Die Gefahren eines
us-amerikanischen Zivilprozesses: Einstweilige Anordnung gegen die
Zustellung einer us-amerikanischen class-action auf "punitive damages"
nach dem Haager Zustellungsübereinkommen (Vorbehalt nach Art. 13 I HZÜ) -
"Napster"
BVerfG - 2 BvR 1198/03 -, Beschl. v.
25.7.2003
Fundstelle:
NJW 2003, 2598
BVerfGE 108, 238
s. dazu die Anm. zu BVerfG v. 24.1.2007
- 2 BvR 1133/04 sowie
BVerfG v. 9.1.2013 - 2 BvR 2805/12
undBVerfG v. 9.1.2013 - 2 BvR 2805/12.
Tenor:
Der Präsidentin des Oberlandesgerichts
Düsseldorf wird für die Dauer von sechs Monaten, längstens bis zu einer
Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde untersagt, ihre Entscheidung
vom 20. März 2003 – 934 E 1 - 7.263/03 - zu vollziehen, insbesondere das
Zeugnis über die Zustellung einer Klageschrift gegen die
Beschwerdeführerin gemäß Artikel 6 Absatz 4 des Haager Übereinkommens über
die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im
Ausland in Zivil- oder Handelssachen vom 15. November 1965
(Bundesgesetzblatt 1977 Teil II Seite 1452) zu übermitteln.
Gründe:
A. Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde
gegen die im Wege der Rechtshilfe beantragte Zustellung einer Klage auf
Schadensersatz in Höhe von 17 Mrd. US-Dollar, mit der sie vor einem
Gericht der Vereinigten Staaten von Amerika in Anspruch genommen werden
soll. Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt
sie, die angegriffenen Entscheidungen außer Vollzug zu setzen.
I. 1. Gegen die Beschwerdeführerin ist von einer Gruppe US-amerikanischer
Musikautoren und -verlage vor dem Distriktgericht für den südlichen Bezirk
New Yorks (District Court for the Southern District of New York) der
Vereinigten Staaten von Amerika eine Schadensersatzklage eingereicht
worden (Az.: US SD New York 03 CV 1093). Die Kläger dieses Verfahrens
tragen vor, dass die Beschwerdeführerin an der mittlerweile insolventen
Musiktauschbörse "Napster" beteiligt gewesen und insoweit auch für
möglicherweise von der Musiktauschbörse begangene
Urheberrechtsverletzungen verantwortlich sei. Die Klage hat einen
Schadensersatzanspruch in Höhe von 17 Mrd. US-Dollar zum Gegenstand.
Die Klage wurde im class action-Verfahren (Rule 23 der Federal Rules of
Civil Procedure, Title 28 United States Code Appendix Rule 23), d.h. als
Sammelklage eingeleitet (vgl. Greiner, Die Class Action im amerikanischen
Recht und deutscher Ordre Public, 1998, S. 56 ff.). Bei diesem Verfahren
handeln die Kläger im eigenen Namen und als Repräsentanten für alle
anderen von dem streitgegenständlichen Ereignis betroffenen Personen.
Diese Gruppenmitglieder sind den Beteiligten weder bekannt, noch müssen
sie vor Gericht erscheinen. Gleichwohl ist eine Entscheidung in dem
Rechtsstreit oder ein Vergleich auch für sie bindend (vgl. Heß, Die
Anerkennung eines Class Action Settlement in Deutschland, JZ 2000,
S. 373 f.; Greiner, a.a.O., S. 113 ff.). Die Zustellung der Klageschrift
ist zum einen Prozessvoraussetzung im US-amerikanischen Recht (vgl.
Junker, Der deutsch-amerikanische Rechtsverkehr in Zivilsachen, JZ 1989,
S. 121 m.w.N.), zum anderen ist sie nach deutschem Zivilprozessrecht die
Voraussetzung für die spätere Anerkennung des ausländischen Urteils (vgl.
§ 328 Abs. 1 Nr. 2 ZPO).
Die Kläger sollen in der Zwischenzeit ihre Klage auf zwei US-amerikanische
Tochtergesellschaften der Beschwerdeführerin erweitert und die
Klageschrift in den Vereinigten Staaten zugestellt haben.
2. a) Die Kläger beantragten mit Schriftsatz vom 11. März 2003 auf der
Grundlage des Haager Übereinkommens über die Zustellung gerichtlicher und
außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen
vom 15. November 1965 - HZÜ (BGBl 1977 II S. 1452) - die Zustellung ihrer
Klage an die Beschwerdeführerin. Die Präsidentin des Oberlandesgerichts
Düsseldorf, bei der es sich um die für Zustellungen in Nordrhein-Westfalen
zuständige "zentrale Behörde" der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des
Art. 2 HZÜ handelt, beschied den Antrag gemäß Art. 5 Abs. 1 HZÜ mit
Verfügung vom 20. März 2003 positiv und erließ eine Zustellungsanordnung
an das Amtsgericht Gütersloh. Das Amtsgericht veranlasste am 4. April 2003
einen Zustellungsversuch bei der Beschwerdeführerin (Az. 14 AR 27/03), der
jedoch keinen Erfolg hatte, weil die Annahme des Schriftstücks verweigert
wurde.
b) Mit Schriftsatz vom 16. April 2003 stellte die Beschwerdeführerin einen
Antrag gemäß § 23 EGGVG an das Oberlandesgericht Düsseldorf. Der Antrag
war im Wesentlichen darauf gerichtet, die Entscheidung der Präsidentin des
Oberlandesgerichts aufzuheben, hilfsweise für rechtswidrig und unwirksam
zu erklären.
Zur Begründung wies die Beschwerdeführerin darauf hin, dass es sich bei
der Klageerhebung um den Versuch handele, einen möglichst großen
öffentlichen Druck aufzubauen, um sie zu einem Vergleich außerhalb
gerichtlicher Verfahren zu zwingen. Insbesondere die Höhe der
Schadensersatzforderung sei nicht begründbar, weil es sich bei dem Betrag
von 17 Mrd. US-Dollar um ein Vielfaches des Umsatzes der möglicherweise
betroffenen US-amerikanischen Musikindustrie handele und bereits auf der
Grundlage von Beispielrechnungen deutlich werde, dass die behaupteten
Schäden unter keinen Umständen und nicht einmal näherungsweise verursacht
worden sein könnten. Des weiteren übersteige die Klageforderung deutlich
ihr Eigenkapital im gesamten Konzern und damit ihre wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit.
Wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei sie in
ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.
Weitere Verletzungen dieser Grundrechtsposition ergäben sich aus den
Rechtsfolgen der Zustellung: Nach einer Zustellung und der darauf
folgenden Klagezulassung sei sie gezwungen, an dem sogenannten
pre-trial-Verfahren teilzunehmen, einem Beweisverfahren hauptsächlich
zwischen den Parteien. Komme sie den sehr weit reichenden prozessualen
Pflichten in dem für sie kostenträchtigen Verfahren nicht nach, drohten
ihr empfindliche Strafen und in letzter Konsequenz der Verlust des
Rechtsstreits. Die Zustellung setze endgültig auch das class
action-Verfahren in Gang, das in seiner Konzeption in rechtsstaatlicher
Hinsicht bedenklich sei. Schließlich könne sie einem Geschworenenprozess
unterworfen werden, gegen den aus rechtsstaatlicher Perspektive ebenfalls
Bedenken bestünden.
Ferner werde durch die Erzeugung von wirtschaftlichem und tatsächlichem
Druck ein rechtsmissbräuchlicher Zwang auf sie ausgeübt; in Wirklichkeit
gehe es den Klägern nicht um die gerichtliche Durchsetzung des geltend
gemachten Anspruchs. Im Ergebnis liege ein nicht gerechtfertigter Eingriff
in die Grundrechte aus Art. 12 und Art. 14 GG vor.
Bereits in der Zustellung der Klage liege ein Eingriff in die
Souveränität sowie die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland im Sinne
des Art. 13 Abs. 1 HZÜ. Durch das spätere Anerkennungsverfahren sei sie
nur unzureichend geschützt, weil ein solcher Schutz nur für ihr im Inland
belegenes Eigentum gewährleistet werden könne. Da den deutschen Gerichten
und Behörden die notwendigen Hoheitsbefugnisse im Ausland fehlten, könne
der Schutz nur durch rechtzeitiges Eingreifen im Rahmen des
Zustellungsverfahrens gewährleistet werden.
c) Die Präsidentin des Oberlandesgerichts beantragt mit Schreiben vom 6.
Mai 2003, den Antrag der Beschwerdeführerin zurückzuweisen. Die Zustellung
einer Klage im Rahmen des Haager Zustellungsübereinkommens sei nach
gefestigter Rechtsprechung auch bei "exorbitant hohen
Schadensersatzforderungen" zulässig. Es sei mit Sinn und Zweck des Haager
Zustellungsübereinkommens unvereinbar, wenn bereits im Stadium der
Klagezustellung in eine detaillierte Prüfung des ordre public oder sogar
eine materielle Prüfung des Klagebegehrens eingetreten würde. Art. 13
Abs. 1 HZÜ solle dem ersuchten Staat nicht die Möglichkeit eröffnen, den
im Ausland anhängigen Rechtsstreit nach eigenen Auffassungen zu
präjudizieren; es seien auch keine Ermittlungen über den Hintergrund, den
Anlass und die Berechtigung des Klagebegehrens vorzunehmen. Durch die
Klagezustellung werde ferner noch kein Vollstreckungszugriff auf das in
Deutschland befindliche Vermögen der Partei eröffnet. Eine Verletzung von
Art. 2 GG durch die Zustellung sei mit der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 7. Dezember 1994 (BVerfGE 91, 335 ff.)
ebenfalls zu verneinen. Hingegen sei ein Zustellungsersuchen abzulehnen,
soweit mit der Zustellung eine Aufforderung zur Dokumentenvorlage im Wege
der pre-trial discovery of documents umfasst sei.
d) Das Oberlandesgericht Düsseldorf lehnte den Antrag der
Beschwerdeführerin mit Beschluss vom 11. Juli 2003 ab. Der
Anwendungsbereich von Art. 13 Abs. 1 HZÜ sei bei einer an Sinn und Zweck
des Haager Zustellungsübereinkommens orientierten Auslegung der Vorschrift
auf besonders gravierende Fälle beschränkt, in denen die Erledigung des
Zustellungsersuchens eine offensichtliche Unvereinbarkeit mit wesentlichen
Grundsätzen der Rechtsordnung des ersuchten Staates mit sich brächte.
Diese Auslegung sei zwar für die Zustellung US-amerikanischer
Strafschadensersatzklagen (punitive or exemplary damages) entwickelt
worden, lasse sich jedoch ohne weiteres auf den hier zu entscheidenden
Fall einer zivilrechtlich begründeten Schadensersatzklage übertragen. Die
ersuchte Zustellung würde nicht diese fundamentalen Grundsätze der
deutschen Rechtsordnung oder Grundrechtspositionen aus Art. 2 Abs. 1 GG
und Art. 14 GG verletzen.
Da es sich um die Zustellung eines
verfahrensleitenden Schriftstücks handele und der Ausgang des Verfahrens
in den Vereinigten Staaten völlig offen sei, falle nicht entscheidend ins
Gewicht, dass der geltend gemachte Betrag nur schwerlich nachzuvollziehen
sei. Allein die theoretische Möglichkeit einer Verurteilung zu einer enorm
hohen Schadensersatzleistung stelle keinen Verstoß gegen rechtsstaatliche
Grundprinzipien dar. Denn die Zustellung bewirke allenfalls eine
Gefährdung der finanziellen Interessen der Beschwerdeführerin. Ein
Vollstreckungszugriff sei durch die Zustellung nicht eröffnet und könne
später auch im Anerkennungsverfahren verhindert werden. Die Tatsache, dass
durch die unverhältnismäßig hohe Klageforderung und die dadurch
verursachten Presseaktivitäten Druck auf die Beschwerdeführerin ausgeübt
werde, um deren Vergleichsbereitschaft zu fördern, sei auch der deutschen
Rechtspraxis nicht fremd.
Eine Verletzung fundamentaler Rechtsgrundsätze komme auch nicht in
Betracht, weil die Klage in einer class action geltend gemacht werde. Zwar
bestehe dieses Rechtsinstitut der Popularklage in Deutschland nicht, wohl
aber in den Vereinigten Staaten. Diese Klageform beeinträchtige nicht die
unverzichtbaren Rechte der Beschwerdeführerin. Eine Schlüssigkeitsprüfung
der Klageschrift vor Zustellung komme auch nach deutschen
Rechtsvorstellungen nicht in Betracht; Ermittlungen in dieser Hinsicht
führten zu Verzögerungen im Rechtshilfeverfahren, die dem Sinn und Zweck
des Haager Zustellungsübereinkommens zuwiderliefen.
Schließlich würde die Ablehnung der Zustellung die Beschwerdeführerin
nicht vor einem Verfahren in den Vereinigten Staaten bewahren, da die
Klage zwei Tochtergesellschaften der Beschwerdeführerin zugestellt worden
sei.
II. Die Beschwerdeführerin macht mit der Verfassungsbeschwerde eine
Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art 14 Abs. 1 GG sowie
– hilfsweise – aus Art. 2 Abs. 1 GG geltend. Für die Eilbedürftigkeit
ihres Antrags verweist sie auf die hohe Wahrscheinlichkeit eines
bevorstehenden, zweiten Zustellungsversuchs.
1. Zur Begründung ihrer Verfassungsbeschwerde trägt die Beschwerdeführerin
im Wesentlichen vor:
Bereits die Anordnung der Klagezustellung setze sie unter einen
erheblichen Druck und beeinflusse sie massiv in ihren grundrechtlich
geschützten Interessen. Die exorbitante und ruinöse Klagesumme von 17 Mrd.
US-Dollar sei unverhältnismäßig und verletze ihre Handlungsfreiheit sowie
ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht. Der Gesetzgeber habe durch die
Aufnahme von Art. 40 Abs. 3 EGBGB in das internationale
Schadensersatzrecht deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die
Geltendmachung exorbitanter Ansprüche, die auf Grund ihrer Höhe in einem
gravierenden Widerspruch zu den Grundvorstellungen der deutschen
Rechtsordnung stehen, gegen den ordre public verstoßen.
Der ordre public sei durch Art. 13 Abs. 1 HZÜ vorbehalten. Die Vorschrift
biete dem deutschen Staat die Gelegenheit, seiner Schutzpflicht bei
gravierenden Verstößen gegen Grundrechtspositionen nachzukommen. Die
Entscheidung über die Zustellung sei der deutschen Staatsgewalt
zuzurechnen. Eine Vernachlässigung des Art. 13 Abs. 1 HZÜ werde dann zu
einem Grundrechtsverstoß, wenn die Auswirkungen der Klagezustellung mit
essentiellen Inhalten der deutschen Grundrechtsordnung kollidieren.
Durch die Klage werde sie unter einen erheblichen außergerichtlichen
Druck gesetzt, der das Ziel habe, sie zu Konfliktlösungen außerhalb eines
rechtsstaatlich geordneten Verfahrens zu drängen. Das Ziel sei in diesem
Fall der Abschluss eines sachlich ungerechtfertigten Vergleichs. Die
Sachwidrigkeit ergebe sich zum einen aus der Höhe der
Schadensersatzforderung, die sowohl den Umsatz der US-amerikanischen
Musikverlagsindustrie um das zehnfache übersteige als auch weit über dem
Eigenkapital der Beschwerdeführerin liege, zum anderen durch das gewählte
Prozessinstitut der class action, die eine Klageerhebung ohne
materiell-rechtliche Prüfung der Klageforderung erlaube. Des Weiteren
drohe durch die Zustellung ihr Ansehen als Wirtschaftsunternehmen in
tiefgreifender Weise beeinträchtigt zu werden, da das Vertrauen der
relevanten Öffentlichkeit in die Bonität und Seriosität des Unternehmens
nachhaltig erschüttert werden könne.
Durch diese Umstände werde ihre eigentumsrechtliche und
berufsfreiheitliche Grundrechtsposition beeinträchtigt. Das Unternehmen
sei im Hinblick auf den Kundenstamm und die Außenkontakte als Ganzes
betroffen.
2. Die Beschwerdeführerin hat zugleich einen Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung gestellt. Im Hinblick auf die nach § 32 BVerfGG
notwendige Folgenabwägung verweist sie auf die Unumkehrbarkeit einer
Klagezustellung. Mit der Zustellung träten die Beeinträchtigungen ihrer
Grundrechtspositionen ein und wirkten sich negativ auf ihren
Geschäftsbetrieb aus. Dem gegenüber stehe die vorläufige Aussetzung des
Vollzugs der angegriffenen Entscheidungen, durch die die Rechtshilfe für
einen begrenzten Zeitraum hinausgeschoben werde.
III. Die Präsidentin des Oberlandesgerichts Düsseldorf hatte Gelegenheit,
sich zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu äußern.
Von einer Anhörung der Kläger des Ausgangsverfahrens, die durch die
angegriffenen Entscheidungen begünstigt sind (vgl. § 94 Abs. 3 BVerfGG),
hat der Senat wegen der Dringlichkeit der Sache gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2
BVerfGG abgesehen.
B. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und
begründet.
I. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im
Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln.
Dabei müssen die Gründe, welche für die Verfassungswidrigkeit der
angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht bleiben, es sei denn, die
Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich
unbegründet. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist
jedoch nur begründet, wenn eine vorläufige Regelung zur Abwehr schwerer
Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen
wichtigen Grund zum allgemeinen Wohl dringend geboten ist.
Für eine einstweilige Anordnung ist kein Raum, wenn der in der Hauptsache
gestellte Antrag sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich
unbegründet erweist oder das Bundesverfassungsgericht die Hauptsache so
rechtzeitig zu entscheiden vermag, dass hierdurch die absehbaren schweren
Nachteile vermieden werden können.
Ist der Antrag in der Hauptsache weder unzulässig noch offensichtlich
unbegründet, so wägt das Bundesverfassungsgericht die Nachteile, die
einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Maßnahme
aber später für verfassungswidrig erklärt würde, gegen diejenigen
Nachteile ab, die entstünden, wenn die Maßnahme nicht in Kraft träte, sie
sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erwiese (vgl.
BVerfGE 86, 390 [395]; 88, 173 [179 f.]; 99, 57 [66]; 104, 23 [28 f.];
stRspr).
II. Das Begehren in der Hauptsache ist weder unzulässig noch
offensichtlich unbegründet.
1. Das Haager Zustellungsübereinkommen will die gegenseitige Rechtshilfe
unter den Vertragsparteien dadurch verbessern, dass die technische
Abwicklung der Zustellung vereinfacht und beschleunigt wird. Dadurch soll
sichergestellt werden, dass gerichtliche und außergerichtliche
Schriftstücke, die im Ausland zuzustellen sind, ihren Empfängern
rechtzeitig zur Kenntnis gelangen (vgl. BVerfGE 91, 335 [339 f.]). Diese
Erwägungen schließen es grundsätzlich aus, dass die innerstaatliche
Rechtsordnung zum Prüfungsmaßstab für die Zustellung gemacht wird (vgl.
Koch/Diedrich, Grundrechte als Maßstab für Zustellungen nach dem Haager
Zustellungsübereinkommen?, ZIP 1994, S. 1830 [1831]). Andernfalls könnte
die materielle Prüfung des Zustellungsersuchens zu Verzögerungen bei der
Zustellung oder, wegen der Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen
Rechtsauffassungen zu einer Vereitelung der Zustellung führen, die durch
das Haager Zustellungsübereinkommen gerade ausgeschlossen werden sollten.
Ein Zustellungsersuchen kann nach dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 HZÜ
jedoch abgelehnt werden, wenn der ersuchte Staat die Zustellung für
geeignet hält, seine Hoheitsrechte oder seine Sicherheit zu gefährden.
Der Vorbehalt in Art. 13 HZÜ für die Anwendung ausländischen Rechts wird
durch Rechtsprechung und Literatur im Hinblick auf den Sinn und Zweck des
Haager Zustellungsübereinkommens eng ausgelegt (vgl. OLG Frankfurt, RIW
2001, S. 464 = NJW-RR 2002, S. 357; siehe Schlosser, EU-Zivilprozessrecht,
2. Aufl., 2003, Art. 13 HZÜ Rn. 3 m.w.N.). So hat auch das
Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Gewährung von Rechtshilfe
durch die Zustellung einer Klage, mit der Ansprüche auf
Strafschadensersatz nach US-amerikanischem Recht (punitive damages)
geltend gemacht werden, in der Regel nicht die allgemeine
Handlungsfreiheit in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt (vgl.
BVerfGE 91, 335 [340]). Die Entscheidung hat jedoch offen gelassen, ob die
Zustellung einer solchen Klage mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip zu vereinbaren ist, wenn das mit der ausländischen
Klage angestrebte Ziel offensichtlich gegen unverzichtbare Grundsätze
eines freiheitlichen Rechtsstaats verstößt (BVerfGE 91, 335 [343]; vgl.
auch Schlosser, a.a.O., Art. 13 HZÜ Rn. 3).
2. Im Hauptsacheverfahren ist die Frage zu klären, ob diese Grenze in dem
hier zu beurteilenden Fall überschritten ist. Insoweit ist die Bedeutung
und Reichweite von Art. 13 Abs. 1 HZÜ zu klären (vgl. Juenger/Reimann,
Zustellung von Klagen auf punitive damages nach dem Haager
Zustellungsübereinkommen, NJW 1994, S. 3274; Geimer, Internationales
Zivilprozessrecht, 4. Aufl., 2001, Rn. 2159).
a) Der Abschluss und die Ratifikation des Haager Zustellungsübereinkommens
konkretisiert die Entscheidung des Grundgesetzes, dass der von ihm
verfasste Staat in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft
eingegliedert ist (vgl. Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 16
Abs. 2 und Art. 23 bis 26 GG). Das Grundgesetz gebietet damit zugleich,
fremde Rechtsordnungen und –anschauungen grundsätzlich zu achten (vgl.
BVerfGE 75, 1 [16 f.], Beschluss des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juni 2003 - 2 BvR 685/03 -, im Umdruck
S. 11), auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen
innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen.
Im Hinblick auf das Haager Zustellungsübereinkommen hat sich die deutsche
Rechtsordnung für das Recht des ersuchenden Staates im Bereich des
Zivilprozessrechts geöffnet. Die deutsche öffentliche Gewalt wird für die
ersuchende ausländische Behörde tätig, um das in jener Rechtsordnung
anhängige, innerstaatliche Verfahren über die Grenzen der nationalen
Hoheitsgewalt hinaus zu fördern. Dies schließt grundsätzlich auch die
Zustellung von Klagen mit ein, die in für die deutsche Rechtsordnung
unbekannten Verfahrensarten erhoben worden sind.
Diese Respektierungspflicht könnte jedoch ihre Grenze dort erreichen,
wo die ausländische, im Klageweg geltend gemachte Forderung - jedenfalls
in ihrer Höhe - offenkundig keine substantielle Grundlage hat. Werden
Verfahren vor staatlichen Gerichten in einer offenkundig mißbräuchlichen
Art und Weise genutzt, um mit publizistischem Druck und dem Risiko einer
Verurteilung einen Marktteilnehmer gefügig zu machen, könnte dies
deutsches Verfassungsrecht verletzen. Ein ähnlicher Gedanke hat im Jahre
1999 durch Art. 40 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB auch Eingang in das deutsche
internationale Privatrecht gefunden. Die Vorschrift regelt das
Deliktsstatut und schließt Schadenersatzansprüche auf der Grundlage
ausländischen Rechts unter bestimmten Voraussetzungen dem Grunde nach aus
(vgl. Heldrich, in: Palandt, 62. Aufl., 2003, Art. 40 EGBGB Rn. 1,
20). Art. 40 Abs. 3 EGBGB bestimmt insoweit, dass Ansprüche, die dem
Recht eines anderen Staates unterliegen, nicht geltend gemacht werden
können, soweit sie wesentlich weiter gehen als zur angemessenen
Entschädigung des Verletzten erforderlich oder offensichtlich anderen
Zwecken als einer angemessenen Entschädigung des Verletzten dienen oder
haftungsrechtlichen Regelungen eines für die Bundesrepublik Deutschland
verbindlichen Übereinkommens widersprechen.
b) Bei der Prüfung der Frage, ob die beabsichtigte Zustellung gegen Art. 2
Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstößt, ist auch die
Ausgestaltung der multilateralen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der
Rechtshilfe zu würdigen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die ersuchte
Vertragspartei ihre Behörden in den Dienst des ersuchenden Staates stellt,
indem Schriftstücke entgegengenommen und die für die innerstaatliche
Zustellung erforderlichen Maßnahmen veranlasst werden. Bei der Zustellung
handelt es sich um einen staatlichen Hoheitsakt, mit dem Gerichtsverfahren
einer fremden Rechtsordnung gefördert werden.
Verstößt schon die Zustellung einer ausländischen Klage gegen
unverzichtbare Grundsätze des freiheitlichen Rechtsstaates, so ist
fraglich, ob deutsche Behörden in diesem Fall die Rechtshilfe mit dem
Hinweis leisten dürfen, der Betroffene habe noch im weiteren Verlauf des
Verfahrens - etwa im Rahmen der Anerkennung des ausländischen Titels nach
§ 328 Abs. 1 ZPO - die Möglichkeit, den Verstoß zu rügen. Denn aus der
Zustellung ergeben sich für den Empfänger Rechtsfolgen, die geeignet sind,
ihn in seinen grundrechtlich geschützten Positionen zu beeinträchtigen.
III. Die Folgenabwägung fällt zu Gunsten der Beschwerdeführerin aus.
1. Bei einer Folgenabwägung sind gegeneinander abzuwägen die Nachteile,
die für die Beschwerdeführerin einträten, wenn die begehrte einstweilige
Anordnung abgelehnt wird, in der Hauptsache sich aber später herausstellt,
dass die Zustellung der Klage deren grundrechtlich geschützte Positionen
verletzt, mit denjenigen Nachteilen, die sich ergäben, wenn die begehrte
einstweilige Anordnung erlassen wird, sich später aber herausstellt, dass
die Zustellung mit dem Grundgesetz vereinbar war.
2. Erginge die beantragte einstweilige Anordnung, stellte sich die
Verfassungsbeschwerde später aber als unbegründet heraus, hätte sich die
Zustellung der Klage im Wege der Rechtshilfe verzögert. Es ist nicht
erkennbar, dass die Kläger des US-amerikanischen Ausgangsverfahrens
bereits dadurch unwiederbringliche Rechtsnachteile erlitten.
Es ist auch nicht zu erwarten, dass eine Verzögerung der Rechtshilfe die
Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinigten Staaten von
Amerika ernstlich belasten könnte. Der Erlass der einstweiligen Anordnung
führt noch nicht zu einer nachhaltigen Beschränkung des
Rechtshilfeverkehrs zwischen beiden Staaten auf der Grundlage des Haager
Zustellungsübereinkommens.
3. Unterbliebe der Erlass der einstweiligen Anordnung, erwiese sich die
Gewährung der Rechtshilfe im Hauptsacheverfahren dagegen als
verfassungswidrig, müsste das Bundesverfassungsgericht davon ausgehen,
dass die Beschwerdeführerin in das US-amerikanische Verfahren einbezogen
ist und das erkennende Bundesgericht über die Zulassung der Klage als
class action mit den entsprechenden Rechtsfolgen entscheidet.
Mit der Zustellung und dem Fortgang des US-amerikanischen Verfahrens ist
die Beschwerdeführerin der Gefahr einer Verurteilung ausgesetzt, die bei
unterstelltem Erfolg in der Hauptsache den Maßstäben des Grundgesetzes
- wie sie von Art. 13 Abs. 1 in das Haager Übereinkommen aufgenommen
werden - nicht standhielte. Die Möglichkeit, dass das Urteil in einem
späteren Verfahrensstadium im Inland nicht anerkannt oder für nicht
vollstreckbar erklärt wird, könnte die Beschwerdeführerin weder vor einer
Vollstreckung in ihr in den Vereinigten Staaten belegenes Vermögen noch
vor einem mit der Zustellung geförderten Reputationsverlust bewahren. |