Postmortaler Persönlichkeitsschutz: Dauers
OLG München, Urteil v. 26.01.1994 - 21 U 5534/93
Fundstelle:

NJW-RR 1994, 925
Vgl. auch  BGHZ 50, 133 sowie BVerfG NJW 1971, 1645


Leitsätze:

Zur zeitlichen Dauer des postmortalen Persönlichkeitsschutzes.



Die Kl. zu 1 ist die Witwe des 1909 geborenen und 1965 verstorbenen Arztes Dr. A, der in Hutthurm/Landkreis P. viele Jahre tätig war. Die Kl. zu 2, 3, 4 und 5 sind die volljährigen Kinder des Verstorbenen, zwei sind Ärzte. Die Bekl. ist Studentin und Schriftstellerin; sie hat in den letzten zehn Jahren zwei Bücher über Fragen des Nationalsozialismus geschrieben; ihr Lebenslauf war Gegenstand des Films 'Das schreckliche Mädchen'. In Kürze will sie ein Buch erscheinen lassen mit dem Titel 'Wintergrün', das sich ebenfalls mit Ereignissen aus der NS-Zeit befaßt. Im Hinblick auf dieses demnächst erscheinende Buch hat die Bekl. verschiedenen Zeitungen Interviews gegeben und ist auch mehrfach im Fernsehen, darunter im ZDF, aufgetreten. In der Passauer Neuen Presse vom 1. 6. 1993 ist ein ganzseitiges Gespräch von Redakteuren mit der Bekl. abgedruckt. Dort ist als Äußerung der Bekl. u. a. angegeben:'Weltweit wird zum ersten Mal berichtet über einen Typ von Kriegsverbrechen, der bislang völlig unbekannt war: Der systematische Kindermord an Ungeborenen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Zwangsarbeiterinnen aus Polen, aus der Ukraine und aus Weißrußland wurden, wenn sie schwanger waren, vor die Alternative gestellt: Entweder Einweisung ins KZ - das bedeutete den Tod - oder Zwangsabtreibung. Diese Art Abtreibung ist nicht gleichzusetzen mit dem, was wir heute darunter verstehen. Das Kind wurde im lebensfähigen Zustand, also im achten, im neunten Monat stückchenweise herausgeschnitten aus dem Körper der Mutter, eine Hand nach der anderen, ein Arm nach dem anderen - das Ganze ohne Narkose, so daß die Mütter möglichst viel zu leiden hatten. Es war im ganzen Deutschen Reich offensichtlich nur ein einziger Arzt bereit zu dieser Methode, hier im Krankenhaus Hutthurm. Für jede dieser Abtreibungen wurden 50 Reichsmark bezahlt, für eine normale Entbindung nur 3 Mark. Er ist sehr wohlhabend geworden.'In der Zeitschrift S ist auf den Seiten 30 bis 34 ebenfalls ein langer Bericht über die Bekl. enthalten, der ähnliche Ausführungen enthält. Die fünf Kl. tragen vor, Dr. A sei seit 1938 Arzt in Hutthurm und seit 1941 leitender Belegarzt des Kreiskrankenhauses Hutthurm gewesen. Von 1943 bis 1945 habe Dr. A in dieser Klinik über 200 Schwangerschaftsunterbrechungen vorgenommen. Nach Kriegsende sei er deswegen verhaftet worden. Die Abtreibungen habe er vorgenommen, wenn eine von zuständiger Stelle erteilte Genehmigung hierzu vorgelegt worden sei. Die Behauptung der Bekl., Dr. A habe bei den Abtreibungen an den Ostarbeiterinnen eine Methode dahingehend gewählt, daß das Kind im lebensfähigen Zustand stückchenweise ohne Narkose herausgeschnitten worden sei, sei falsch. Die Kl. hat beantragt, der Ag. wird bei Meidung eines Ordnungsgeldes von bis zu 500000 DM für jeden einzelnen Fall der Zuwiderhandlung gem.  § 890 ZPO verboten, in den Medien und/oder gegenüber sonstigen Dritten in bezug auf Dr. A zu behaupten und/oder zu verbreiten und/oder behaupten und verbreiten zu lassen, ein einziger Arzt habe gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in der Krankenanstalt Hutthurm bei P. in der Weise ungeborene Kinder getötet, daß er Kinder 'in lebensfähigem Zustand, also im achten, im neunten Monat stückchenweise herausgeschnitten (habe) aus dem Körper der Mutter, eine Hand nach der anderen, ein Arm nach dem anderen - das Ganze ohne Narkose, so daß die Mütter möglichst viel zu leiden hatten. Die Bekl. hat entgegnet, die von ihr in den fraglichen Interviews aufgestellten Tatsachenbehauptungen seien zutreffend. Sie werde sie auch aufrechterhalten mit dem Zusatz 'nach meinem Wissen, nach den mit vorliegenden Unterlagen'.Das LG hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Bekl. blieb erfolglos.

1. Das LG führte aus, die Bekl. habe das postmortale Persönlichkeitsrecht des im Jahre 1965 verstorbenen Arztes Dr. A schuldhaft und widerrechtlich verletzt.
2. Diesen Ausführungen ist im Ergebnis beizutreten. Der BGH billigt in seiner Rechtsprechung (vgl. BGHZ 15, 249 (259) = NJW 1955, 260 = LM Art. 2 GrundG (L) Nr. 8; BGHZ 50, 133 = NJW 1968, 1773 = LM Art. 2 GrundG (L) Nr. 40) auch dem Toten in bestimmtem Umfang ein allgemeines Persönlichkeitsrecht zu, soweit es sich um grobe Entstellungen des Lebensbildes des Verstorbenen handelt. Den Angehörigen wird ein Anspruch auf Unterlassung, nicht jedoch auf Ersatz des Nichtvermögensschadens in Geld zugesprochen. Der Unterlassungsanspruch wird vor allem damit begründet, daß die Menschenwürde und die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu Lebzeiten nur dann im Sinn des Grundgesetzes hinreichend gewährleistet sind (Art. 1 I, 2 I GG), wenn der einzelne auf einen Schutz seines Lebensbildes wenigstens gegen grobe ehrverletzende Entstellungen nach seinem Tode vertrauen und in dieser Erwartung leben kann. Der postmortale Persönlichkeitsschutz verliert erst an Bedeutung, wenn das Bild des Verstorbenen verblaßt und die Erinnerung an ihn erlischt.
Obwohl der postmortale Persönlichkeitsschutz mit zunehmend zeitlichen Abstand Einschränkungen erfährt, ist das Persönlichkeitsrecht nicht auf einen bestimmten Zeitraum nach dem Tode beschränkt. Insbesondere erscheint eine entsprechende Anwendung der Zehn-Jahresfrist des  § 22 S. 3 KUG oder des  § 64 UrhG, der ein Erlöschen des Urheberrechts 70 Jahre nach dem Tode des Urhebers vorsieht, nicht vertretbar, weil beide Gesetze dem Schutz anderer Rechtsgüter, die nur Ausschnitte des Persönlichkeitsrechts betreffen, dienen. Die fehlende gesetzgeberische Befristung des postmortalen Persönlichkeitsschutzes läßt andererseits den Schutz des Lebensbildes nach dem Tode nicht uferlos ausarten. Denn eine gewisse zeitliche Begrenzung liegt bereits in dem Umstand, daß die Persönlichkeitsrechte des Verstorbenen nicht jedermann, sondern nur die engsten Angehörigen, also ein enger Kreis von überlebenden Verwandten, geltend machen können. Davon abgesehen setzt die Geltendmachung eines entsprechenden Unterlassungsanspruches voraus, daß der betroffene Angehörige ein ausreichendes Rechtsschutzbedürfnis dartun kann. Im übrigen ist es aber auch nicht vertretbar, daß ausschließlich international bekannte Persönlichkeiten, wie beispielsweise Schauspieler oder Künstlerin, in den Genuß des postmortalen Persönlichkeitsrechts gelangen können. Es kann nämlich nur darauf ankommen, ob das Interesse der Öffentlichkeit an einer bestimmten Person durch ihr allgemein herausragendes Leben und Wirken oder durch ein Einzelergebnis geweckt worden ist und zusätzlich ein Rechtsschutzbedürfnis an der Korrektur der  Verunglimpfung des Charakter- und Lebensbildes des Verstorbenen durch einen nahen Angehörigen besteht.
In Anwendung dieser Grundsätze hat das LG eine Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts des verstorbenen Arztes Dr. A zu Recht bejaht. Die Frage der zwangsweisen Vornahme von Abtreibungen an Fremdarbeiterinnen im sog. Dritten Reich hat auch fast 50 Jahre nach Kriegsende zu erheblichem Aufsehen in der Bevölkerung, insbesondere in P. und Umgebung, geführt. Die Witwe und die Kinder des Verstorbenen leben weiterhin in der selben Gegend, in der der Verstorbene als Arzt gewirkt hat. Zwei leibliche Kinder des Verstorbenen sind ebenfalls im Raume P. als Ärzte tätig. Unter diesen Umständen ist den Angehörigen des Verstorbenen ein besonderes Interesse, gegen grobe Entstellungen des Lebensbildes des Verstorbenen vorzugehen, nicht abzusprechen.
3. Entgegen der Auffassung der Bekl. sind ihr die übertreibenden und verzerrenden Veröffentlichungen in den betreffenden Presseschriften zuzurechnen. Es ist richtig, daß beide Veröffentlichungen nicht aus ihrer eigenen Feder stammen. Die Bekl. hat aber als Informantin gedient; den beiden Veröffentlichungen liegen bestimmte Äußerungen der Bekl. zugrunde. Es handelt sich im einzelnen um eine verkürzte, aber zutreffende Wiedergabe ihrer Äußerungen. Es läßt sich zwar heute nicht mehr feststellen, ob es sich bei den beiden Berichten um eine exakte Wiedergabe der Angaben der Bekl. handelt. Daß die Angaben der Bekl. aber zumindest dem Sinne nach richtig wiedergegeben sind, läßt sich aus den unabhängig voneinander zustandegekommenen Presseveröffentlichungen, denen jeweils ein eigenes Interview der Bekl. zugrunde liegt, schließen. Es deutet nichts darauf hin, daß eine Presseveröffentlichung auch nur auszugsweise von der anderen angeschrieben ist. Hinzu kommt, daß die Bekl. selbst in erster Instanz eingeräumt hat, daß ihre Äußerungen dem Sinne nach richtig wiedergegeben sind. Für eine etwaige Abweichung wäre aber die Bekl. aufgrund ihres bisherigen prozessualen Verhaltens darlegungs- und Beweispflichtig.
4. Daß die Vorwürfe der Bekl., der verstorbene Arzt Dr. A habe bei den Zwangsabtreibungen eine besonders verwerfliche sadistische Methode entwickelt, indem er die Operationen ohne Narkose und erst im achten oder neunten Schwangerschaftsmonat durchgeführt hat, nicht glaubhaft gemacht wird, hat das LG zutreffend festgestellt. Die vorgelegten Urkunden und Erklärungen von Zeugen ergeben gerade nicht das Bild, das die Bekl. von dem verstorbenen Arzt entworfen hat. Es kann insbesondere nicht festgestellt werden, daß Dr. A in allen 200 Fällen aus sadistischen Motiven heraus ohne Narkose operiert hat, wenn auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, daß im Jahre 1945 aus Mangel an Betäubungsmitteln in Einzelfällen ohne Narkose operiert worden ist. Es ergibt sich aus den Unterlagen auch nicht, daß Dr. A im Operationssaal gegenüber den Fremdarbeiterinnen Zwang ausgeübt hat. Aus den Unterlagen ist vielmehr zu entnehmen, daß die Drohung mit Zwang offensichtlich bereits im Vorfeld vom Arbeitsamt ausgeübt wurde, indem die Arbeiterinnen vor die Wahl gestellt wurden, entweder in eine Abtreibung einzuwilligen oder ins KZ verbracht zu werden.
5. Das Recht der Bekl., die es sich zur Aufgabe gemacht hat, als Historikerin nationalsozialistisches Verbrechen im Raum P. aufzuklären, das Verhalten und das Lebensbild einer bestimmten Persönlichkeit kritisch zu beurteilen, findet nach der ausdrücklichen Regelung in Art. 5 II GG seine Schranke in dem Recht der persönlichen Ehre. Es ist jedenfalls nicht gerechtfertigt, das Leitbild des verstorbenen Arztes, auf den sie bei ihren Forschungen gestoßen ist, grob zu entstellen. Die verzerrende Darstellung der Bekl. mittels einseitig ausgelegter historischer Urkunden, die eine Deutung i. S. der Bekl. als unzutreffend erscheinen lassen, ist durch die verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Freiheit der Wissenschaft und Lehre nicht gedeckt (Art. 5 GG). Obwohl zugunsten der Bekl. zu berücksichtigen ist, daß es sich bei dem verstorbenen Arzt entsprechend seinem Lebensweg offenbar um einen überzeugten Nationalsozialisten gehandelt hat, der sich nicht geweigert hat, in etwa 200 Fällen Abtreibungen vorzunehmen, sind die von der Bekl. zu vertretenden Entstellungen derartig schwerwiegend, daß der Durchschnittsleser nur zu dem Schluß gelangen kann, es habe sich bei Dr. A nicht nur um einen im Dienst des damaligen Regimes tätigen Arzt, sondern um einen ungewöhnlich niederträchtigen Menschen und Kriegsverbrecher gehandelt, der seine Opfer sadistisch gequält hat. Gerade die verkürzte Darstellung des Sachverhalts führt zu einer nicht zu vertretenden Entstellung der Persönlichkeit des Arztes, die die Kl. in Wahrnehmung der Rechte des Verstorbenen nicht hinzunehmen brauchen.
6. Da ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht durch die Presseveröffentlichungen bereits stattgefunden hat, ist die Wiederholungsgefahr zu vermuten. Der Annahme der Wiederholungsgefahr steht auch nicht entgegen, daß das Buch der Bekl. das nach übereinstimmender Erledigungserklärung in der Hauptsache nicht Gegenstand dieser Entscheidung ist, die in den verkürzenden Presseinterviews gemachten Behauptungen in dieser Form nicht enthält. Die Berufung war deshalb als unbegründet zurückzuweisen. Daß die Kl. keinen eigenen Unterlassungsanspruch haben hat das LG zutreffend festgestellt. Insoweit hat jedoch eine gesonderte Klageabweisung zu erfolgen, zumal an diesen Unterlassungsanspruch andere Rechtsfolgen geknüpft sind.



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