Gemeinschaftsrechtliche
Staatshaftung für legislatives Unrecht bei fehlerhafter Umsetzung von
Richtlinien: Erfordernis eines qualifizierten Verstoßes, Kausalität und
Schutzzweck
BGH, Beschluss vom 24.
November 2005 - III ZR 4/05
Fundstelle:
noch nicht bekannt
s. auch
EuGH Slg. 1991, I-5357 = NJW NJW 1992, 165
(Francovich)
sowie
EuGH Slg. 1999, I-3499 = NJW 1999, 3181
(Rechberger)
Amtl. Leitsatz:
Die Bundesrepublik
Deutschland, die nach den Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen
Gemeinschaften vom 4. Dezember 1997 (Rs. C-97/96 - Daihatsu - Slg. 1997
I-6843) und vom 29. September 1998 (Rs. C-191/95 - Kommission/Deutschland -
Slg. 1998 I-5449) dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Richtlinien
68/151/EWG und 78/660/EWG verstoßen hat, dass sie keine geeigneten Maßregeln
getroffen hatte, um die Offenlegung von Jahresabschlüssen von
Kapitalgesellschaften sicherzustellen, haftet einem Dritten, der sich um
keine Einsichtnahme in diese Unterlagen bemüht und als Gläubiger der
Kapitalgesellschaft davon abgesehen hat, ein Einschreiten des
Registergerichts zu beantragen, nicht auf Schadensersatz.
Zum Sachverhalt:
Der Kläger, der die beklagte Bundesrepublik aus dem gemeinschaftsrechtlichen
Staatshaftungsanspruch auf Schadensersatz in Höhe von 520.556,90 € und auf
Feststellung ihrer weiteren Ersatzpflicht in Anspruch nimmt, stand seit 1991
mit der CS GmbH in Geschäftsbeziehung, der er Gelder zur Verwaltung
anvertraut hatte. Am 28. Dezember 1993 unterzeichnete er einen
Einzeldepot-Verwaltungsvertrag über eine Anlagesumme von 750.000 DM, wobei
450.000 DM auf ein Konto der GmbH zu überweisen und bestehende Beteiligungen
von 300.000 DM umzubuchen waren. Am 16. März 1994 wurde über das Vermögen
der Gesellschaft das Konkursverfahren eröffnet. Auf die im Konkursverfahren
angemeldete Forderung wurde der Kläger nur in Höhe einer Quote von 20,0548
v.H. befriedigt. Jahresabschlüsse und Bilanzen nebst Gewinn- und
Verlustrechnungen hatte die 1988 gegründete Gesellschaft zum Handelsregister
nicht eingereicht.
Der Kläger wirft der Beklagten vor, sie habe die Erste Richtlinie 68/151/EWG
des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in
den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Art. 58 Abs. 2 des
Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind,
um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABlEG Nr. L 65, S. 8), und
die Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von
Art. 54 Abs. 3 Buchst. g des Vertrages über den Jahresabschluss von
Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABlEG Nr. L 222, S. 1) nicht
hinreichend umgesetzt. Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie
68/151/EWG hätten die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen
müssen, damit die Bilanz und die Gewinn- und Verlustrechnung für jedes
Geschäftsjahr der Gesellschaften offen gelegt würden. Zwar habe der
Gesetzgeber in § 325 Abs. 1 HGB in der Fassung des
Bilanzrichtlinien-Gesetzes vom 19. Dezember 1985 (BGBl. I S. 2355) eine
entsprechende Offenlegungspflicht der gesetzlichen Vertreter von
Kapitalgesellschaften bestimmt. Indem er jedoch nach § 335 Satz 1 Nr. 6,
Satz 2 HGB ein Einschreiten des Registergerichts wegen der Nichtoffenlegung
nur auf Antrag eines Gesellschafters, Gläubigers oder des (Gesamt-)Betriebsrats
der Gesellschaft vorgesehen habe, habe er seine Verpflichtung aus Art. 6 der
Richtlinie 68/151/EWG verletzt, geeignete Maßregeln anzudrohen, um die
Offenlegungspflicht durchzusetzen. Wäre die Beklagte ihren Verpflichtungen
aus den genannten Richtlinien nachgekommen, hätte er keinen Schaden
erlitten, weil die Gesellschaft um die Jahreswende 1993/1994 nicht in der
geschehenen Weise am Markt hätte auftreten können; bei hinreichender
Umsetzung hätte sie nämlich nicht mehr als Anbieter auf dem Markt auftreten
dürfen, sondern wäre von Amts wegen gelöscht gewesen. Demgegenüber habe er -
auch ohne Nachfrage beim Handelsregister - auf richtlinienkonformen
Verbraucherschutz vertraut.
Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit seiner Beschwerde
begehrt der Kläger die Zulassung der Revision.
Aus den Gründen:
... II. Die Voraussetzungen
für eine Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor. Mit der
Beschwerde werden keine Fragen aufgeworfen, die in einem Revisionsverfahren
geklärt werden müssten oder die eine Vorlage nach Art. 234 EG an den
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften verlangten.
1. Die allgemeinen Voraussetzungen für einen gemeinschaftsrechtlichen
Staatshaftungsanspruch sind in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der
Europäischen Gemeinschaften und des Senats geklärt. Danach kommt eine
Haftung des Mitgliedstaats in Betracht, wenn die verletzte
Gemeinschaftsrechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der
Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen diesem Verstoß und dem dem
Einzelnen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht
(vgl. EuGH, Urteil vom 30. September 2003 - Rs. C-224/01 - Köbler - NJW
2003, 3539 zu Rn. 30, 31 m.umfangr.w.N.; Senatsurteile BGHZ 134, 30, 37;
146, 153, 158 f; Beschluss vom 28. Oktober 2004 - III ZR 294/03 - NJW 2005,
747; Senatsurteil vom 20. Januar 2005 - III ZR 48/01 - NJW 2005, 742, zum
Abdruck in BGHZ 162, 49 vorgesehen).
2. Durch die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 4.
Dezember 1997 (Rs. C-97/96 - Daihatsu - Slg. 1997 I-6843 = NJW 1998, 129)
und vom 29. September 1998 (Rs. C-191/95 - Kommission/ Deutschland - Slg.
1998 I-5449 = EuZW 1998, 758) ist ferner geklärt, dass die beklagte
Bundesrepublik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Richtlinien
68/151/EWG und 78/660/EWG verstoßen hat, dass sie keine geeigneten
Sanktionen für den Fall vorgesehen hatte, dass Kapitalgesellschaften die
ihnen aufgrund dieser Richtlinien obliegende Offenlegung der
Jahresabschlüsse unterließen. Der Gerichtshof hat ausgeführt, soweit in Art.
54 Abs. 3 Buchst. g EGV, auf den die Richtlinie 68/151/EWG gestützt sei, vom
Schutz der Interessen Dritter gesprochen werde, könne dieser Begriff nicht
auf Gläubiger der Gesellschaft beschränkt werden. Die vierte
Begründungserwägung der Richtlinie verdeutliche, dass die Offenlegung des
Jahresabschlusses hauptsächlich der Unterrichtung Dritter diene, die die
wirtschaftliche Situation der Gesellschaft nicht hinreichend kennen
(könnten). Auch Art. 3 der Richtlinie, der die Führung eines öffentlichen
Registers sowie für jedermann die Möglichkeit vorsehe, Abschriften der
Jahresabschlüsse zugesandt zu bekommen, bestätige das Bestreben, diese
Informationen jeder interessierten Person zugänglich zu machen (Urteil vom
4. Dezember 1997 aaO zu Rn. 19 bis 22). Art. 6 der Richtlinie, der von den
Mitgliedstaaten die Androhung geeigneter Maßregeln für den Fall verlange,
dass die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. f vorgeschriebene Offenlegung unterbleibe,
stehe daher einer nationalen Regelung wie § 335 Satz 1 Nr. 6, Satz 2 HGB
a.F. entgegen, nach der das Recht, die Verhängung von Maßregeln zu
verlangen, nur den Gesellschaftern, den Gläubigern und dem Gesamtbetriebsrat
bzw. Betriebsrat der Gesellschaft eingeräumt sei (aaO Rn. 23).
Der Senat hat nach dem Gesamtzusammenhang der Ausführungen des Gerichtshofs
keine Zweifel, dass die in Art. 2 der Richtlinie geforderte Offenlegung die
Unterrichtung derjenigen Personen bezweckt, die sich eine Grundlage für ihre
Beurteilung verschaffen wollen, ob sie in Rechtsbeziehungen zu der in Rede
stehenden Gesellschaft treten wollen, dass ihnen also durch diese Bestimmung
ein Recht verliehen ist, das durch die unzureichende Umsetzung der Beklagten
verletzt worden ist. Soweit das Berufungsgericht demgegenüber die Auffassung
vertritt, die Richtlinien dienten zwar dem Informationsinteresse von
Dritten, verliehen aber kein subjektives Recht auf effiziente staatliche
Durchsetzung der Offenlegungspflichten, vermag der Senat dem nicht zu
folgen. Insbesondere kann dies nicht aus dem Urteil des Gerichtshofs der
Europäischen Gemeinschaften vom 12. Oktober 2004 (Rs. C-222/02 - Paul u.a. -
NJW 2004, 3479) geschlossen werden, das auf den Vorlagebeschluss des Senats
vom 16. Mai 2002 (III ZR 48/01 - NJW 2002, 2464) ergangen ist. Zwar hat der
Gerichtshof in der angeführten Entscheidung zur Richtlinie 94/19/EG vom 30.
Mai 1994 über Einlagensicherungssysteme (ABlEG Nr. L 135, S. 5) einerseits
ein Recht des Einlegers festgestellt, im Fall der Nichtverfügbarkeit von
Einlagen nach Art. 7 Abs. 1 und 6 der Richtlinie entschädigt zu werden (aaO
S. 3480 zu Rn. 26, 27). Soweit den Behörden jedoch nach Art. 3 Abs. 2 bis 5
der Richtlinie verschiedene Verpflichtungen obliegen, die der Einrichtung
und dem ordnungsgemäßen Funktionieren des Einlagensicherungssystems dienen,
hat er andererseits ein Recht der Einleger, dass die zuständigen Behörden in
ihrem Interesse Aufsichtsmaßnahmen treffen, ausdrücklich verneint (aaO zu
Rn. 28 bis 30). Diese Überlegungen lassen sich aber nach dem Urteil des
Gerichtshofs vom 4. Dezember 1997 nicht in der Weise auf die Richtlinie
68/151/EWG übertragen, dass zwar ein subjektives Recht auf Offenlegung
anerkannt, ein solches auf Durchsetzung hingegen verneint wird. Auch wenn
sich der Gerichtshof im Hinblick auf die Frage des vorlegenden Gerichts
nicht ausdrücklich damit beschäftigen musste, ob hinsichtlich der in Rede
stehenden Umsetzung von Art. 6 der Richtlinie durch § 335 HGB a.F. ein
subjektives Recht auf Durchsetzung der Offenlegung anzuerkennen ist, ist
seiner Entscheidung doch der enge Zusammenhang der eindeutig ein Recht
verleihenden Offenlegungspflicht mit der allgemein bereits durch Art. 10 EG
geforderten und speziell in Art. 6 der Richtlinie hervorgehobenen
Verpflichtung des Mitgliedstaates zu entnehmen, geeignete Maßregeln gegen
eine Verletzung von Offenlegungspflichten vorzusehen. Dementsprechend
beanstandete der Gerichtshof, dass nach § 335 Satz 2 HGB a.F. nur ein
beschränkter Kreis, nicht aber - wie zwanglos zu ergänzen ist - jeder auf
die Offenlegung angewiesene Dritte berechtigt war, Zwangsmaßnahmen des
Registergerichts zu beantragen. Der enge Zusammenhang der Offenlegung und
ihrer Durchsetzung wird auch in den Schlussanträgen des Generalanwalts
Cosmas mehrfach hervorgehoben (Slg. 1997, I-6845 ff, insbesondere zu Rn. 14,
18 f, 22).
3. Das Berufungsgericht hat die Frage offen gelassen, ob die Beklagte
durch die vom Gerichtshof beanstandete Regelung in qualifizierter Weise das
Gemeinschaftsrecht verletzt hat. Der Senat braucht diese Frage nicht
abschließend zu entscheiden und muss auch nicht - wie die Beschwerde meint -
im Einzelnen prüfen, ob die jetzige Regelung in §§ 335 und 335a HGB den
Anforderungen der beiden Richtlinien gerecht wird. Denn das Berufungsgericht
hat eine Haftung der Beklagten zu Recht mit der Begründung abgelehnt, der
eingetretene Schaden des Klägers beruhe nicht auf der der Beklagten
zuzurechnenden Verletzung des Gemeinschaftsrechts.
a) Der Kläger hat seine Entscheidung, der später in Konkurs gefallenen
Gesellschaft Geld anzuvertrauen, nicht davon abhängig gemacht, sich anhand
der Jahresabschlüsse über deren wirtschaftliche Verhältnisse ein Bild zu
machen. Das ist unstreitig. Weder bei seiner ersten Anlage noch bei
Abschluss des hier in Rede stehenden Einzeldepot-Verwaltungsvertrags hat er
den Versuch unternommen, sich über die Verhältnisse der Gesellschaft zu
unterrichten. Dabei hätte ihm aufgrund seiner Stellung als Gläubiger der
Gesellschaft vor Abschluss des Vertrags vom 28. Dezember 1993/7. Januar 1994
nach § 335 Satz 2 HGB a.F. das Recht zugestanden, ein Einschreiten des
Registergerichts zu beantragen, um die vertretungsberechtigten Organe der
Gesellschaft zu einer Einhaltung der Offenlegungspflicht anzuhalten. Soweit
die Beschwerde anführt, dem Kläger sei hiermit nicht gedient gewesen, weil
mit einem solchen Verfahren Verzögerungen verbunden seien, die bei richtiger
Umsetzung der Richtlinien von vornherein vermieden worden wären, ändern
diese Überlegungen nichts an dem Befund, dass der Kläger in der Lage war,
für seine Person zu entscheiden, ob er mit einem Unternehmen in weitere
geschäftliche Beziehungen treten wollte, das seinen Offenlegungspflichten in
der Vergangenheit nicht nachgekommen war und von dem offen war, wie es sich
im Fall einer dem Kläger möglichen und zumutbaren Einschaltung des
Registergerichts verhalten würde.
b) Da der Kläger selbst nicht verkennt, dass er die ihm nach der Richtlinie
verliehenen Rechte, auch soweit sie umgesetzt waren, nicht genutzt hat,
möchte er unter Zuhilfenahme von Beweiserleichterungen so gestellt werden,
als sei die später in Konkurs gefallene Gesellschaft zum Zeitpunkt seines
Vertragsschlusses gar nicht mehr am Markt gewesen. Die Brücke hierfür
sollen Umsetzungspflichten bilden, denen die Beklagte aus Sicht des Klägers
nicht nachgekommen ist.
Mit diesen Überlegungen verlässt der Kläger - auch wenn man ihm
Beweiserleichterungen für den auf einem Umsetzungsfehler beruhenden Schaden
zubilligen mag - aber den Schutzbereich der beiden hier in Rede stehenden
Richtlinien. Art. 2 der Richtlinie 68/151/EWG und Art. 47 der Richtlinie
78/660/EWG sehen die Offenlegung bestimmter Angaben der Gesellschaften vor,
um Dritten die Möglichkeit zu geben, sich hierüber zu unterrichten. Die
Richtlinien enthalten keine Vorschriften, die es verlangen würden,
Gesellschaften, die ihren Offenlegungspflichten nicht nachkommen, aufzulösen
oder vom Markt zu nehmen. Das ist so eindeutig, dass der Senat diese Frage
nicht dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vorlegen muss. Zwar
sind die Mitgliedstaaten nach Art. 6 der Richtlinie 68/151/EWG verpflichtet,
mit der Androhung geeigneter Maßregeln einer Verletzung von
Offenlegungspflichten entgegenzuwirken. Dabei steht ihnen jedoch ein
Handlungsspielraum zu, der nicht dahin verengt werden kann, dass eine
Gesellschaft, die ihren Pflichten nicht nachkommt, aus dem Rechtsleben
entfernt werden müsste. Primär geht es vielmehr darum, die Offenlegung
sicherzustellen, damit der hierdurch geschützte Personenkreis seine
Informationsrechte wahrnehmen kann. Einen weitergehenden Zweck haben auch
die in Art. 6 der Richtlinie 68/151/EWG angesprochenen Maßregeln nicht.
4. Auch im Übrigen lässt die angefochtene Entscheidung keine
zulassungsbegründenden Rechtsfehler erkennen. Insoweit wird von einer
näheren Begründung abgesehen.
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