzhof, das Bundessozialgericht und die Beklagte des
Ausgangsverfahrens Stellung genommen.
1. Das Bundesministerium hat mitgeteilt, dass es die Auffassung des
Bundesgerichtshofs zur Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG teile.
2. Der Bundesfinanzhof hat unter anderem auf sein Urteil vom 12. März 1965 (BFHE
82, 567) hingewiesen, nach dem aus § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG im Fall einer
durch das Bundesverfassungsgericht festgestellten verfassungswidrigen
Auslegung einer verfassungskonformen Bestimmung ein Vollstreckungsverbot
nicht hergeleitet werden könne. § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG enthalte eine
Ausnahme von der Regel des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Da der Bestand
unanfechtbar gewordener Entscheidungen, die auf einer nicht
verfassungskonformen Auslegung einfachen Rechts beruhten, auch durch eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der die verfassungswidrige
Auslegung festgestellt worden sei, nicht berührt werde, verbleibe es bei der
Regel, dass bei Vollzug und Vollstreckung einer Entscheidung im Hinblick auf
deren Rechtskraft ihr materieller Gehalt nicht mehr geprüft werde.
3. Das Bundessozialgericht hat ausgeführt, es folge bei der Auslegung des §
79 Abs. 2 BVerfGG der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass
dieser gleichermaßen die Feststellung der Nichtigkeit und der
Unvereinbarkeit einer Norm erfasse. Einbezogen habe es auch die Fälle, in
denen das Bundesverfassungsgericht eine einfachgesetzliche Vorschrift in
verfassungskonformer Weise ausgelegt habe (unter Hinweis auf BSGE 64, 62).
22
Für den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1993 (BVerfGE
89, 214) sei kennzeichnend, dass er eine Feinsteuerung der
Entscheidungswirkung nicht angeordnet, sondern alles Weitere einer Anwendung
des § 79 Abs. 2 BVerfGG überlassen habe. Dem Gebot der Gleichbehandlung
vergleichbarer Fallgestaltungen (Nichtigkeit - Unvereinbarkeit -
verfassungskonforme Auslegung) entspräche es jedoch, wenn das
Bundesverfassungsgericht im vorliegenden Verfahren zu dem Ergebnis gelangte,
dass § 79 Abs. 2 BVerfGG nach einer verfassungskonformen Auslegung von
Rechtsvorschriften durch das Bundesverfassungsgericht die Vollstreckung aus
Entscheidungen verhindere, die mit der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts nicht vereinbar seien. Jedenfalls dürfte dem
Konzept des § 79 Abs. 2 BVerfGG kaum entnommen werden können, dass Urteile
auch dann noch vollstreckt werden können, wenn ihre Geltung aus der Sicht
der geläuterten Rechtsprechung verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar
erscheine.
Allerdings habe das Bundesverfassungsgericht die Bürgschaftsentscheidung -
jedenfalls nach Auffassung des Bundesgerichtshofs - nicht entscheidend auf
eine verfassungsrechtliche Auslegung von Zivilrechtsnormen gestützt, sondern
eine Verkennung von Verfassungsgrundsätzen bei der Rechtsanwendung
beanstandet. Zutreffend sei auch, dass die Kriterien, nach denen der
Bundesgerichtshof in der angegriffenen Entscheidung den Bürgschaftsvertrag
als sittenwidrig angesehen habe, erst im Gefolge der
verfassungsgerichtlichen Bürgschaftsentscheidung vom Bundesgerichtshof
selbst entwickelt worden seien. Gleichwohl könnten der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtliche Maßgaben für die Auslegung
der §§ 138, 242 BGB entnommen werden, die für die Inhaltskontrolle von
Bürgschaftsverträgen bestimmend geworden seien.
Hätte das Bundesverfassungsgericht ein zivilgerichtliches Urteil, das den
Bürgschaftsvertrag der Beschwerdeführerin bestätigt hätte, ebenso aufgehoben
wie das von der Bürgschaftsentscheidung betroffene Urteil, könnte darin ein
Zeichen dafür gesehen werden, dass es hier nicht so sehr um
einzelfallbezogene Verfassungsverstöße gehe als vielmehr um eine
verfassungsgerichtliche Konkretisierung von bürgerlichrechtlichen
Generalklauseln, also in gewissem Sinne um eine verfassungskonforme
Auslegung. Dann wäre wohl auch die Vollstreckung aus dem Versäumnisurteil
von 1992 gehindert, nachdem der Bundesgerichtshof selbst die Bürgschaft der
Beschwerdeführerin gemäß § 138 Abs. 1 BGB als nichtig erkannt habe.
4. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde für
unbegründet. Das angegriffene Urteil beruhe auf einer zutreffenden Auslegung
des § 79 Abs. 2 BVerfGG. Nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift sei die
Vollstreckung nur unzulässig und die Vollstreckungsabwehrklage gemäß Satz 3
nur erfolgreich, wenn die zu vollstreckende Entscheidung auf einer gemäß §
78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhe. Das sei hier nicht der Fall.
Der Bundesgerichtshof habe zu Recht auch eine analoge Anwendung von § 95
Abs. 3 Satz 3 und § 79 Abs. 2 BVerfGG abgelehnt. § 79 Abs. 2 BVerfGG lasse
sich nicht auf Fälle erstrecken, in denen das Bundesverfassungsgericht - wie
hier - eine Gerichtsentscheidung nur wegen verfassungswidriger Anwendung
einer Norm aufgehoben habe, ohne dass dies auf einer verfassungswidrigen
Auslegung beruhe. Eine Erstreckung auch auf solche Fälle würde die
Rechtssicherheit unannehmbar beeinträchtigen und letztlich den Rechtsfrieden
in Frage stellen, weil ein Rechtsstreit niemals abgeschlossen wäre. Eine
analoge Anwendung werde auch nicht durch den Gleichheitssatz gefordert. Für
die Beschwerdeführerin stelle sich die Situation nicht anders dar, als wenn
der Bundesgerichtshof seine verfassungswidrige Rechtsprechung zu den
Ehegattenbürgschaften selbst korrigiert hätte. In diesem Fall stünde außer
Frage, dass § 79 Abs. 2 BVerfGG keine Anwendung finde und die
Vollstreckungsabwehrklage nicht darauf gestützt werden könne. Allein die
Tatsache, dass die Rechtsprechungsänderung durch das
Bundesverfassungsgericht erzwungen worden sei, rechtfertige keine andere
Wertung.
B. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Revisionsurteil
des Bundesgerichtshofs ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
I. Maßstab für die verfassungsgerichtliche Prüfung ist der allgemeine
Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Dieser gebietet es, Gleiches
gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln
(vgl.BVerfGE 71, 255 <271> ). Verboten ist es deshalb, Sachverhalte ungleich
zu behandeln, wenn sich die Differenzierung sachbereichsbezogen nicht auf
einen sachlich einleuchtenden Grund zurückführen oder im Hinblick auf Art
und Gewicht vorhandener Unterschiede nicht verfassungsrechtlich
rechtfertigen lässt (vgl.BVerfGE 93, 386 <397>; 108, 52 <67 f.> m.w.N.). Das
gilt nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für die Auslegung
gesetzlicher Vorschriften durch die Gerichte (vgl.BVerfGE 84, 197 <199>; 99,
129 <139>; 101, 239 <269> ). Dabei sind der Differenzierung auch hier umso
engere Grenzen gezogen, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die
Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl.BVerfGE
92, 53 <69>; 107, 133 <141>).
II. Nach diesen Grundsätzen kann das angegriffene Urteil keinen Bestand
haben. Es verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1
GG, weil es den Anwendungsbereich des § 79 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit
Satz 2 und Satz 1 BVerfGG in einer Weise einschränkt, die zu einer
verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung und durch
die Vollstreckung aus verfassungswidrigen Entscheidungen zu einer
Beeinträchtigung von Grundrechten führt.
1. § 79 BVerfGG regelt in seinen Absätzen 1 und 2 die Folgen von
Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, durch die eine
Rechtsnorm für verfassungswidrig erklärt wird, auf deren Grundlage
Entscheidungen ergangen sind, die schon rechtskräftig geworden oder auch
sonst nicht mehr anfechtbar sind. Da der Gesetzgeber bei Erlass des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes im Jahre 1951 (vgl. BGBl I S. 243 ) davon
ausging, dass die Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes
dessen Nichtigkeit mit Wirkung ex tunc sein würde (vgl. BTDrucks I/788, S.
34 zu § 72), sollten mit § 79 BVerfGG die Rechtsfolgen der Nichtigkeit im
Interesse des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit begrenzt werden (vgl.
dazu die Ausführungen der Abg. Dr. Wahl [CDU] und Neumayer [FDP] in der 112.
Sitzung des 1. Deutschen Bundestages am 18. Januar 1951, Sten. Ber., S. 4227
f., 4234 <B>, <C>, sowie schonBVerfGE 2, 380 <404 f.>; 7, 194 <195 f.>; 20,
230 <235>; 37, 217 <262>).
a) Das geschah vor allem durch die bis heute unverändert gebliebene
Vorschrift des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, in der als Grundsatz (vgl.BVerfGE
7, 194 <195>; 11, 263 <265> ) bestimmt ist, dass - vorbehaltlich des § 95
Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen gesetzlichen Regelung - nicht mehr
anfechtbare Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm
beruhen, unberührt bleiben, also in ihrer Existenz nicht mehr in Frage
gestellt werden sollen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz machte der
Gesetzgeber nur für das Strafrecht (vgl.BVerfGE 11, 263 <265>; 32, 387
<389>; 37, 217 <262> ). Niemand soll gezwungen sein, den Makel einer Strafe
auf sich lasten zu lassen, die auf einem verfassungswidrigen Strafgesetz
beruht. Deshalb hat der Gesetzgeber in § 79 Abs. 1 BVerfGG einen
zusätzlichen Wiederaufnahmegrund geschaffen (vgl.BVerfGE 12, 338 <340> ),
mit Hilfe dessen es dem Verurteilten möglich sein soll, diesen Makel nach
den Vorschriften der Strafprozessordnung durch Aufhebung oder Berichtigung
des auf verfassungswidriger Grundlage ergangenen Strafurteils zu beseitigen
(vgl.BVerfGE 15, 309 <312>). Nur in diesem Fall soll deshalb die Rechtskraft
der Entscheidung durchbrochen werden können.
Hinsichtlich aller sonstigen Hoheitsakte (Verwaltungsakte und
Gerichtsentscheidungen) verbleibt es dagegen bei dem Grundsatz des Satzes 1
von § 79 Abs. 2 BVerfGG (vgl.BVerfGE 15, 309 <312>; 37, 217 <262>; 81, 363
<384> ). Doch gilt für sie, soweit aus ihnen noch nicht vollstreckt worden
ist, das Verbot der Vollstreckung nach den Sätzen 2 und 3 der Vorschrift.
Dabei ist, wenn die Zwangsvollstreckung nach der Zivilprozessordnung
durchzuführen ist, § 767 ZPO entsprechend anzuwenden. Das
Bundesverfassungsgericht hat aus diesen Regelungen und aus Satz 4 des § 79
Abs. 2 BVerfGG den allgemeinen Rechtsgedanken abgeleitet, dass einerseits
zwar unanfechtbar gewordene Akte der öffentlichen Gewalt, die auf
verfassungswidriger Grundlage zustande gekommen sind, nicht rückwirkend
aufgehoben und die nachteiligen Wirkungen, die in der Vergangenheit von
ihnen ausgegangen sind, nicht beseitigt werden, andererseits jedoch
zukünftige Folgen, die sich aus einer zwangsweisen Durchsetzung
verfassungswidriger Entscheidungen ergeben würden, abgewendet werden sollen
(vgl.BVerfGE 20, 230 <236>; 37, 217 <263>; 91, 83 <90 f.>; 97, 35 <48>).
b) An dieser Zielrichtung und Systematik hat sich nichts dadurch geändert,
dass der Gesetzgeber mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über
das Bundesverfassungsgericht vom 21. Dezember 1970 (BGBl I S. 1765) § 79
Abs. 1 BVerfGG geändert und dieser Vorschrift ihre bis heute gültige Fassung
gegeben hat.
aa) Nach der Neufassung ist die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines
rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens nicht mehr - wie bis zum
In-Kraft-Treten des Änderungsgesetzes - auf den Fall beschränkt, dass das in
dem Strafverfahren ergangene Urteil auf einer vom Bundesverfassungsgericht
für nichtig erklärten Strafnorm beruht. Wiederaufnahmefähig sind vielmehr
jetzt ausdrücklich auch die Verfahren, in denen das rechtskräftige
Strafurteil auf der Grundlage einer Norm oder einer Normauslegung ergangen
ist, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz
erklärt worden ist.
Diese Regelung, die in dem von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf des
Änderungsgesetzes noch nicht enthalten war (vgl. BTDrucks VI/388, S. 3),
geht auf einen Vorschlag des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages
zurück. Der Ausschuss hielt die Gesetzesänderung für notwendig, weil - unter
den Strafgerichten in Verfahren gegen Kriegsdienstverweigerer (vgl. die
Ausführungen des Abg. Dr. Arndt [SPD] in der 81. Sitzung des 6. Deutschen
Bundestages am 2. Dezember 1970, Sten. Ber., S. 4597 <A>) - umstritten war,
ob auch dann ein Wiederaufnahmeverfahren möglich ist, wenn das
rechtskräftige Strafurteil auf der Auslegung einer Rechtsnorm beruht, die
vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden ist. Er
war der Auffassung, dass dieser Fall für die Wiederaufnahme des
Strafverfahrens der Nichtigerklärung einer Rechtsnorm gleichzusetzen sei.
Sachlich bestehe kein wesentlicher Unterschied darin, ob ein Strafurteil auf
einer verfassungswidrigen Rechtsanwendung oder auf einer verfassungswidrigen
Rechtsnorm beruhe. Nur der Klarstellung diene schließlich die ausdrückliche
Einbeziehung auch des Falles, dass eine Rechtsnorm vom
Bundesverfassungsgericht nicht für nichtig, sondern für unvereinbar mit dem
Grundgesetz erklärt worden sei (vgl. BTDrucks VI/1471, S. 6 zu Art. 1 Nr. 15
a).
bb) Dass diese Ergänzung im Gesamtkonzept des § 79 BVerfGG auf den
Ausnahmefall des Absatzes 1 beschränkt bleiben, also nicht auch den
Grundsatz des Absatzes 2 Satz 1 erfassen und damit auch nicht für die daran
anknüpfenden Vollstreckungsverbote der Sätze 2 und 3 gelten soll, lässt sich
den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Ein Grund für eine solche
Beschränkung ist auch sonst nicht erkennbar. Im Gegenteil wäre es geradezu
ungereimt, nur die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer für
nichtig erklärten Norm beruhen, nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG unberührt zu
lassen und sie lediglich den Vollstreckungsverboten gemäß § 79 Abs. 2 Satz 2
und 3 BVerfGG zu unterstellen, dagegen die anderen in § 79 Abs. 1 BVerfGG
neuer Fassung als rechtsähnlich angesehenen Fälle der Unvereinbarerklärung
und der verfassungswidrigen Auslegung schon vom Bestandsschutz des § 79 Abs.
2 Satz 1 BVerfGG auszunehmen. Es ist nach allem anzunehmen, dass die
Regelungslücke, die Absatz 2 des § 79 BVerfGG seinem Wortlaut nach im
Vergleich zu Absatz 1 seit dessen Änderung aufweist, vom Gesetzgeber nicht
erkannt wurde, als er der Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen
Bundestages zur Ausweitung des Absatzes 1 folgte, und dass sie, wenn der
Gesetzgeber sie erkannt hätte, so geschlossen worden wäre, dass das
Grundsatz-Ausnahmeverhältnis von Absatz 2 zu Absatz 1 in vollem Umfang
weiter gewahrt bleibt. Davon ist wie selbstverständlich auch das
Bundesverfassungsgericht ausgegangen, als es ausgesprochen hat, § 79 Abs. 2
BVerfGG sei analog anzuwenden, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht auf
Nichtigkeit einer Norm erkannt, sondern sich darauf beschränkt hat, deren
Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz festzustellen (vgl.BVerfGE 37, 217 <262
f.>; 81, 363 <384>).
Nichts anderes gilt, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht die Norm
selbst, sondern deren Auslegung für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt
hat. Wie im Rahmen des § 79 Abs. 1 BVerfGG (vgl. vorstehend unter B II 1 b
aa) macht es auch im Anwendungsbereich des § 79 Abs. 2 BVerfGG sachlich
keinen wesentlichen Unterschied, ob eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung
im Sinne dieser Regelung auf der verfassungswidrigen Auslegung einer
Rechtsnorm oder auf einer verfassungswidrigen Vorschrift beruht. Im ersten
Fall hat das Bundesverfassungsgericht, wenn von mehreren nach den
anerkannten Auslegungsgrundsätzen möglichen Deutungen des Norminhalts
wenigstens eine mit dem Grundgesetz übereinstimmt, die Norm als solche nicht
beanstandet, sie vielmehr verfassungskonform ausgelegt und nur die als
verfassungswidrig erkannte Interpretationsvariante verworfen (vgl. zur
verfassungskonformen Auslegung allgemein etwaBVerfGE 40, 88 <94>; 64, 229
<242>; 83, 201 <214 f.> ; speziell zum Zweck der Aufrechterhaltung eines aus
mehreren Teilen bestehenden, aufeinander abgestimmten Regelungssystems
auchBVerfGE 86, 288 <320 f.> ). Für die Zukunft bleibt diese Variante wie
die nichtige und die mit dem Grundgesetz nicht vereinbare Bestimmung in den
Fällen der Nichtig- und der Unvereinbarerklärung von der weiteren
Rechtsanwendung ausgeschlossen. Wenn dieser Umstand den Gesetzgeber -
ungeachtet der unterschiedlichen Rechtswirkungen nach § 31 Abs. 2 Satz 2 und
§ 31 Abs. 1 BVerfGG - im Rahmen des § 79 Abs. 1 BVerfGG bewogen hat, den
Fall der verfassungswidrigen Auslegung neben der Nichtig- und der
Unvereinbarerklärung in den Anwendungsbereich der Vorschrift aufzunehmen,
ist es zur Vermeidung einer inhaltlichen Widersprüchlichkeit und damit zur
Wahrung des Grundsatz-Ausnahmeverhältnisses der Absätze 2 und 1 von § 79
BVerfGG geboten, bei Satz 1 und den Anschlussregelungen in den Sätzen 2 und
3 des § 79 Abs. 2 BVerfGG genau so zu verfahren. § 79 Abs. 2 BVerfGG ist
deshalb analog auch dann anzuwenden, wenn eine nicht mehr anfechtbare
Entscheidung auf einer Auslegungsvariante beruht, deren
Verfassungswidrigkeit das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat.
c) Die Entscheidung zu B II 1 b ist mit 7 : 1 Stimmen ergangen.
2. Von der analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG und speziell seines
Satzes 3 können auch Entscheidungen nicht grundsätzlich ausgenommen werden,
durch welche die Zivilgerichte, wie in der Bürgschaftsentscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1993, angehalten werden, bei der
Auslegung und Anwendung von Generalklauseln und sonstigen
auslegungsbedürftigen Regelungstatbeständen des bürgerlichen Rechts die
jeweils einschlägigen Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen,
damit deren wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene
gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 <205 ff.>; 99, 185 <196>). Zwar bestehen
zwischen dieser Art, die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das
einfache Recht durchzusetzen, und den Fällen, in denen das
Bundesverfassungsgericht den Fachgerichten die verfassungskonforme Auslegung
einer Regelung vorgibt, Unterschiede. Sie sind jedoch im Hinblick auf den
Grundrechtsschutz nicht von solcher Art und solchem Gewicht, dass sie die
Ungleichbehandlung derjenigen, die von Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts der einen oder der anderen Art betroffen werden,
rechtfertigen könnten. Vielmehr sind die beiden Fallkonstellationen einander
hinsichtlich der Gewährung von Grundrechtsschutz so ähnlich, dass sie im
Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz gleich behandelt werden müssen.
a) Dies gilt allerdings nur, wenn das Bundesverfassungsgericht, anders als
der Bundesgerichtshof im angegriffenen Urteil annimmt, wie in der
Bürgschaftsentscheidung vom 19. Oktober 1993 nicht nur die Verfehlung
verfassungsrechtlicher Vorgaben bei der rechtlichen Subsumtion im Einzelfall
beanstandet, sondern für die Auslegung des bürgerlichen Rechts über den
Einzelfall hinausreichende Maßstäbe setzt, an welche die Zivilgerichte bei
ihrer künftigen Rechtsprechung in gleichgelagerten Fällen ebenso gebunden
sind, wie wenn das Bundesverfassungsgericht eine Rechtsvorschrift
verfassungskonform in der Weise auslegt, dass es die verfassungswidrige
Interpretationsmöglichkeit ausschließt (vgl. BVerfGE 40, 88 <94>).
Rechtsvorschriften, die, wie die Generalklauseln der §§ 138 und 242 BGB, das
jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen, sind so zu konkretisieren,
dass die Grundrechte als "Richtlinien" in das Zivilrecht hineinwirken können
(vgl.BVerfGE 89, 214 <229> ). Speziell für das Vertrags- und das
Bürgschaftsrecht hat das Bundesverfassungsgericht weiter klargestellt, dass
Privatautonomie die Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben
voraussetzt, dass die Vertragsfreiheit nur im Falle eines annähernd
ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Vertragspartner als Mittel eines
angemessenen Interessenausgleichs geeignet ist und dass es zu den
Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts gehört, auf strukturelle Störungen
des Verhandlungsgleichgewichts angemessen zu reagieren (vgl.BVerfGE 89, 214
<231 ff.>; für Eheverträge siehe auch, daran anknüpfend, BVerfGE 103, 89
<100>). 42
Damit hat das Bundesverfassungsgericht den Begriffen "gute Sitten",
"Verkehrssitte" sowie "Treu und Glauben" in den §§ 138 und 242 BGB mit Bezug
auf Bürgschaftsverträge auch für die Rechtsanwendung in anderen Fällen
reproduzierbare - und für die Zivilgerichte verbindliche - Konturen gegeben.
Zugleich hat das Gericht Gesichtspunkte herausgearbeitet, aus denen sich
eine strukturelle Störung des Verhandlungsgleichgewichts ergeben kann.
Insoweit kann maßgeblich sein, wer den Vertrag als Bürge abgeschlossen hat,
wie alt dieser im Zeitpunkt des Vertragsschlusses gewesen ist, in welchen
wirtschaftlichen Verhältnissen er sich dabei befunden und welche Ausbildung
er genossen hat. Für die rechtliche Beurteilung wesentlich ist weiter, ob
der Bürge in geschäftlichen Dingen unerfahren gewesen und auf welche Weise
der Vertrag zustande gekommen ist, wie sich der Bürgschaftsgläubiger dabei
verhalten hat, wie hoch das vom Bürgen übernommene Haftungsrisiko gewesen
ist und ob dieser im Fall der Kreditsicherung an dem Kredit ein eigenes
wirtschaftliches Interesse hatte (vgl.BVerfGE 89, 214 <230 f., 234 f.>).
Der sich aus der von Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Privatautonomie ergebende
Maßstab des gebotenen Ausgleichs zwischen strukturell ungleichen
Verhandlungssituationen hat durch diese Rechtsprechung eine für die
Rechtsanwendung bedeutsame Konkretisierung erfahren, die der künftigen
Rechtsprechung der Zivilgerichte für die Beurteilung von Bürgschaftsfällen
der hier in Rede stehenden Art abstrakt-generell und auf vorhersehbare Weise
den Weg weist. Sie zwingt die Gerichte zu einer Verfeinerung und
Konkretisierung der einschlägigen zivilrechtlichen Normen und hat insoweit
dazu geführt, dass im Rahmen der Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB
rechtssatzmäßig typisierbare Fallgruppen (vgl.BVerfGE 89, 214 <232> )
gebildet worden sind, die der weiteren Rechtsanwendung zugrunde gelegt
werden können. Dies unterscheidet sich, auch wenn die abschließende
Festlegung und Normausfüllung Sache der Zivilgerichte bleibt (vgl.BVerfGE
89, 214 <234> ), hinsichtlich des Grundrechtsschutzes nicht von der
verfassungskonformen Auslegung einer Rechtsvorschrift im genannten
herkömmlichen Sinne (vgl. auch Simon, EuGRZ 1974, S. 85 <86>). Die Sicherung
des Grundrechtsschutzes auch für denjenigen, dessen Grundrecht verletzt
wurde, weil ein Gericht die Rechtsprechung zur verfassungsgemäßen
Konkretisierung der betroffenen unbestimmten Rechtsbegriffe des Bürgerlichen
Gesetzbuches noch nicht berücksichtigen konnte, ist unter dem Gesichtspunkt
des nach § 79 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG zu gewährenden
Vollstreckungsschutzes ein Gebot der Gleichbehandlung. Im Lichte des
allgemeinen Gleichheitssatzes ist es deshalb verfassungsrechtlich nicht
gerechtfertigt, den Fall der die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte
sichernden Auslegung von zivilrechtlichen Generalklauseln und unbestimmten
Rechtsbegriffen im Rahmen des § 79 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Satz 2
und Satz 1 BVerfGG anders zu behandeln als den Fall der verfassungskonformen
Auslegung.
Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich eine unterschiedliche
Behandlung nachteilig auf die grundrechtlich geschützte Vertragsfreiheit
auswirken würde. Wie der Bundesgerichtshof im Fall der Beschwerdeführerin
angenommen hat, ist der von dieser geschlossene Bürgschaftsvertrag wegen
Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB als nichtig anzusehen. Das gegen die
Beschwerdeführerin gleichwohl erlassene Versäumnisurteil von 1992 verstößt
gegen die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie, weil es
diese Gewährleistung bei der Konkretisierung und Anwendung des § 138 BGB
nicht beachtet hat. Derartige Grundrechtsverstöße würden durch die
Vollstreckung aus solchen Entscheidungen perpetuiert und die
Vertragsfreiheit des betroffenen strukturell unterlegenen Bürgen insoweit
aufs Neue beeinträchtigt, wenn der Fall, dass das Bundesverfassungsgericht
die Zivilgerichte in der geschilderten Weise maßstabbildend zur Durchsetzung
des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG im Rahmen des Zivilrechts angehalten
hat, nicht in den Anwendungsbereich des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG
einbezogen würde. Das hat solches Gewicht, dass es sich mit Art. 3 Abs. 1 GG
nicht vereinbaren lässt, den Fall der grundrechtsgeleiteten Konkretisierung
auslegungsfähiger Zivilrechtsbegriffe anders als den Fall der
Unvereinbarerklärung einer bestimmten Rechtsnormauslegung mit dem
Grundgesetz von der Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG auszuschließen.
b) Das Fehlen eines hinreichenden Normbezugs kann danach, anders als der
Bundesgerichtshof annimmt, einer Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG
auf Fälle der vorliegenden Art ebenfalls nicht entgegengehalten werden. Auch
bei der verfassungskonformen Auslegung einer Rechtsvorschrift lassen die
normbezogenen Aussagen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung den
Normtext selbst unberührt. Der Normbezug beschränkt sich darauf, die
Reichweite der interpretierten Vorschrift ohne Normtextänderung auf den
verfassungskonformen Gehalt der Regelung auch für die Anwendung in anderen
Rechtsfällen zu reduzieren. Ähnlich verhält es sich bei den Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichts, deren Ziel es ist, wie im Fall der
Bürgschaftsentscheidung vom 19. Oktober 1993 die Grundrechte im Bereich des
Zivilrechts über dessen Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe
interpretationsleitend zur Geltung zu bringen. Auch dabei wird der Wortlaut
der maßgeblichen Vorschrift nicht verändert, wohl aber ihr Inhalt durch
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für typisierbare Fallgestaltungen (vgl.BVerfGE
89, 214 <232> ) konkretisiert und damit auch für die Entscheidung anderer
Fälle nutzbar gemacht. Das reicht für die Annahme des in § 79 Abs. 2 Satz 3
in Verbindung mit Satz 2 und Satz 1 BVerfGG vorausgesetzten Normbezugs aus.
c) Der analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG auf Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichts mit dem hier zugrunde liegenden Inhalt steht
schließlich auch nicht entgegen, dass der von der Beschwerdeführerin 1988
geschlossene Bürgschaftsvertrag nach der Beurteilung des Bundesgerichtshofs
zwar auf der Grundlage der heutigen, durch die Bürgschaftsentscheidung vom
19. Oktober 1993 veranlassten Rechtsprechung seines IX. und XI. Zivilsenats
wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB als nichtig anzusehen ist, das zum
Nachteil der Beschwerdeführerin ergangene Versäumnisurteil aber, wie das
Revisionsgericht ebenfalls ausgeführt hat, im Jahre 1992 mit der
Rechtsprechung des für das Bürgschaftsrecht zuständigen Senats des
Bundesgerichtshofs in Einklang stand.
Gemäß Satz 3 des § 79 Abs. 2 BVerfGG gilt für nicht mehr anfechtbare
Entscheidungen im Sinne des Satzes 1, deren zwangsweise Vollstreckung nach
den Vorschriften der Zivilprozessordnung durchzuführen ist, § 767 ZPO
entsprechend. Nach dessen Absatz 1 sind Einwendungen, die den durch das zu
vollstreckende Urteil festgestellten Anspruch selbst betreffen, vom
Schuldner im Wege der (Vollstreckungsabwehr-)Klage bei dem Prozessgericht
des ersten Rechtszuges geltend zu machen. Derartige Einwendungen sind
zufolge Absatz 2 allerdings nur insoweit zulässig, als die Gründe, auf denen
die Einwendungen beruhen, erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung,
in der Einwendungen nach der Zivilprozessordnung spätestens hätten geltend
gemacht werden müssen, entstanden sind und durch Einspruch nicht mehr
geltend gemacht werden können. Es muss sich also um Gegengründe handeln, die
gegen den dem Vollstreckungstitel zugrunde liegenden Anspruch in dem in §
767 Abs. 2 ZPO bestimmten Zeitrahmen noch nicht vorgebracht werden konnten,
weil sie erst danach entstanden sind.
Bei den Einwendungen, die auf der Bürgschaftsentscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1993 gründen, ist diese
Voraussetzung für eine entsprechende Anwendung des § 767 ZPO erfüllt. Sie
konnten 1992, als das Versäumnisurteil gegen die Beschwerdeführerin erlassen
wurde, noch nicht geltend gemacht werden, weil die Maßstäbe, aus denen diese
Einwendungen heute abgeleitet werden können, damals vom
Bundesverfassungsgericht noch nicht entwickelt und den Zivilgerichten noch
nicht verbindlich vorgegeben worden waren. Das hat sich inzwischen geändert.
Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht
auch nach Auffassung des Bundesgerichtshofs nunmehr fest, dass
Entscheidungen, wie das gegen die Beschwerdeführerin ergangene
Versäumnisurteil, mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren sind. Soweit für
eine solche Feststellung im Einzelfall noch rechtliche Konkretisierungen und
tatsächliche Ermittlungen durch die Zivilgerichte notwendig sind, weist § 79
Abs. 2 Satz 3 BVerfGG mit dem Verweis auf die Vollstreckungsabwehrklage
hierfür den Weg. Das danach eröffnete Verfahren ist geeignet, auch
schwierige materiellrechtliche Fragen im Verhältnis von
Vollstreckungsschuldner und Vollstreckungsgläubiger zu klären (vgl.
Münzberg, in: Stein/Jonas, Zivilprozessordnung, 22. Aufl., Bd. 7, 2002, §
767 Rn. 15). Die Begrenzung in § 767 Abs. 2 ZPO stellt sicher, dass dabei
das Erkenntnisverfahren nicht in vollem Umfang wiederholt wird.
d) Die Entscheidung zu B II 2 ist mit 5 : 3 Stimmen ergangen.
III. Das angegriffene Urteil ist danach gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG
aufzuheben, die Sache an den Bundesgerichtshof zurückzuverweisen.
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
Abweichende Meinung der Richterin Haas:
Der Entscheidung der Senatsmehrheit stimme ich nicht zu. Der Beschluss des
Bundesgerichtshofs verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Eine
verfassungsrechtliche Pflicht zur analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2
BVerfGG auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, mit denen die
Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das einfache Recht durchgesetzt
wird, besteht nicht.
1. Die Senatsmehrheit hält zunächst eine analoge Anwendung des § 79 Abs. 2
Satz 2 BVerfGG auf Entscheidungen für notwendig, die auf der vom
Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Auslegung einer
Norm beruhen. § 79 Abs. 2 BVerfGG enthalte insoweit eine Regelungslücke, die
sich aus einem Vergleich mit § 79 Abs. 1 BVerfGG ergebe. Diese müsse durch
eine Analogie geschlossen werden, damit das Grundsatz-Ausnahmeverhältnis von
Absatz 2 zu Absatz 1 weiter gewahrt bleibe.
a) Diese Begründung überzeugt nicht. § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG enthält die
grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers, dass nicht mehr anfechtbare
Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt
bleiben. Von diesem Grundsatz nimmt § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG noch nicht
vollstreckte Entscheidungen aus, indem die Vollstreckung aus einer solchen
Entscheidung für unzulässig erklärt wird. Eine weitere,
rechtsgebietsbezogene Ausnahme macht § 79 Abs. 1 BVerfGG für rechtskräftige
Strafurteile. Beruhen diese auf einer für nichtig erklärten Norm, ist die
Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der Strafprozessordnung
zulässig. Durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das
Bundesverfassungsgericht vom 21. Dezember 1970 sind die
Tatbestandsvoraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 79 Abs. 1 BVerfGG um
die Fälle der Unvereinbarkeitserklärung und der verfassungskonformen
Auslegung erweitert worden. Der Anwendungsbereich der Ausnahmevorschrift ist
damit im Vergleich zu der Grundregel des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG
ausgedehnt worden. Hieraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass
entsprechend auch der Anwendungsbereich der Grundregel des § 79 Abs. 2 Satz
2 BVerfGG erweitert werden müsste. Die Erweiterung des § 79 Abs. 1 BVerfGG
setzt die in dieser Regelung enthaltene Privilegierung strafrechtlich
Verurteilter gegenüber sonstigen von nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen
Betroffener fort. Sie gründet sich, wie bereits die Einräumung der
Wiederaufnahmemöglichkeit in der ursprünglichen Fassung des § 79 Abs. 1
BVerfGG, auf die besondere Belastung, die in einer strafrechtlichen
Verurteilung liegt. Dieser besonderen Belastung entspricht eine bevorzugte
Einräumung von Wiederaufnahmemöglichkeiten. Diese Wertung lässt sich auf die
Fälle des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nicht übertragen. Allein aus dem
formalen Umstand, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 79 Abs. 1
BVerfGG gegenüber denjenigen des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG erweitert worden
sind, kann daher keine Lückenhaftigkeit des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG
abgeleitet werden. Das Grundsatz-Ausnahmeverhältnis von § 79 Abs. 2 und Abs.
1 BVerfGG bleibt auch ohne eine analoge Erweiterung des Anwendungsbereichs
des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG gewahrt. Zudem dürfte der Umstand, dass nur
der Absatz 1 nicht aber der unmittelbar folgende Absatz 2 derselben
Vorschrift ergänzt wurde, eher positiv dafür sprechen, dass der Gesetzgeber
lediglich den Ausnahmetatbestand erweitern wollte. Es ist schlechthin nicht
erklärlich, weshalb der Gesetzgeber bei - unterstellt - umfassender
Regelungsabsicht ausgerechnet die dem Absatz 1 folgende Grundregel des
Absatzes 2 übersehen haben sollte.
Die Senatsmehrheit bleibt ein positives Argument für die Lückenhaftigkeit
des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG schuldig. Sie belässt es zunächst bei der
negativen Feststellung, dass sich ein Grund für die "Beschränkung" des § 79
Abs. 2 Satz 2 BVerfGG aus den Gesetzesmaterialien nicht ergebe und auch
sonst nicht ersichtlich sei. Sodann wird ausgeführt, der Gesetzgeber habe
nicht bemerkt, dass die Erweiterung des § 79 Abs. 1 BVerfGG auch eine
Ergänzung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG erforderlich mache und er
andernfalls die Ergänzung selbst vorgenommen hätte. Die Annahme einer
Gesetzeslücke bedarf jedoch einer positiven Begründung. Denn als
Gesetzesergänzung durch die Rechtsprechung ist die analoge Anwendung einer
Rechtsnorm nur unter engen Voraussetzungen möglich. Eine Analogie setzt
voraus, dass eine vom Gesetzgeber unbeabsichtigt gelassene Lücke vorliegt
und diese Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt
werden kann, andernfalls sonst jedes Schweigen des Gesetzgebers - und das
ist der Normalfall, wenn er etwas nicht regeln will - als planwidrige Lücke
im Wege der Analogie von den Gerichten ausgefüllt werden könnte (vgl.
Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Auflage 1983, S. 51). Dem
wird die Senatsmehrheit nicht gerecht. Entgegen der Auffassung der
Senatsmehrheit ist die durch das Bundesverfassungsgericht in früheren
Entscheidungen befürwortete analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG
auf Entscheidungen, die auf einer nur für unvereinbar erklärten Norm
beruhen, für die Begründung einer analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2
BVerfGG auf Entscheidungen, die auf einer für verfassungswidrig erklärten
Auslegung einer Norm beruhen, ohne Bedeutung. Bei der
Unvereinbarkeitserklärung handelt es sich um eine eingeschränkte
Nichtigerklärung, die in Fällen erfolgt, in denen die Voraussetzungen einer
Nichtigerklärung vorliegen, die jedoch den in bestimmten Fällen mit einer
Nichtigerklärung verbundenen Eingriff in die gesetzgeberische
Gestaltungsfreiheit vermeidet (vgl. M. Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger,
Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Auflage 2005, § 78 Rn. 57 ff.). Die
analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf Fälle der
Unvereinbarkeitserklärung beruht also auf der inhaltlichen Ähnlichkeit
beider Tenorierungsformen. Diese Ähnlichkeit müsste auch im Verhältnis zur
verfassungswidrigen Auslegung bestehen, damit eine analoge Anwendung des §
79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf diese gerechtfertigt werden könnte. Der bloße
Umstand, dass § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf die Unvereinbarkeitserklärung
analog angewendet wird, ist dagegen belanglos. Im Übrigen spielte - entgegen
dem Eindruck, den die Begründung der Senatsmehrheit vermittelt - in den von
der Senatsmehrheit zitierten Entscheidungen zur analogen Anwendung des § 79
Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf die Unvereinbarkeitserklärung das
Grundsatz-Ausnahmeverhältnis von § 79 Abs. 2 und Abs. 1 BVerfGG keinerlei
Rolle.
Die Meinung der Senatsmehrheit, es sei geradezu ungereimt, nur die
rechtskräftigen Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm
beruhen, nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG unberührt zu lassen und lediglich
den Vollstreckungsverboten gemäß § 79 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG zu
unterstellen, die anderen in § 79 Abs. 1 BVerfGG neuer Fassung als
rechtsähnlich angesehenen Fälle der Unvereinbarerklärung und der
verfassungswidrigen Auslegung dagegen schon vom Bestandsschutz des § 79 Abs.
2 Satz 1 BVerfGG auszunehmen, bleibt ohne Rechtfertigung und ohne Bezug zur
Gesamtrechtsordnung. Sie berücksichtigt insbesondere nicht, dass die
Bestimmung des § 79 Abs. 1 BVerfGG eine Ausnahme nur für den besonders
gelagerten Fall der Korrektur rechtskräftiger strafrechtlicher
Verurteilungen regelt. Wegen der Sensibilität der Materie und der
einschneidenden Wirkung des staatlichen Eingriffs für den Betroffenen sind
die Voraussetzungen für die ausnahmsweise angeordnete Durchbrechung der
Rechtskraft (Wiederaufnahme) in diesen Fällen weit gefasst. Mit der Wertung
einer Rechtslage als ungereimt in Bezug auf § 79 Abs. 2 BVerfGG bringt die
Senatsmehrheit lediglich ihre rechtspolitische Vorstellung von einer in
ihrem Sinne zu optimierenden Rechtslage zum Ausdruck. Als Begründung für
eine planwidrige Gesetzeslücke reicht dies nicht. Vielmehr bedarf es gerade
in Abgrenzung von rechtspolitischen Vorstellungen gegenüber der Begründung
einer Gesetzeslücke eines Mehr, das über die lediglich subjektive
Einschätzung des Rechtsanwenders von einer "gelungenen" Rechtsgestaltung
hinausgeht und das die Erkenntnis vermittelt, was die Regelungsabsicht des
Gesetzgebers war. Die lediglich rechtspolitischen Erwägungen der
Senatsmehrheit vermögen daher eine planwidrige Gesetzeslücke methodologisch
nicht zu begründen.
b) Neben der Darlegung einer planwidrigen Gesetzeslücke - an der es hier,
wie ausgeführt, mangelt - erfordert die analoge Anwendung der für einen
Tatbestand im Gesetz gegebenen Regel auf einen vom Gesetz nicht geregelten
Tatbestand die Begründung, dass beide Tatbestände infolge ihrer Ähnlichkeit
in den für die gesetzliche Bewertung maßgebenden Hinsichten gleich zu
bewerten sind (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6.
Auflage, 1991, S. 381).
Auch insoweit überzeugen die Ausführungen der Senatsmehrheit nicht. Sie
stützt sich ausschließlich auf die Überlegung, dass die als
verfassungswidrig erkannte Auslegungsvariante wie die nichtige Norm im Fall
der Nichtigerklärung von der weiteren Rechtsanwendung ausgeschlossen sei.
Diese Folgen entsprächen einander so sehr, dass es verfassungsrechtlich
nicht gerechtfertigt werden könne, beide Fälle unterschiedlich zu behandeln.
Durch den untechnischen Begriff des "Ausschlusses von der weiteren
Rechtsanwendung" werden die fundamentalen Unterschiede zwischen der
Nichtigerklärung eines Gesetzes und dem Ergebnis der verfassungsrechtlichen
Prüfung einer einfach-rechtlichen Gesetzesauslegung verwischt. Bei der
Nichtigerklärung wird die Geltung eines Gesetzes aufgehoben; bei der
Feststellung, dass eine bestimmte Gesetzesauslegung verfassungswidrig ist,
bleibt das Gesetz gerade in Kraft. Hinsichtlich förmlicher und
nachkonstitutioneller Gesetze des Bundes und der Länder kann die
Nichtigerklärung ausschließlich durch das Bundesverfassungsgericht oder die
Verfassungsgerichte der Länder erfolgen; zu der Verwerfung einer
Auslegungsvariante als verfassungswidrig und korrespondierend zu der
Entscheidung zugunsten einer verfassungsmäßigen Auslegungsvariante ist jeder
Rechtsanwender berechtigt und auch verpflichtet. Die Nichtigerklärung eines
Gesetzes hat nach § 31 Abs. 2 Satz 1 und 2 BVerfGG Gesetzeskraft; die von
dem Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärte
Auslegungsvariante ist nur in der Weise von der weiteren Rechtsanwendung
"ausgeschlossen", wie dies bei jedem anderen Verfassungsverstoß auch der
Fall ist: Aufgrund § 31 Abs. 1 BVerfGG sind die Verfassungsorgane des Bundes
und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts gebunden und damit an einer Wiederholung eines
durch das Bundesverfassungsgericht festgestellten Verfassungsverstoßes in
einem anderen Verfahren gehindert. Entfällt durch die Nichtigerklärung
rückwirkend die Geltung eines Gesetzes, drängt sich die Frage auf, inwiefern
hiervon die aufgrund des Gesetzes ergangenen, nicht mehr anfechtbaren
Entscheidungen betroffen sind. Diese Situation regelt § 79 Abs. 2 BVerfGG.
Stellt das Bundesverfassungsgericht dagegen nur fest, dass eine Entscheidung
auf einer verfassungswidrigen Auslegung einer Rechtsnorm beruht und hebt es
diese Entscheidung auf, gelten hinsichtlich anderer, nicht
verfahrensgegenständlicher Entscheidungen, die nicht mehr anfechtbar sind
und die auf der gleichen Grundrechtsverletzung beruhen, die allgemeinen
Regeln über die Rechtskraft und ihre Durchbrechung, wie sie etwa auch auf
die Entscheidungen der obersten Bundesgerichte Anwendung finden. Danach kann
eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung auch dann vollstreckt werden, wenn
ein anderes Gericht in einem anderen Verfahren einen Rechtsmangel
feststellt, an dem auch die zu vollstreckende Entscheidung leidet, der
jedoch von dem Betroffenen oder den Gerichten vor Eintritt der
Unanfechtbarkeit nicht geltend gemacht oder erkannt worden war.
Diese Unterscheidung zwischen den Rechtsfolgen der Nichtigerklärung eines
Gesetzes in § 79 Abs. 2 BVerfGG und den Rechtsfolgen einer sonstigen
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, für die das
Bundesverfassungsgerichtsgesetz keine speziellen Regelungen enthält, knüpft
zum einen an den abstrakt-generellen Charakter von Gesetzen an, die auf eine
Umsetzung in Sekundärakten angelegt sind und deren rückwirkende
Nichtigerklärung daher auch Auswirkungen auf diese Sekundärakte haben soll.
Zum anderen berücksichtigt die unterschiedliche Regelung das Wesen der
Rechtsprechung außerhalb von Normenkontrollverfahren als Entscheidung von
Einzelfällen mit lediglich mittelbarer Auswirkung auf zukünftige andere
Verfahren, die ohne Rückwirkung auf nicht mehr anfechtbare Entscheidungen
bleibt.
Der Gesetzgeber könnte diese Rechtsfolgen in anderer Weise ausgestalten. Für
die de lege lata getroffene Differenzierung zwischen den Rechtsfolgen der
Nichtigerklärung in § 79 Abs. 2 BVerfGG und den Rechtsfolgen sonstiger
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts besteht jedoch aufgrund der
dargelegten Unterschiede ein hinreichender sachlicher Grund, der die Annahme
eines Gleichheitsverstoßes ausschließt. Die Senatsmehrheit kann sich deshalb
auch nicht darauf berufen, dass die von ihr befürwortete Analogie zur
Vermeidung von Widersprüchen zwischen § 79 Abs. 1 und Abs. 2 BVerfGG
erforderlich sei.
2. Die Senatsmehrheit nimmt dann eine weitere, doppelte Analogie vor. Die
analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts, die eine verfassungskonforme Auslegung enthalten,
soll wiederum analog erstreckt werden auf Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts, welche die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte
auf das einfache Recht durchsetzen.
Um die Feststellung einer planwidrigen Regelungslücke bemüht sich die
Senatsmehrheit hier nicht mehr. Die Vergleichbarkeit beider Tatbestände wird
erneut darin gesehen, dass die Zivilgerichte (gemeint ist sicherlich die
gesamte Fachgerichtsbarkeit, da Grundrechte nicht nur in das Zivilrecht
ausstrahlen) bei ihrer künftigen Rechtsprechung an beide Typen
verfassungsgerichtlicher Entscheidungen in gleicher Weise gebunden seien.
Auch hier wird die Analogie also nur mit der Möglichkeit begründet, aus
verfassungsgerichtlichen Einzelfallentscheidungen - wie aus jeder
Gerichtsentscheidung - allgemeine Rechtssätze zu abstrahieren, die
allerdings nach § 31 Abs. 1 BVerfGG bindend sind. § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG
wird damit auf sämtliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
anwendbar. Auf dem Weg über die doppelte Analogie löst sich die
Senatsmehrheit völlig von dem normativen Ausgangspunkt, einer Bestimmung
gerade der Folgen der Nichtigerklärung, um rechtsschöpferisch zu einer
allgemeinen Regelung der Folgen nach § 31 Abs. 1 BVerfGG bindender
verfassungsgerichtlicher Entscheidungen zu gelangen.
Die Unterschiede zwischen einer verfassungskonformen Auslegung durch das
Bundesverfassungsgericht und Entscheidungen, in denen die
Ausstrahlungswirkung der Grundrechte maßgeblich ist, werden dabei durch die
Senatsmehrheit ausgeblendet. Bei der verfassungskonformen Auslegung wird
eine klar umrissene Auslegungsvariante mit dem Verdikt der
Verfassungswidrigkeit versehen. Es handelt sich um eine negative
Entscheidung, ein Verbot, eine bestimmte Auslegung zu vertreten. Die
verfassungskonforme Auslegung bezieht sich auf eine einfach-recht- liche
Rechtsnorm, die insoweit einen Mangel aufweist, als sie für eine
Auslegungsvariante offen ist, die dem Grundgesetz widerspricht.
Entscheidungen des Verfassungsgerichts, die eine Verkennung der
Ausstrahlungswirkung von Grundrechten durch die Fachgerichte konstatieren,
wirken demgegenüber positiv: Sie verpflichten die Fachgerichte, bei der
Anwendung einfachen Rechts, also der Subsumtion des Sachverhalts unter dem
Tatbestand der Norm, unmittelbar aus dem Grundgesetz abgeleitete Direktiven
zusätzlich zu berücksichtigen, die aufgrund des Charakters des Grundgesetzes
als Rahmenordnung notwendigerweise weit und konkretisierungsbedürftig
bleiben müssen. Verkennt ein Gericht die Ausstrahlungswirkung der
Grundrechte bei der Anwendung des Rechts, liegt kein verfassungsrechtlicher
Mangel eines Gesetzes vor. So hat das Bundesverfassungsgericht in seiner
Bürgschaftsentscheidung (vgl.BVerfGE 89, 214 <231 ff.> ) die
Verfassungsmäßigkeit des § 138 BGB nicht in Zweifel gezogen. Das
Bundesverfassungsgericht hat vielmehr als fehlerhaft beanstandet, dass
verfassungsrechtliche Vorgaben, die den einfach-rechtlichen
Rechtsanwendungsvorgang anreichern, außer Acht gelassen worden waren.
In dem fehlenden Normbezug verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, die eine
ungenügende Beachtung der grundrechtlichen Ausstrahlungswirkung auf die
Rechtsanwendung korrigieren, sieht der Bundesgerichtshof daher zu Recht
einen sachlichen Grund, der einem Einbezug dieser Entscheidungen in den
Anwendungsbereich des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG als einer Folgenregelung
der Nichtigerklärung verfassungswidriger Gesetze entgegensteht.
3. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Bürgschaftsentscheidung nicht
etwa - wie die Senatsmehrheit meint - den §§ 138, 242 BGB mit Bezug auf
Bürgschaftsverträge reproduzierbare Konturen gegeben. Das Gericht hat sich
vielmehr darauf beschränkt, die Zivilgerichte an ihre Pflicht zu erinnern,
bei der Auslegung und Anwendung der Generalklauseln darauf zu achten, dass
Verträge nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienen. Sei der Inhalt eines
Vertrags als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen, müssten sie -
so wörtlich - "vielmehr klären, ob die Regelung eine Folge strukturell
ungleicher Verhandlungsstärke sei" (Aufforderung zur Sachverhaltsermittlung)
"und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts
korrigierend eingreifen". Ein Verstoß gegen die grundrechtliche
Gewährleistung der Privatautonomie komme in Betracht, wenn das Problem
gestörter Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit
untauglichen Mitteln versucht werde. Ausdrücklich wird den Zivilgerichten
bei der Entscheidung, "wie sie dabei im Einzelnen zu verfahren" hätten und
"zu welchem Ergebnis sie gelangen" müssten, ein "weiter Spielraum"
zugestanden (vgl.BVerfGE 89, 214 <234> ). Das Bundesverfassungsgericht hat
also nur Minimalstandards für die Berücksichtigung der Ausstrahlungswirkung
gesetzt und damit einen Anstoß zu einer näheren, verfassungsrechtlich nicht
im Einzelnen vorgezeichneten Konkretisierung durch die Rechtsprechung
gegeben. Die von der Senatsmehrheit aufgezählten Gesichtspunkte betreffen
den konkreten Einzelfall und stellen nur allgemeine Topoi dar, die eine
strukturell ungleiche Verhandlungsstärke indizieren können. Die Bildung
normgleich typisierbarer Fallgruppen ist dann erst durch die Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs geleistet worden.
Daraus, dass das gegen die Beschwerdeführerin ergangene Versäumnisurteil
nach Auffassung des Bundesgerichtshofs in der angegriffenen Entscheidung auf
der Grundlage der heutigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als
rechtswidrig anzusehen ist, kann daher auch nicht mit der Senatsmehrheit
geschlossen werden, das ohne Begründung ergangene Versäumnisurteil sei
verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hat im 89. Band vielmehr
davon abgesehen, die einfach-rechtliche Anwendung des § 138 BGB als in jedem
Detail verfassungsrechtlich determiniert anzusehen. Auch im Rahmen der
Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG kommt es nicht darauf an, dass das
gegen die Beschwerdeführerin ergangene Versäumnisurteil nicht mit der
gegenwärtigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs übereinstimmt. Zu fragen
und damit allein zu prüfen ist vielmehr, ob das Versäumnisurteil den in der
Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts geforderten
verfassungsrechtlichen Mindeststandards nicht genügt.
Die Beschwerdeführerin kann sich nach allem nicht nach § 79 Abs. 2 Satz 3
BVerfGG i.V.m. § 767 ZPO gegen die Vollstreckung des seinerzeit von ihr
akzeptierten Versäumnisurteils wegen einer nachträglichen Rechtsprechung zur
Inhaltskontrolle von Verträgen nach §§ 242, 138 BGB, die einen der beiden
Vertragspartner ungewöhnlich stark belasten und das Ergebnis strukturell
ungleicher Verhandlungsstärke sind, wehren. Die angegriffene Entscheidung
des Bundesgerichtshofs ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
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