Materielle Rechtskraft und Durchbrechung
nach § 826 BGB: Verfassungsrechtliche Bedeutung der materiellen Rechtskraft
BVerfG (1. Kammer des Ersten
Senats), Beschluß v. 08.10.1992 - 1 BvR 1262/92
Fundstelle:
NJW 1993, 1125
s. auch BGH NJW 2002, 2940
Die Verfassungsbeschwerde [Anm. SL: gegen ein
Urteil, welches eine auf § 826 BGB gestützte Klage gegen die
Vollstreckung aus einem Vollstreckungsbescheid abgewiesen hat; vgl. dazu
etwa BGH NJW 1998, 2818] wurde mangels
hinreichender Aussicht auf Erfolg nicht zur Entscheidung angenommen.
Ein Verstoß der angegriffenen Entscheidungen
gegen das Rechtsstaatsprinzip ist nicht ersichtlich.
1. Die Rechtssicherheit ist ein wesentliches
Element der Rechtsstaatlichkeit und damit eines Konstitutionsprinzips des
Grundgesetzes (BVerfGE 60, 253 (267) = NJW 1982, 2425). Aus ihm
folgt die grundsätzliche Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger
Entscheidungen und sonstiger in Rechtskraft erwachsener Akte der öffentlichen
Gewalt. Tritt dieser Grundsatz mit dem Gebot der Gerechtigkeit im Einzelfall
in Widerstreit, so ist es Sache des Gesetzgebers und der Rechtsprechung,
das Gewicht, das ihnen in dem zu regelnden Fall zukommt, abzuwägen
und zu entscheiden, welchem der beiden Prinzipien der Vorzug gegeben werden
soll (vgl. BVerfGE 15, 313 (319) = NJW 1963, 851). Um der Rechtssicherheit
willen darf die Rechtsordnung über das Institut der Rechtskraft in
Kauf nehmen, daß selbst unrichtige Gerichtsentscheidungen für
den Einzelfall endgültig verbindlich sind (BVerfGE 2, 380 (403)
= NJW 1953, 1137; BVerfGE 60, 253 (268) = NJW 1982, 2425).
2. Das OLG hat in Einklang mit der höchstrichterlichen
Rechtsprechung zur analogen Anwendung des § 656 BGB auf Partnerschaftsvermittlungsverträge
(BGH, NJW 1990, 2550) festgestellt, daß der Bekl. materiellrechtlich
kein Anspruch auf die von ihr geltend gemachte Forderung zusteht. Es hat
- ebenfalls in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH (BGH,
NJW 1987, 3256) - einen auf § 826 BGB gestützten Anspruch auf
Unterlassung einer weiteren Vollstreckung eines gleichwohl über diese
Forderung erwirkten rechtskräftigen Vollstreckungsbescheids verneint,
da die Bekl. zum Zeitpunkt der Beantragung des Vollstreckungsbescheids
nach der damaligen Rechtsprechung nicht von einer materiellrechtlichen
Unrichtigkeit der Forderung ausgehen mußte. Der auf diese Weise ermittelte
Vorrang des Prinzips der Rechtssicherheit im Verhältnis zum Gebot
der Gerechtigkeit im Einzelfall beruht auf den Grundsätzen, die in
der fachgerichtlichen Rechtsprechung zur Durchsetzung der Rechtskraft einer
Entscheidung auf der Grundlage von § 826 BGB entwickelt worden sind,
und steht mit den geschilderten verfassungsrechtlichen Grundsätzen
in Einklang. Ob die Rechtsprechung bei der Abwägung zwischen dem Grundsatz
der Rechtssicherheit und der Forderung nach Gerechtigkeit zu der bestmöglichen
Lösung gekommen ist, hat das BVerfG nicht nachzuprüfen (BVerfGE
15, 313 (322) = NJW 1963, 851).
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