"Berliner Testament" mit Pflichtteilsklausel: Auflösend bedingte Erbeinsetzung nach dem Zweitversterbenden


BGH, Urteil vom 12. Juli 2006 - IV ZR 298/03


Fundstelle:

NJW 2006, 3064


Amtl. Leitsatz:

Bei einem Berliner Testament mit Verwirkungsklausel (Pflichtteilsklausel) kann der Eintritt der auflösenden Bedingung grundsätzlich auch nach dem Tod des längstlebenden Ehegatten, nach Annahme der Schlusserbschaft und nach Verjährung des Pflichtteilsanspruchs nach dem Erstverstorbenen herbeigeführt werden.


Zentrale Probleme:

Es geht um eine Klassikerproblematik aus dem (Pflichtstoff) des Erbrechts, eingekleidet in einen Anwaltshaftungsprozeß. Die Materie eignet sich auch hervorragend für eine sog. "Anwaltsklausur" (s. dazu auch den Besprechungsaufsatz von Keim NJW 2007, 974). Zum "Berliner Testament" s. auch BGH NJW 1998, 543; BGH NJW 2002, 1126 sowie BayObLG NJW-RR 2004, 939.

©sl 2006


Tatbestand:

Der Kläger nimmt den Beklagten auf Schadensersatz wegen anwaltlicher Pflichtverletzung in Anspruch.

Am 29. Juni 1987 errichteten die Eltern des Klägers ein Berliner Testament. Sie setzten darin ihre beiden Abkömmlinge, den Kläger und seinen Bruder, zu gleichen Teilen als Schlusserben ein. Gleichzeitig ordneten sie an, dass der Bruder des Klägers das Elternhaus bekommen solle; der Kläger habe bereits Geld für seinen Hausbau erhalten. In einem Zusatztestament vom 20. Juni 1992 stellten die Eltern dann zum einen klar, dass der Bruder das Haus als Vorausvermächtnis erhalte; außerdem verfügten die Eltern folgende Pflichtteilsklausel:

"Verlangt nach dem Tod des Erstversterbenden von uns eines unserer Kinder - oder im Fall des Vorversterbens eines unserer Söhne eines von dessen Kindern - den Pflichtteil, so erhält es auch nach dem Tode des Letztversterbenden von uns nur den Pflichtteil."

Der Vater verstarb am 11. März 1995, ohne dass die Abkömmlinge Pflichtteilsansprüche geltend machten, die Mutter verstarb am 14. April 1997. Auf Antrag des Klägers wurde ein Erbschein erteilt, der beide Söhne als Miterben nach der Mutter zu je 1/2 ausweist. Da sich der Kläger wegen des Vorausvermächtnisses jedoch wirtschaftlich benachteiligt sah, wandte er sich an den Beklagten. Dieser riet ihm zur Anfechtung der Erbschaftsannahme, um so die wirtschaftlich günstigere Geltendmachung des Pflichtteils nach der Mutter zu ermöglichen. Mangels Anfechtungsgrundes blieb die Anfechtung jedoch ebenso erfolglos wie eine im Jahre 2000 gegen den Bruder erhobene Klage auf Zahlung des Pflichtteils nach dem Vater und der Mutter. Der Kläger wirft dem Beklagten vor, ihn nicht auf die Möglichkeit hingewiesen zu haben, den - inzwischen verjährten - Pflichtteilsanspruch nach seinem Vater zu fordern. Nach Ansicht des Klägers hätte er dann wegen der Pflichtteilsklausel die Schlusserbenstellung nach der Mutter verloren und neben dem Pflichtteil nach dem Vater auch den nach der Mutter geltend machen können.

Seinen hierdurch entstandenen Schaden beziffert der Kläger auf insgesamt 155.136,79 €. Seine Klage wurde in den Vorinstanzen abgewiesen. Mit der Revision verfolgt er seinen Klageantrag weiter.

Entscheidungsgründe:

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I. Das Berufungsgericht meint, eine Haftung des Beklagten scheitere jedenfalls daran, dass der behauptete Beratungsfehler folgenlos geblieben sei. Mit der Annahme der Erbschaft nach der Mutter durch die Beantragung des Erbscheins sei der Kläger endgültig Schlusserbe geworden. Er habe den Pflichtteil nach dem Vater nicht mehr beanspruchen und seine Erbenstellung durch nachträgliches Verlangen dieses Pflichtteils aus Rechtsgründen nicht mehr beseitigen können.

II. Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Zutreffend ist allerdings, dass sich die Ehegatten in ihrem Testament von 1987 gegenseitig als Vollerben und ihre Kinder als Schlusserben nach dem Letztverstorbenen eingesetzt haben. Dies bedeutet eine Enterbung der Abkömmlinge nach dem Erstverstorbenen (BayObLGOLGE 44, 105, 106), verbunden mit deren - infolge der Pflichtteilsklausel auflösend bedingter - Einsetzung als Schlusserben (§ 2075 BGB; Bay-ObLGZ 2004, 5, 8; BayObLG NJW-RR 1988, 968 und NJW-RR 1994, 1495). Rechtliche Bedenken gegen die hier vereinbarte Pflichtteilsklausel sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

2. Rechtsfehlerhaft ist aber - auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen - die Ansicht des Berufungsgerichts, der Kläger sei nach Annahme der Erbschaft aus Rechtsgründen daran gehindert gewesen, durch Verlangen des Pflichtteils nach dem Vater noch die Wirkungen der Pflichtteilsklausel auszulösen, dadurch seine Schlusserbenstellung zu beseitigen und schließlich auch den Pflichtteil nach der Mutter zu erlangen.

a) Der Eintritt der auflösenden Bedingung kann noch nach dem Tod des überlebenden Ehegatten herbeigeführt werden (OLG Stuttgart OLGZ 1979, 52, 54; OLG Zweibrücken ZEV 1999, 108, 109; Lübbert, NJW 1988, 2706, 2713; Lange/Kuchinke, Erbrecht 5. Aufl. § 24 IV 5; Erman/M. Schmidt, BGB 11. Aufl. § 2269 Rdn. 15; Palandt/Edenhofer, BGB 65. Aufl. § 2269 Rdn. 13). Diese Auffassung liegt auch dem Senatsurteil vom 8. Dezember 2004 (IV ZR 223/03 - ZEV 2005, 117) zugrunde. Dort hatte der Sozialhilfeträger die Pflichtteilsansprüche nach beiden Eltern erst nach dem Tod des Letztverstorbenen auf sich übergeleitet und geltend gemacht.

b) Die Annahme der Erbschaft stand dem Eintritt der auflösenden Bedingung ebenfalls nicht entgegen.

aa) Soweit es um die Annahme als solche geht, folgt dies bereits aus § 2075 BGB, der eine auflösende Bedingung für letztwillige Zuwendungen ausdrücklich vorsieht (vgl. BGHZ 96, 198, 202 und 204 zur Wiederverheiratungsklausel). Mit Bedingungseintritt entfällt die Erbenstellung (vgl. BGH, Urteil vom 28. November 1984 - IVa ZR 122/83 - FamRZ 1985, 278 unter II 4), und zwar unabhängig davon, ob die Annahme der Erbschaft nach § 1954 BGB anfechtbar war. Beides hat nichts miteinander zu tun.

bb) Der Kläger konnte den Pflichtteilsanspruch nach dem Vater weiter geltend machen.

Das Berufungsgericht misst der Annahme der Erbschaft offenbar eine darüber hinausgehende rechtliche Wirkung zu. Es meint, mit Annahme der Erbschaft nach dem Ableben der Mutter habe der Kläger den im Testament zum Ausdruck gebrachten Willen seiner Eltern endgültig akzeptiert und sei deshalb daran gehindert gewesen, den Pflichtteil nach dem Vater noch beanspruchen zu können. Damit lässt sich die Klagabweisung nicht rechtfertigen.

Die hier in der Beantragung eines entsprechenden Erbscheins liegende Annahme der Erbschaft nach der Mutter (vgl. BayObLG ZEV 1997, 257 und FamRZ 1999, 1172, 1173) hatte auf den Pflichtteilsanspruch nach dem Vater keinen Einfluss. Es handelt sich um zwei getrennte Erbfälle, die getrennte erbrechtliche Konsequenzen haben - hier Pflichtteilsanspruch, dort Miterbschaft (vgl. BGHZ 88, 102, 105 f.). Was der im Testament zum Ausdruck gebrachte Wille der Eltern ist, führt das Berufungsgericht nicht aus. Die Ermittlung des Erblasserwillens hätte einer Testamentsauslegung bedurft, die das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang unterlassen hat. Das Urteil enthält zwar Erwägungen zur Auslegung der Verwirkungsklausel, die aber ausdrücklich als nicht entscheidungserheblich bezeichnet werden. Besondere Umstände, die ausnahmsweise auf einen konkludenten Verzicht auf den Pflichtteilsanspruch nach dem Vater durch die Erbschaftsannahme hindeuten könnten (vgl. dazu BGH, Urteil vom 15. Januar 2002 - X ZR 91/00 - NJW 2002, 1044 unter 4 m.w.N.), sind nicht vorgetragen, nicht ersichtlich und vom Berufungsgericht nicht festgestellt. Der Kläger hat - anders als die Revisionserwiderung meint - im Erbscheinsantrag auch nicht eidesstattlich versichert, den Pflichtteil nach dem Vater nicht geltend zu machen. Er hat vielmehr erklärt, weder er noch sein Bruder hätten nach dem Tod des Vaters den Pflichtteil geltend gemacht.

Die inzwischen eingetretene Verjährung des Pflichtteilsanspruchs nach dem Vater steht für sich genommen dem Eintritt der auflösenden Bedingung nicht entgegen (M. Schmidt, aaO; Muscheler, ZEV 2001, 377, 384). Sie berechtigt nur zur Leistungsverweigerung, berührt aber nicht den Bestand des Anspruchs (§ 214 Abs. 1 BGB, § 222 Abs. 1 BGB a.F.).

III. Der Senat kann über den geltend gemachten Schadensersatzanspruch nicht abschließend entscheiden.

1. Hierzu sind weitere Feststellungen zum Willen der Erblasser erforderlich, insbesondere dazu, was sie mit der Pflichtteilsklausel bezweckt haben. Das Berufungsgericht wird dem Vortrag der Parteien und den Beweisangeboten nachzugehen und die unterlassene Testamentsauslegung nachzuholen haben. Als Regressgericht im Anwaltshaf-tungsprozess hat sich das Berufungsgericht dabei - unter Beachtung der Streitverkündung im Pflichtteilsprozess - eine eigenständige Überzeugung zu bilden (vgl. BGH, Urteile vom 21. September 1995 - IX ZR 228/94 - VersR 1996, 190 unter I 1 a und vom 7. April 2005 - IX ZR 132/01 - FamRZ 2005, 1079 unter II 2 b je m.w.N.).

Im Einzelnen wird darauf hingewiesen, dass eine Verwirkungsklausel unter Berücksichtigung ihres Sinns im Gesamtzusammenhang des Testaments einschränkend ausgelegt werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 2004 - IV ZR 223/03 - ZEV 2005, 117 unter III). Das kann etwa dann in Betracht kommen, wenn die am Wortlaut haftende Auslegung zu einem von den Erblassern gerade nicht gewollten Ergebnis führen würde. Ob dies der Fall war, wie das Landgericht angenommen hat, und welche Umstände für das Erlöschen oder die Fortgeltung der Verwirkungsklausel nach dem Tod der Mutter sprechen, wird das Berufungsgericht abschließend zu würdigen haben.

Falls die Verwirkungsklausel nicht eingreift und der Kläger Schlusserbe geblieben ist, wird zu prüfen sein, ob der daneben bestehende Anspruch auf den Pflichtteil nach dem Vater nach dem Willen der Erblasser auf den Schlusserbteil anzurechnen ist (vgl. Soergel/Manfred Wolf, BGB 13. Aufl. § 2269 Rdn. 38; Bamberger/Roth/Litzenberger, BGB § 2269 Rdn. 42; M. Schmidt, aaO Rdn. 16; AnwKomm-BGB/Gierl, § 2269 Rdn. 110 m.w.N.).

2. Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung stünde die behauptete Beschränkung des Mandats auf die Erbfolge nach der Mutter der Haftung des Beklagten nicht entgegen, wie das Landgericht zutreffend angenommen hat. Auch innerhalb eines eingeschränkten Mandats muss der Anwalt den Mandanten vor Gefahren warnen, die sich bei ordnungsgemäßer Bearbeitung aufdrängen, wenn er Grund zu der Annahme hat, dass sein Auftraggeber sich dieser Gefahr nicht bewusst ist. Eine solche Verpflichtung kommt vor allem in Betracht, wenn Ansprüche gegen Dritte - wie hier der Pflichtteilsanspruch nach dem Vater - zu verjähren drohen (BGH, Urteil vom 29. November 2001 - IX ZR 278/00 - NJW 2002, 1117 unter II 1 a). Der um eine Beratung ersuchte Rechtsanwalt ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu einer umfassenden und möglichst erschöpfenden Belehrung seines Auftraggebers verpflichtet, sofern dieser nicht eindeutig zu erkennen gibt, dass er des Rats nur in einer bestimmten Richtung bedarf (zuletzt BGH, Urteil vom 22. September 2005 - IX ZR 23/04 - NJW 2006, 501 unter II 1 b). Hier ging es dem Kläger für den Beklagten erkennbar um die wirtschaftliche Verbesserung seiner erbrechtlichen Stellung. Auch wenn der Kläger als juristischer Laie nur den Erbfall nach seiner Mutter ansprach, enthob dies den Beklagten nicht von seiner Pflicht, auch den Erbfall nach dem Vater in seine rechtlichen und wirtschaftlichen Erwägungen einzubeziehen.

Für einen gewissenhaften und erfahrenen Anwalt (vgl. BGH, Urteil vom 29. November 2001 aaO unter II 1 b) lag es auf der Hand, dass er bei der Suche nach dem wirtschaftlich erfolgreichsten Weg auf den Pflichtteilsanspruch nach dem Vater und die Möglichkeiten der Verwirkungsklausel hinweist und den Mandanten über die damit verbundenen Chancen und Risiken berät. Dass der Kläger die Voraussetzungen der Pflichtteilsklausel durch ein ausdrückliches Einfordern des Pflichtteils nach dem Vater erfüllt hätte, ist nach der Vermutung beratungsgerechten Verhaltens (BGH, Urteil vom 13. Januar 2005 - IX ZR 455/00 - BGH-Report 2005, 787 unter II 1) anzunehmen ebenso wie der in subjektiver Hinsicht erforderliche, aber auch ausreichende bewusste Verstoß gegen die Klausel (vgl. BGH, Urteil vom 1. Juli 1965 - III ZR 50/64 - juris Rdn. 17 ff.; BayObLGZ 2004, 5, 9 f.; BayObLG NJW-RR 1996, 262). Die vom Beklagten angeratene Anfechtung der Erbschaftsannahme stellt auch für sich genommen eine Pflichtverletzung dar, wenn die Anfechtung jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit aussichtslos gewesen war. In einem solchen Fall muss der Anwalt auf den damit verbundenen Grad der Gefahr eines Prozessverlustes hinweisen (vgl. BGH, Urteile vom 13. März 1997 - IX ZR 81/96 - VersR 1997, 974 unter A II 1 und vom 18. Dezember 1997 - IX ZR 180/96 - VersR 1998, 1158 unter B II). Hierzu sowie zu den geltend gemachten Schadenspositionen wird das Berufungsgericht gegebenenfalls noch die erforderlichen Feststellungen zu treffen haben.