IZPR und Verfassungsrecht: Klagezustellung nach dem Haager Zustellungsübereinkommen; ordre public-Einwand nach Art. 13 I HZÜ bei Klage auf "punitive damages"; (kein) Grundrechtsverstoß bei Zustellung


BVerfG, Kammerbeschluss vom 09.01.2013 - 2 BvR 2805/12


Fundstelle:

NJW 2013, 990


(Eigener) Leitsatz:

1. Der Zustellung einer Klage im Rahmen des Haager Zustellungsübereinkommen (HZÜ) kann allenfalls dann Art. 2 I GG entgegenstehen, wenn das mit der Klage angestrebte Ziel offensichtlich gegen unverzichtbare Grundsätze des freiheitlichen Rechtsstaats verstößt.
2. Eine auf Strafschadensersatz (punitive damages) gerichtete Schadensersatzklage verstößt nicht von vornherein gegen unverzichtbare Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaats.


Zentrale Probleme:

S dazu auch BVerfG Beschl. v. 25.7.2003, 2 BvR 1198/03 - NJW 2003, 2598 sowie die Anm. zu BVerfG v. 24.1.2007 - 2 BvR 1133/04.

©sl 2013


Gründe:

I.

Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde, verbunden mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, gegen die im Wege der Rechtshilfe beantragte Zustellung einer Klage auf Schadensersatz und Strafschadensersatz, mit der sie vor einem Gericht der Vereinigten Staaten von Amerika in Anspruch genommen werden soll.

1. Die Beschwerdeführerin ist seit 2003 Inhaberin sowohl der deutschen Marke als auch der Gemeinschaftsmarke B. sowie zahlreicher sogenannter Internet-Domains, die - in verschiedenen Varianten und Schreibweisen - ebenfalls das Wort „B.“ enthalten. Seit 2006 befindet sich die Beschwerdeführerin in rechtlichen Auseinandersetzungen mit der „B., Inc.“, einem US-amerikanischen Unternehmen, das anstrebt, der Beschwerdeführerin die Nutzung des Namens, der Marken sowie der verschiedenen Internet-Domains untersagen zu lassen. Mit dem Ziel einer einvernehmlichen Streitbeilegung hatte die „B., Inc.“ der Beschwerdeführerin zunächst 25.000 Euro, später 50.000 Euro im Wesentlichen für die Übertragung der streitigen Marken und Domains angeboten. Die Beschwerdeführerin lehnte diese Angebote ab
.
Im Mai 2012 hat die „B., Inc.“ Klage gegen die Beschwerdeführerin vor dem Bezirksgericht Nordkalifornien (United States District Court, Northern District of California) eingereicht (CV 12-2525 NC). Die Klage ist auf Verstöße gegen US-amerikanisches Marken- (Federal Trademark Infringement) und Wettbewerbsrecht (Unfair Competition and False Designation of Origin) sowie auf gesetzwidriges Besetzen von Internet-Domains (Violation of the Anti-Cybersquatting Consumer Protection Act) gestützt und unter anderem darauf gerichtet, der Beschwerdeführerin die Nutzung der Marke B. zu untersagen, Verstöße der Beschwerdeführerin gegen Marken- und Wettbewerbsrecht festzustellen, die Löschung rechtswidrig unterhaltener Internet-Domains zu veranlassen und der „B., Inc.“ Schadensersatz zu bewilligen, unter anderem jeweils 100.000 USD für mehr als 50 unterhaltene Internet-Domains sowie jeweils das Dreifache (treble damages) des aus dem nach Auffassung der Klägerin rechtswidrigen Handeln der Beschwerdeführerin gezogenen Gewinns und des entgangenen Gewinns der „B., Inc.“. Die Beschwerdeführerin beantragte bei der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz des Landes Berlin, die Zustellung der Klageschrift der „B., Inc.“ nicht vorzunehmen.

2. Mit Bescheid vom 12. Juli 2012 lehnte die Senatsverwaltung den Antrag unter anderem mit der Begründung ab, der Erlass eines Versäumnisurteils in den USA könne auch bei Ablehnung der Zustellung wegen Art. 15 Abs. 2 Buchst. b) HZÜ (Haager Übereinkommen über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen vom 15. November 1965, BGBl II 1977 S. 1452) nicht verhindert werden.

3. Den Antrag der Beschwerdeführerin nach §§ 23 ff. EGGVG auf Aufhebung der Entscheidung der Senatsverwaltung über die Zustellung wies das Kammergericht mit Beschluss vom 25. Oktober 2012 zurück.

Die Voraussetzungen des ordre-public-Vorbehalts aus § 13 Abs. 1 HZÜ lägen nicht vor. Die Vorschrift könne, da weder Hoheitsrechte noch die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bei Zustellung der Klage gefährdet seien, nur angewendet werden, wenn die Zustellung besonders schwere Beeinträchtigungen der Wertungsgrundlagen der Rechtsordnung des ersuchten Staates mit sich bringen würde. Weder begründeten die besonderen Institute des US-Rechts (keine Kostenerstattung, Beweisausforschungsverfahren, Strafschadensersatz) für sich genommen einen Verstoß gegen unverzichtbare Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaats, noch ließen eine allgemeine Missbrauchsanfälligkeit des amerikanischen Rechtssystems oder die Tatsache, dass ein Kläger die schwächere Position des Beklagten gezielt ausnutze, auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten schließen. Der Vortrag der „B., Inc.“ sei auch nicht offensichtlich unwahr, da die Beschwerdeführerin mit dem Zeichen „B.“ in englischer Sprache im Internet auftrete und durch amerikanische Internetnutzer Einkommen erziele; eine Verletzung von Rechten der „B., Inc.“ sei daher nicht völlig fernliegend. Nach Art. 13 Abs. 2 HZÜ dürfe die Zustellung auch nicht deshalb abgelehnt werden, weil nach dem Recht des ersuchten Staates möglicherweise wegen früherer Rechtshängigkeit eine ausschließliche Zuständigkeit seiner Gerichte bestehe. Es sei ferner nicht offensichtlich, dass die Klage allein den Zweck verfolge, Druck auf die Beschwerdeführerin auszuüben. In den Medien sei ganz überwiegend neutral berichtet worden. Die Zustellung der Klage habe keine berufsregelnde Tendenz und beziehe die Beschwerdeführerin lediglich in ein Gerichtsverfahren ein, ohne über dessen Ausgang zu entscheiden. Eine Verletzung von Art. 12 und 14 GG scheide mithin aus.

II.

1. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG. Die Zustellung der Klage sei mit wesentlichen Grundsätzen der Rechtsordnung unvereinbar. Der von der „B., Inc.“ vorgeschlagene Vergleich über 50.000 Euro zeige die offensichtliche Unverhältnismäßigkeit des nun geforderten Schadensersatzes in Millionenhöhe und belege, dass die, teilweise auf unwahrem Tatsachenvortrag beruhende, Klage allein dazu diene, Druck auf die Beschwerdeführerin zum Abschluss eines Vergleichs auszuüben. Der geforderte Schadensersatz entspreche in keiner Weise den gezogenen Nutzungen. Der „B., Inc.“ sei dies ebenso bewusst wie die Tatsache, dass über die öffentlich einsehbare Klage in internationalen Medien berichtet würde und diese Berichte auf dem unwahren Tatsachenvortrag aufbauten.

2. Zugleich hat die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Im Hinblick auf die nach § 32 BVerfGG gebotene Folgenabwägung macht sie geltend, sie könne sich mangels ausreichender finanzieller Mittel gegen die rechtsmissbräuchliche Klage in den USA nicht verteidigen. Es bestehe die Gefahr, dass auf der Grundlage eines amerikanischen Versäumnisurteils ihre Domains gelöscht würden. Schon durch die Zustellung der Klage drohe ihr wegen des drohenden Versäumnisurteils ein existenzgefährdender Schaden. Die Ablehnung der Zustellung könne ein Versäumnisurteil möglicherweise verhindern.

III.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, da ihr keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt und die Annahme auch nicht zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin geboten ist (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls unbegründet.

1. Die angegriffene Entscheidung des Kammergerichts verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihren Rechten aus Art. 2 Abs. 1 GG.

a) Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet die allgemeine Handlungsfreiheit im um-fassenden Sinne (vgl. BVerfGE 80, 137 [152] m.w.N.). Diese steht gemäß Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung (vgl. BVerfGE 6, 32 [37 f.]; 74, 129 [152]; 80, 137 [153]) und kann daher auf der Grundlage des Haager Zustellungsübereinkommens, dem die für die Bundesgesetzgebung zuständigen Organe zugestimmt haben (Gesetz zu dem Haager Übereinkommen vom 15. November 1965 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen vom 22. Dezember 1977, BGBl II 1977 S. 1452) und gegen dessen Verfassungsmäßigkeit keine Bedenken bestehen (vgl. BVerfGE 91, 335 [339 ff.]; BVerfGK 10, 203 [205]; 11, 312 [316]; 14, 202 [207]), eingeschränkt werden.

Das Haager Zustellungsübereinkommen will die gegenseitige Rechtshilfe unter den Vertragsparteien dadurch verbessern, dass die technische Abwicklung der Zustellung vereinfacht und beschleunigt wird. Dadurch soll sichergestellt werden, dass gerichtliche und außergerichtliche Schriftstücke, die im Ausland zuzustellen sind, ihren Empfängern rechtzeitig zur Kenntnis gelangen (vgl. BVerfGE 91, 335 [339 f.]). Diese Erwägungen schließen es grundsätzlich aus, dass die innerstaatliche Rechtsordnung zum Prüfungsmaßstab für die Zustellung gemacht wird (BVerfGE 108, 238 [246]). Anderenfalls könnte die materielle Prüfung des Zustellungsersuchens zu Verzögerungen bei der Zustellung oder, wegen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Rechtsauffassungen, zu einer Vereitelung der Zustellung führen, was durch das Haager Zustellungsübereinkommen gerade ausgeschlossen werden sollte. Ein Zustellungsersuchen kann nach dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 HZÜ jedoch abgelehnt werden, wenn der ersuchte Staat die Zustellung für geeignet hält, seine Hoheitsrechte oder seine Sicherheit zu gefährden.

b) Ob die Zustellung einer Klage wegen eines Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip auch dann zu unterbleiben hätte, wenn das mit der Klage angestrebte Ziel offensichtlich gegen unverzichtbare Grundsätze des freiheitlichen Rechtsstaats verstieße, hat das Bundesverfassungsgericht bislang nicht entschieden (vgl. BVerfGE 91, 335 [343]; 108, 238 [247]; BVerfGK 10, 203 [206]; 11, 312 [317]; 14, 202 [208]). Ein solcher Verstoß könnte etwa vorliegen, wenn das Verfahren vor den ausländischen Gerichten in einer offenkundig missbräuchlichen Art und Weise genutzt wird, um eine Forderung durchzusetzen, die - jedenfalls in ihrer Höhe - keine substantielle Grundlage hätte, der Beklagte mit dem angegriffenen Verhalten offensichtlich nichts zu tun hat oder erheblicher publizistischer Druck aufgebaut wird, um ihn zu einem ungerechtfertigten Vergleich zu drängen (vgl. BVerfGE 108, 238 [248]; BVerfGK 10, 203 [206]; 11, 312 [321]; 14, 202 [208]). Anhaltspunkte dafür, dass die Klage in diesem Sinne offensichtlich rechtsmissbräuchlich wäre, bestehen indes nicht.

Eine auf Strafschadensersatz (punitive damages) gerichtete Schadensersatzklage verstößt nicht von vornherein gegen unverzichtbare Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaats (vgl. BVerfGE 91, 335 [343 ff.]; 108, 238 [247]). Wie das Kammergericht festgestellt hat, ist eine Verletzung von Rechten der „B., Inc.“ durch die Beschwerdeführerin nicht auszuschließen. Den Vorwurf, die geltend gemachte Forderung sei offensichtlich maßlos überhöht, kann die Beschwerdeführerin jedenfalls nicht auf die deutlich geringere Höhe der von ihr gezogenen Nutzungen oder die Höhe des Vergleichsangebots stützen. Weder muss ein Schaden mit dem Nutzen für den Schädiger korrelieren, noch gibt die Höhe einer dem Schädiger zur Streitbeilegung angebotenen Vergleichszahlung einen Anhaltspunkt für den dem Geschädigten zugefügten Schaden. Es ist auch nicht Aufgabe der um Zustellung ersuchten deutschen Hoheitsträger, selbständig eine mögliche Schadenssumme zu ermitteln und diese ins Verhältnis zu dem schädigenden Ereignis oder gar der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Zustellungsempfängers zu setzen (vgl. BVerfGK 11, 312 [321]; 14, 202 [208]).
 
Dass für ein amerikanisches Zivilverfahren hohe Anwaltskosten anfallen können und die Beschwerdeführerin diese selbst im Falle des Obsiegens nicht ersetzt bekäme, begründet ebenfalls keinen Verstoß gegen unverzichtbare rechtsstaatliche Grundsätze, sondern ist eine Folge der unternehmerischen Entscheidung für eine grenzüberschreitende Teilnahme am Wirtschaftsleben (vgl. BVerfGK 11, 312 [319]; auch BGHZ 118, 312 [325 f.]).

Die nach US-amerikanischem Recht in weiterem Umfang zulässige parallele Prozessführung vor verschiedenen Gerichten weicht zwar vom deutschen Recht ab (vgl. § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO), verstößt jedoch deshalb ebenfalls noch nicht gegen unverzichtbare Grundsätze des freiheitlichen Rechtsstaats, zumal auch nach US-amerikanischem Recht sich widersprechende Urteile in der gleichen Sache verhindert werden (vgl. z.B. Hay, US-Amerikanisches Recht, 5. Auflage 2011, Rn. 201 ff.).
Schließlich kann die Durchführung einer die Klage begleitenden Medienkampagne, die einen Missbrauchsvorwurf stützen könnte (vgl. BVerfGE 108, 238 [248]), nicht allein aus der Berichterstattung über die öffentlich einsehbare Klage abgeleitet werden. Wie das Kammergericht festgestellt hat, war die Berichterstattung über die Klageerhebung zudem ganz überwiegend neutral.

2. Eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG scheidet von vornherein aus. Der Klagezustellung kommt schon deshalb keine berufsregelnde Tendenz zu, weil sie den Empfänger zwar in ein Gerichtsverfahren einbezieht, aber noch keine Entscheidung über den Ausgang des Verfahrens trifft (vgl. BVerfGK 10, 203 [207]). Sie ist deshalb auch nicht geeignet, vermögenswerte Rechte im Sinne von Art. 14 Abs. 1 GG zu beeinträchtigen.

3. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.