Abgrenzung von Willenserklärung und geschäftsähnlicher Handlung, (keine) Anwendbarkeit von § 174 BGB auf die Geltendmachung von Ansprüchen zur Wahrung von Ausschlußfristen


BAG, Urteil vom 14. 8. 2002 - 5 AZR 341/01


Fundstelle:

BAG NJW 2003, 236


Zentrale Probleme:

Es geht um den Begriff der „geschäftsähnlichen Handlung“ und der analogen Anwendbarkeit der Regeln über die Willenserklärung hierauf. Im vorliegenden Fall geht es um eine (im Tarifvertrag) vorgesehene Ausschlußfrist für die Geltendmachung eines Anspruchs auf Lohnfortzahlung, dessen Geltendmachung durch einen Stellvertreter der Arbeitgeber nach § 174 BGB zurückgewiesen hatte, weil dieser keine Vollmachtsurkunde vorgelegt hatte.
Nach wohl hM sind auf sog. „geschäftsähnliche Handlungen“ die Vorschriften über die Willenserklärung analog anzuwenden. Das BAG sieht dies zumindest für den vorliegenden Fall anders, verschweigt dabei aber eine gegenteilige Ansicht des BGH, der für einen ganz ähnlichen Fall (Ausschlußfrist nach § 651g I 2 BGB a.F.) in einer sehr sorgsam begründeten Entscheidung gegenteilig entschieden hatte (s. BGH NJW 2001, 289). Die neue Fassung dieser Norm, die nunmehr die Anwendbarkeit von § 174 BGB ausdrücklich ausschließt, läßt e contrario ebenfalls auf die Anwendbarkeit von § 174 BGB auf die Wahrung von Ausschlußfristen durch Geltendmachung eines Anspruchs schließen. Freilich können die Regeln über die Willenserklärung nicht auf alle geschäftsähnlichen Handlungen pauschal analog angewendet werden. Vielmehr ist jeweils den spezifischen Eigenarten und der Interessenlage bei der in Frage stehenden Handlung Rechnung zu tragen. Ein fundamentaler Unterschied zur hier maßgeblichen Frist ist aber kaum erkennbar. Vielleicht steht hinter der kompletten Ignorierung der Entscheidung des BGH die Tatsache, daß das BAG eine Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 I des RsprEinhG zumindest hätte in Erwägung ziehen müssen (s. zu diesem Verfahren die Anm. zu NJW 1998, 3649 ff).

©sl 2003


Amtl. Leitsatz: 

§ 174 BGB findet auf die Geltendmachung von Ansprüchen zur Wahrung einer tariflichen Ausschlussfrist keine entsprechende Anwendung.


Zum Sachverhalt:

Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Der Kl. war beim bekl. Dachdeckerunternehmen als Arbeiter zu einem Stundenlohn von 23,50 DM brutto beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fand der für allgemeinverbindlich erklärte Rahmentarifvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer im Dachdeckerhandwerk in der Bundesrepublik Deutschland (RTV) Anwendung. Die Bekl. kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 11. 10. 1999 zum 25. 10. 1999. Dem Kl. wurde das Kündigungsschreiben am 12. 10. 1999 übergeben. Ab dem folgenden Tag, dem 13. 10. 1999, war der Kl. bis zum 22. 10. 1999 krank. Die Bekl. leistete keine Entgeltfortzahlung. Mit Schreiben seiner bevollmächtigten Anwälte vom 10. 12. 1999, das der Bekl. am 14. 12. 1999 zuging, forderte der Kl. Entgeltfortzahlung für die Zeit vom 13. bis zum 22. 10. 1999 in Höhe von 1504 DM brutto. Diesem Schreiben war eine Vollmachtsurkunde nicht beigefügt. Die Bekl. wies die Geltendmachung mit einem den Rechtsanwälten des Kl. am 22. 12. 1999 zugegangenen Schreiben „mangels Vorlage einer Bevollmächtigung“ zurück. Zugleich lehnte sie die Zahlung ab, weil die Ansprüche nicht bestünden. Mit seiner beim ArbG am 21. 2. 2000 eingegangen Klage verlangt der Kl. von der Bekl. Entgeltfortzahlung für die Zeit vom 13. bis zum 22. 10. 1999. Der Kl. hat beantragt, die Bekl. zu verurteilen, an den Kl. 1504 DM brutto nebst 4% Zinsen seit dem 22. 1. 2000 aus dem entsprechenden Nettobetrag zu zahlen. Die Bekl. hat die Auffassung vertreten, der Kl. habe die tarifliche Ausschlussfrist nicht gewahrt.

Die Vorinstanzen haben der Klage nach Beweisaufnahme über die Arbeitsunfähigkeit des Kl. stattgegeben. Mit ihrer Revision verfolgt die Bekl. ihren Klageabweisungsantrag weiter. Während des Revisionsverfahrens hat das AG Marburg die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Bekl. mangels Masse abgelehnt. Die Auflösung der Gesellschaft ist in das Handelsregister eingetragen worden. Die Revision hatte keinen Erfolg.

Aus den Gründen:

I. Die Klage ist nach wie vor zulässig …

II. Das LAG hat die Bekl. im Ergebnis zu Recht verurteilt, an den Kl. 1504 DM brutto zu zahlen.

1. Der Kl. kann von der Bekl. gem. §§ 3 I , 4 I EFZG für die Zeit vom 13. bis zum 22. 10. 1999 Entgeltfortzahlung in rechnerisch unstreitiger Höhe von 1504 DM brutto verlangen. Der Kl. war in dem genannten Zeitraum arbeitsunfähig krank. Dies hat das LAG auf Grund der durchgeführten Beweisaufnahme, die nicht mit Verfahrensrügen angegriffen ist, festgestellt.

2. Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung ist nicht nach § 54 I RTV verfallen. Nach dieser Bestimmung verfallen alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, wenn sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht werden. Lehnt die Gegenpartei den schriftlich geltend gemachten Anspruch ab oder erklärt sie sich nicht innerhalb von zwei Wochen nach der Geltendmachung des Anspruchs, so verfällt dieser, wenn er nicht innerhalb von zwei Wochen nach der Ablehnung oder dem Fristablauf gerichtlich geltend gemacht wird.

a) Der Kl. hat seinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall innerhalb von zwei Monaten nach Fälligkeit gegenüber der Bekl. schriftlich geltend gemacht. Die Geltendmachung erfolgte mit Schreiben der vom Kl. bevollmächtigten Rechtsanwälte vom 10. 12. 1999, das der Bekl. am 14. 12. 1999 zuging.

b) Die Geltendmachung ist nicht nach § 174 S. 1 BGB unwirksam. Diese Vorschrift findet auf die Geltendmachung von Ansprüchen zur Wahrung tariflicher Ausschlussfristen keine entsprechende Anwendung.

aa) Die Geltendmachung eines Anspruchs zur Wahrung tariflicher Ausschlussfristen ist keine Willenserklärung, sondern eine einseitige rechtsgeschäftsähnliche Handlung, auf die die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über Rechtsgeschäfte entsprechend ihrer Eigenart analoge Anwendung finden. Während ein Rechtsgeschäft aus einer oder mehreren Willenserklärungen besteht, die allein oder in Verbindung mit anderen Tatbestandsmerkmalen eine Rechtsfolge herbeiführen, weil diese gewollt ist, sind geschäftsähnliche Handlungen auf einen tatsächlichen Erfolg gerichtete Erklärungen, deren Rechtsfolgen kraft Gesetzes eintreten. Die Geltendmachung von Ansprüchen zur Wahrung tariflicher Ausschlussfristen ist nicht auf die Herbeiführung einer Rechtsfolge kraft rechtsgeschäftlichen Willens, sondern auf die durch den Tarifvertrag angeordnete Rechtsfolge gerichtet (vgl. Senat, BAGE 96, 28 = NJW 2001, 989 = NZA 2001, 231 = AP TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 153).

bb) Eine analoge Anwendung des § 174 BGB auf die Geltendmachung von Ansprüchen zur Wahrung tariflicher Ausschlussfristen ist nicht gerechtfertigt (ebenso Menssen, in: Festschr. zum 50-jährigen Bestehen der Arbeitsgerichtsbarkeit in Rheinland-Pfalz, 1999, S. 205ff.). Ausschlussfristen dienen dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit. Der Schuldner soll sich darauf verlassen können, dass nach Ablauf der Ausschlussfrist gegen ihn keine Ansprüche mehr erhoben werden (ErfK/Preis, 2. Aufl., BGB, §§ 194 bis 225 Rdnr. 28; Wiedemann/Wank, TVG, 6. Aufl., § 4 Rdnr. 721). Bei einer schriftlichen Geltendmachung durch einen bevollmächtigten Vertreter, der keine Vollmachtsurkunde vorlegt, wird dieser Zweck der Ausschlussfristen gewahrt. Der Schuldner kann sich auch in diesem Fall nicht mehr darauf verlassen, dass nach Ablauf der Ausschlussfrist gegen ihn keine Ansprüche mehr geltend gemacht werden. Anders als bei einem einseitigen Rechtsgeschäft, das wie beispielsweise eine Kündigung rechtsgestaltend auf das Arbeitsverhältnis einwirkt und dieses verändert, hat der Empfänger einer schriftlichen Geltendmachung kein durch § 174 BGB zu schützendes Interesse, unverzüglich klare Verhältnisse zu schaffen (vgl. zu diesem Grundgedanken des § 174 BGB Soergel/Leptien, BGB, 13. Aufl., § 174 Rdnr. 1). Die mit § 174 BGB bezweckte Wahrung der Gewissheitsinteressen des Dritten (Schramm, in: MünchKomm, 4. Aufl., § 174 Rdnr. 1) erfordert keine analoge Anwendung auf die Geltendmachung von Ansprüchen zur Wahrung von Ausschlussfristen, denn hierdurch wird der Schuldner lediglich zur Erfüllung eines Anspruchs aufgefordert und keine weitere gestaltende Wirkung ausgelöst.

c) Die Geltendmachung des Anspruchs muss allerdings durch einen bevollmächtigten Vertreter erfolgen. Entsprechend § 180 S. 1 BGB ist ein Handeln eines Vertreters ohne Vertretungsmacht unzulässig. Eine Genehmigung nach § 180 S. 2 BGB kommt nicht in Betracht, weil dies der mit den Ausschlussfristen bezweckten Rechtssicherheit entgegenstünde (ebenso Rieble, Anm. zu Senat, NZA 1995, 1068 = EzA TVG § 4 Ausschlussfrist Nr. 111). In Zweifelsfällen hat der Gläubiger die Bevollmächtigung des Vertreters zur Zeit der Geltendmachung des Anspruchs darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen.

d) Scheidet nach alledem eine analoge Anwendung des § 174 BGB auf die Geltendmachung der Entgeltfortzahlungsansprüche des Kl. zur Wahrung der Ausschlussfrist des § 54 Nr. 1 RTV aus, ist der Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 1504,00 DM nicht erloschen. Dabei kann offen bleiben, ob die Frist zur Geltendmachung mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 26. 10. 1999 oder mit der Übergabe der Abrechnung am 11. oder 12. 11. 1999 zu laufen begann. Selbst wenn auf den 26. 10. 1999 abgestellt würde, war die am 14. 12. 1999 bei der Bekl. eingegangene Geltendmachung fristgerecht.

Nachdem die Bekl. mit einem den Rechtsanwälten des Kl. am 22. 12. 1999 zugegangenen Schreiben vom 18. 12. 1999 die erhobenen Vergütungsansprüche zurückgewiesen hatte, wahrte die am 21. 2. 2000 beim ArbG eingegangene Zahlungsklage auch die zweite Stufe der Ausschlussfrist, nämlich die gerichtliche Geltendmachung des Anspruchs innerhalb von zwei Monaten nach Ablehnung. Die Fristwahrung bestimmt sich nach den §§ 253 I und V , 270 III ZPO (BAGE 79, 285 [294] = NZA 1995, 1213 = AP TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 129).