Angehörigenbürgschaften und (k)ein Ende: Analoge
Anwendung von § 79 II BVerfGG bei Änderung der Rechtsprechung aufgrund
eines verfassungsgerichtlichen Urteils; (keine) Unzulässigkeit der
Vollstreckung aus einem nach heutiger Erkenntnis möglicherweise
unrichtigen Urteil aus § 826 BGB; Schutz der materiellen Rechtskraft
BGH, Urteil vom 11. Juli 2002 - IX ZR 325/99 - OLG Köln - LG Köln
Fundstelle:
NJW 2002, 2940
für BGHZ vorgesehen
Zentrale Probleme:
Im Mittelpunkt des sehr lehrreichen Falles
steht das Problem der materiellen Rechtskraft und ihrer Durchbrechung. Der
Beklagte vollstreckte aus einem Urteil, das vor der Änderung der
Rechtsprechung des BGH infolge des "Bürgschaftsbeschlusses" des BVerfG (BVerfG
NJW 1994, 36 = BVerfGE 89, 214) ergangen
war und auf der Basis der jetzigen Rechtsprechung (s. dazu zuletzt
BGH NJW 2002, 2705
m.w.N.) wohl "falsch" ist. Nach § 79 II BVerfGG ist die Vollstreckung aus
einem Urteil unzulässig, das "auf einer mit dem Grundgesetz für
unvereinbar oder nach § 78 für nichtig erklärten Norm oder auf der
Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für
unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist", wobei bei
Zivilurteilen § 767 ZPO entsprechend anzuwenden ist.
§ 79 BVerfGG
(1) Gegen ein rechtskräftiges
Strafurteil, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder
nach § 78 für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer
Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit
dem Grundgesetz erklärt worden ist, ist die Wiederaufnahme des
Verfahrens nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung zulässig.
(2) Im übrigen bleiben vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2
oder einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr
anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 für nichtig
erklärten Norm beruhen, unberührt. Die Vollstreckung aus einer
solchen Entscheidung ist unzulässig. Soweit die Zwangsvollstreckung
nach den Vorschriften der Zivilprozeßordnung durchzuführen ist, gilt
die Vorschrift des § 767 der Zivilprozeßordnung entsprechend.
Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung sind ausgeschlossen.
|
Der BGH legt zu Recht dar, daß dies bei der
Entscheidung des BVerfG in Bezug auf die "Angehörigenbürgschaften" nicht
der Fall war. Das BVerfG hat dort weder eine Norm für nichtig erklärt noch
eine bestimmte Auslegung für verfassungswidrig erklärt. Die Verletzung von
Art. 2 I GG (nämlich der grundrechtlich geschützten Privatautonomie)
bestand ausschließlich in der falschen Anwendung geltenden Rechts durch
den BGH, d.h. in der Gerichtsentscheidung als Akt staatlicher Gewalt, und
nicht in einzelnen Rechtsnormen. Die Mechanismen des geltenden Rechts zur
Wahrung der Privatautonomie wurden vielmehr ausdrücklich für ausreichend
erachtet (s.
aaO unter C. II. 2. c:
"Das geltende Vertragsrecht genügt diesen Anforderungen").
Damit konnte die Zwangsvollstreckung allenfalls über § 826 BGB auf
materiellrechtlichem Weg verhindert werden. Der BGH verneint dies unter
Hinweis auf die st. Rspr. zu dieser Problematik: Zum Schutz der
materiellen Rechtskraft kann nur in ganz eng begrenzten, typisierbaren
Ausnahmefällen mit § 826 BGB gegen einen rechtskräftigen Titel vorgegangen
werden. I.d.R. setzt dies neben der Unrichtigkeit des Titels weitere die
Sittenwidrigkeit begründenden Elemente wie etwa das "Erschleichen" eines
Titels durch den Gläubiger voraus, s. dazu
BGH
NJW 1998, 2818 sowie BGH
NJW 1999, 1257. Ob in krassen
Ausnahmefällen bereits die Unrichtigkeit des Titels allein ausreichend
ist, um in der Vollstreckung eine sittenwidrige Schädigung i.S.v. § 826
BGB zu sehen, läßt die Entscheidung offen.
Auch diese Abwägung zwischen Rechtssicherheit/Rechtsfrieden und
Einzelfallgerechtigkeit ist übrigens verfassungsgerichtlich bestätigt,
denn die Rechtssicherheit ist ein wesentliches Element der
Rechtsstaatlichkeit und damit eines Konstitutionsprinzips des
Grundgesetzes. Um der Rechtssicherheit
willen darf die Rechtsordnung über das Institut der Rechtskraft in
Kauf nehmen, daß selbst unrichtige Gerichtsentscheidungen für
den Einzelfall endgültig verbindlich sind (s.
BVerfG
NJW 1993, 1125).
©sl 2002
Amtl. Leitsätze:
a) § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG bezieht sich nicht auf Erkenntnisse des
Bundesverfassungsgerichtes, die eine gerichtliche Entscheidung wegen
verfassungsrechtlicher Mängel aufheben, den inhaltlichen Bestand der
einschlägigen Rechtsvorschriften jedoch unberührt lassen.
b) Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes vom 19. Oktober 1993, mit
dem ein die Haftung eines finanziell überforderten Bürgen betreffendes
Urteil des Bundesgerichtshofes aufgehoben wurde, bezeichnet nicht eine
bestimmte Normauslegung als mit dem Grundgesetz unvereinbar; daher kann
auf diese Entscheidung nicht eine Vollstreckungsabwehrklage gegen einen
Titel gestützt werden, der die Forderung aus einem Bürgschaftsvertrag
betrifft, welcher nach nunmehr geltender höchstrichterlicher
Rechtsprechung wegen Sittenwidrigkeit nichtig ist.
c) Die Vollstreckung aus einem vor der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes vom 19. Oktober 1993 erwirkten Urteil über die
Forderung aus einer Bürgschaft, die nach nunmehr geltender
höchstrichterlicher Rechtsprechung wegen Sittenwidrigkeit nichtig ist,
kann im allgemeinen nicht mit der Klage aus § 826 BGB abgewehrt werden.
Tatbestand:
Die beklagte Bank hatte dem Ehemann der Klägerin in den Jahren 1986/87 für
das von ihm betriebene Geschäft verschiedene Kredite im Gesamtvolumen von
180.000 DM gewährt. Im Zusammenhang mit einer Neuordnung der
Darlehensverträge übersandte die Beklagte der Klägerin Ende des Jahres
1987 ein Formular über eine Höchstbetragsbürgschaft von 200.000 DM zur
Absicherung der Forderungen aus der Geschäftsverbindung mit deren Ehemann.
Die Klägerin, die sich damals ausschließlich der Haushaltsführung und
Kindererziehung widmete und kein nennenswertes Vermögen besaß,
unterzeichnete die Bürgschaftsurkunde am 4. Januar 1988 und leitete sie
der Beklagten zu. Dieser war als weitere Sicherheit eine Grundschuld in
Höhe von 50.000 DM auf einem den Eltern der Klägerin gehörenden
Hausgrundstück eingeräumt worden. Im März 1988 verschaffte ihr der
Kreditnehmer darüber hinaus das Pfandrecht an Wertpapieren sowie die
Rechte aus zwei Lebensversicherungsverträgen.
Anfang des Jahres 1991 kündigte die Beklagte die Geschäftsverbindung zum
Hauptschuldner wegen Zahlungsverzuges und stellte eine Gesamtforderung von
201.497,66 DM fällig. Nach Verwertung der übrigen Sicherheiten nahm sie
die Beklagte in Höhe einer Restforderung von 70.882,06 DM zuzüglich Zinsen
gerichtlich aus der Bürgschaft in Anspruch. Die Beklagte beauftragte einen
Rechtsanwalt, der die Klageerwiderung einreichte und die Gewährung von
Prozeßkostenhilfe beantragte. Mit ausführlich begründetem Beschluß vom 13.
Juli 1992 lehnte das Landgericht den Antrag ab, weil die
Rechtsverteidigung der heutigen Klägerin keine hinreichende Aussicht auf
Erfolg habe. Im Verhandlungstermin trat der Prozeßbevollmächtigte deshalb
nicht für die Klägerin auf. Das am 14. Oktober 1992 zugunsten der
Beklagten ergangene und der Klägerin am 21. Oktober 1992 zugestellte
Versäumnisurteil wurde rechtskräftig.
Die Klägerin lebte seit 1991 von ihrem Ehemann getrennt. Die Ehe wurde
durch ein am 26. Oktober 1992 rechtskräftig gewordenes Urteil geschieden.
Die Klägerin wendet sich mit der nunmehr eingereichten Klage gegen die
Vollstreckung aus dem Versäumnisurteil sowie dem im Erstprozeß ergangenen
Kostenfestsetzungsbeschluß. Sie ist der Ansicht, die im Jahre 1988
erteilte Bürgschaft sei gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig. Die ihr ungünstige
Entscheidung des Landgerichts im Vorprozeß beruhe auf einer Auslegung
jener Vorschrift, die das Bundesverfassungsgericht mit Beschluß vom 19.
Oktober 1993 für verfassungswidrig erklärt habe. Daher sei die weitere
Vollstreckung aus den zugunsten der Beklagten ergangenen Titeln gemäß § 79
Abs. 2 Satz 2 BVerfGG unzulässig. Die Klägerin meint weiter, sie könne
außerdem im Wege der Vollstreckungsabwehrklage geltend machen, daß das
ursprüngliche Sicherungsinteresse der Bank, das sich nur auf den Schutz
vor Vermögensverschiebungen bezogen habe, entfallen sei. Hilfsweise hat
die Klägerin Unterlassung der Vollstreckung sowie Herausgabe des Titels
verlangt, weil dessen weitere Ausnutzung in Anbetracht der Rechtslage eine
vorsätzliche sittenwidrige Schädigung darstelle. Das Berufungsgericht hat
das dem Hauptantrag stattgebende Urteil des Landgerichts aufgehoben und
die Klage abgewiesen. Mit der Revision begehrt die Klägerin die
Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe:
Die Revision hat keinen Erfolg.
I.
Die Revision macht allerdings zu Recht geltend, daß der Bürgschaftsvertrag
vom 4. Januar 1988 auf der Grundlage der heutigen Rechtsprechung des IX.
und des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes wegen Sittenwidrigkeit (§
138 Abs. 1 BGB) als nichtig anzusehen sei.
1. Die Klägerin wurde durch die Übernahme einer Haftungsverpflichtung von
200.000 DM finanziell kraß überfordert; denn im Zeitpunkt des
Vertragsschlusses war davon auszugehen, sie werde bei Eintritt des
Bürgschaftsfalles nicht einmal in der Lage sein, die Zinsen der
Hauptschuld aufzubringen (vgl. BGHZ
146, 37, 42; BGH, Urt. v. 27. Januar
2000 - IX ZR 198/98, WM 2000, 410, 411 f). Die anderweitigen Sicherheiten,
die das Kreditinstitut erhalten hatte, sind bei der Beurteilung der
finanziellen Überforderung nicht zu berücksichtigen, weil sie das
Haftungsrisiko des Bürgen nicht in rechtlich gesicherter Weise
eingeschränkt haben: Die Beklagte hatte die den Bürgen schützende
Bestimmung des § 776 BGB formularmäßig abbedungen (vgl. BGHZ 136, 347, 352
f; BGHZ 146, 37, 44). Im übrigen wäre die Klägerin nicht einmal in der Lage
gewesen, die Zinsen für den durch die übrigen Sicherheiten nicht gedeckten
Teil der Hauptschuld aufzubringen.
2. Nach der Rechtsprechung des XI. Zivilsenats spricht in einem solchen
Falle bereits ohne Hinzutreten weiterer Umstände eine widerlegliche
tatsächliche Vermutung dafür, daß sich der Ehegatte oder nahe Angehörige
bei der Haftungsübernahme nicht von einer rationalen Einschätzung des
wirtschaftlichen Risikos hat leiten lassen und das Kreditinstitut die
emotionale Beziehung zwischen Hauptschuldner und Bürgen in sittlich
anstößiger Weise ausgenutzt hat (BGHZ
146, 37, 42;
Urt. v. 14. Mai 2002 -
XI ZR 50/01, WM 2002,1347, 1349 f; v. 14. Mai 2002 - XI ZR 81/01, WM 2002,
1350, 1351 f). Tatsachen, die geeignet sind, eine solche Vermutung zu
widerlegen, hat die beklagte Bank nicht vorgetragen.
Zwar verlangt der IX. Zivilsenat trotz krasser finanzieller Überforderung
zusätzlich, daß der Bürgschaftsvertrag sich in jeder Hinsicht als
wirtschaftlich sinnlos erweist, was er bei vor dem Jahr 1999
abgeschlossenen Verträgen verneint, wenn der Gläubiger begründeten Anlaß
hatte, die Bürgschaft zum Schutz vor Vermögensverlagerungen zwischen dem
Kreditnehmer und dessen Lebenspartner hereinzunehmen (vgl. BGHZ 134, 325,
327 f; BGH, Urt. v. 25. November 1999 - IX ZR 40/98, WM 2000, 23, 24). Ein
entsprechendes Interesse der kreditgebenden Bank erkennt diese
Rechtsprechung jedoch nur an, soweit dieser für ihre Forderungen gegen den
Hauptschuldner keine anderweitigen Sicherheiten zur Verfügung stehen. Die
Beklagte hatte hier Sachsicherheiten im Gesamtwert von mindestens 50.000
DM erhalten. Daher war es unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt
vertretbar, mit der Klägerin einen Bürgschaftsvertrag über 200.000 DM
abzuschließen. Der vertraglich vereinbarte Umfang der Bürgschaft steht
daher nicht in einer vernünftigen Relation zu dem von der Bank geltend
gemachten Sicherungsinteresse. Damit verstößt die Bürgschaft auch aus
diesem Grunde gegen die guten Sitten und ist gemäß § 138 Abs. 1 BGB
nichtig (vgl. BGHZ 136, 347, 352 f; BGH, Urt. v. 8. Oktober 1998 - IX ZR
257/97, WM 1998, 2327, 2328; v. 27. Januar 2000 - IX ZR 198/98, WM 2000,
410, 412).
II.
1. Das im Vorprozeß ergangene, auf der im Beschluß vom 13. Juli 1992
niedergelegten Rechtsauffassung des Landgerichts beruhende
Versäumnisurteil vom 14. Oktober 1992 stand indessen damals mit der
Rechtsprechung des zu jener Zeit für das Bürgschaftsrecht zuständigen IX.
Zivilsenats des Bundesgerichtshofes in Einklang (vgl. BGHZ 106, 269; 107,
92; BGH, Urt. v. 16. März 1989 - IX ZR 171/88, ZIP 1989, 629; v. 16.
Januar 1992 - IX ZR 113/91, ZIP 1992, 233). Eine dem Bürgen günstige
Änderung dieser Rechtsprechung setzte für die Öffentlichkeit erkennbar
erst nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes vom 19. Oktober 1993
(BVerfGE 89, 214) ein (vgl. zu den Einzelheiten der Rechtsentwicklung
Fischer/Ganter/Kirchhof, Schutz des Bürgen, in: 50 Jahre BGH, Festschrift
aus Anlaß des 50-jährigen Bestehens von Bundesgerichtshof,
Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, S. 33
ff), der das erwähnte Urteil des Bundesgerichtshofes vom 16. März 1989 (aaO)
aufhob, welches der Bürgschaftsklage gegen die finanziell kraß
überforderte Tochter des Hauptschuldners stattgegeben hatte.
2. Nach Auffassung des Berufungsgerichtes - sein Urteil ist in ZIP 1999,
1707 veröffentlicht - kann die Klägerin sich gleichwohl nicht nach § 79
Abs. 2 Satz 3 BVerfGG i.V.m. § 767 ZPO gegen die Vollstreckung aus dem
rechtskräftigen Versäumnisurteil wenden. Das Bundesverfassungsgericht habe
nicht die in dem aufgehobenen Urteil des Bundesgerichtshofes angewandten
gesetzlichen Vorschriften für verfassungswidrig erklärt, sondern lediglich
Vorgaben dazu gemacht, welche Gesichtspunkte bei der Gesetzesauslegung im
Lichte der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie zu
berücksichtigen seien, die im konkreten Fall als nicht zutreffend
gewürdigt befunden worden seien. § 79 Abs. 2 BVerfGG treffe Anordnungen
nur für Entscheidungen, die auf einer vom Bundesverfassungsgericht für
nichtig erklärten Norm beruhen. Die Vorschrift solle ihrem Sinn und Zweck
nach nicht jedes Urteil erfassen, das eine rechtliche Würdigung enthalte,
die möglicherweise anders ausgefallen wäre, wenn die vom
Bundesverfassungsgericht später aufgestellten Richtlinien berücksichtigt
worden wären. Bei einer analogen Anwendung der Norm auf solche Fälle werde
das Institut der Rechtskraft ausgehöhlt und die Rechtssicherheit
beeinträchtigt.
3. Diese Erwägungen sind im Kern zutreffend. Der Beschluß des
Bundesverfassungsgerichtes vom 19. Oktober 1993 (aaO) enthält keine
Aussage, die die Wirkungen des § 79 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG auslöst.
a) § 79 BVerfGG bestimmt, daß unanfechtbare Entscheidungen, die auf einer
gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen - mit Ausnahme der
Strafurteile - in ihrem Bestand unberührt bleiben. Jedoch ist die
Vollstreckung aus einer solchen Entscheidung unzulässig, was in
entsprechender Anwendung des § 767 ZPO geltend gemacht werden kann (§ 79
Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG). § 79 BVerfGG bezieht sich unmittelbar nur
auf Entscheidungen im Normenkontrollverfahren, ist jedoch entsprechend
anwendbar, wenn eine Verfassungsbeschwerde Erfolg hat (§ 95 Abs. 3 Satz 2
und 3 BVerfGG).
Nach § 79 Abs. 1 BVerfGG ist die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ein
rechtskräftiges Strafurteil nicht nur im Falle einer gemäß § 78 BVerfGG
für nichtig erklärten Norm - Alternative 2 -, sondern auch dann zulässig,
wenn das Bundesverfassungsgericht lediglich die Unvereinbarkeit einer
gesetzlichen Bestimmung mit dem Grundgesetz festgestellt - Alternative 1 -
oder eine bestimmte Auslegung einer Norm für mit dem Grundgesetz
unvereinbar erklärt hat - Alternative 3 -. Die beiden zuletzt genannten
Fälle erwähnt § 79 Abs. 2 BVerfGG nicht. Die Frage, ob bei allen
Entscheidungen außerhalb von Strafurteilen die Vollstreckungssperre nur
nach Nichtigerklärung einer Norm (§ 78 BVerfGG) greift oder die Bestimmung
gleichwohl in ebenso umfassendem Sinne zu verstehen ist, die Regel des
Absatzes 2 Satz 3 sich also auf alle in § 79 Abs. 1 BVerfGG enthaltenen
Alternativen bezieht, wird in Rechtsprechung und Schrifttum
unterschiedlich beurteilt. Nach wohl überwiegender Meinung erfaßt § 79
Abs. 2 BVerfGG nur die Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten
Norm beruhen (vgl. BFHE 82, 567, 572 ff; 91, 1, 10 f; 110, 53, 58;
MünchKomm-ZPO/K. Schmidt, § 767 Rn. 70; Musielak/Lackmann, ZPO 3. Aufl. §
767 Rn. 26 Stichwort "Verfassungswidrigkeit"; Pestalozza,
Verfassungsprozeßrecht 3. Aufl. § 20 Rn. 77; Rosenberg/Gaul/Schilken,
Zwangsvollstreckungsrecht 11. Aufl., S. 623 f, 648 f; Schuschke/Walker,
Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz, Bd. I 3. Aufl. § 767 ZPO Rn.
23 f, 46; Stein/Jonas/Münzberg, ZPO 21. Aufl. § 767 Rn. 15, 24;
Wieczorek/Schütze/Salzmann, ZPO 3. Aufl. § 767 Rn. 19 Fn. 72; Hau JA 1996,
830, 832; Wissmann EWiR 1999, 741, 742). Im Gegensatz dazu wird in den
Kommentaren zum Bundesverfassungsgerichtesgesetz praktisch durchgängig die
Auffassung vertreten, die weitere Vollstreckung aus einem hoheitlichen Akt
sei gemäß § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG auch dann unzulässig, wenn das
Bundesverfassungsgericht lediglich eine Norm oder eine bestimmte Auslegung
als mit dem Grundgesetz unvereinbar bezeichnet habe (Lechner/Zuck, BVerfGG
4. Aufl. § 79 Rn. 8; Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer/Bethge/Winter,
BVerfGG § 79 Rn. 25; Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts Rn.
1192, 1198; vgl. auch Steiner, in: Bundesverfassungsgericht und
Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens des
Bundesverfassungsgerichtes, S. 628, 630 f, 647 f).
b) Diese letztere Meinung dürfte mit der aus der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes erkennbaren Tendenz übereinstimmen. Dieses hat
ausdrücklich entschieden, daß eine Norm, deren Verfassungswidrigkeit
lediglich festgestellt wird, ebenso wie im Falle der Nichtigerklärung vom
Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes an nicht mehr
angewandt werden darf. Das gemäß § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG geltende
Vollstreckungsverbot ist insoweit entsprechend anzuwenden. Die
Durchsetzung von hoheitlichen Akten, die auf einer Vorschrift beruhen,
deren Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz in allgemeinverbindlicher Weise
(§ 31 Abs. 1 BVerfGG) ausgesprochen worden ist, soll für die Zukunft
ausgeschlossen sein (BVerfGE 37, 217, 262 f; 81, 363, 384). Gilt danach §
79 Abs. 2 BVerfGG für die in Abs. 1 Alternative 1 genannten Fälle, so
liegt es nahe, die Regelung auch auf Entscheidungen anzuwenden, die eine
bestimmte Normauslegung als verfassungswidrig bezeichnen. Das wäre auch
deshalb sach- und interessegerecht, weil eine vom Bundesverfassungsgericht
vorgegebene, die bisherige Auslegung einer Norm aus verfassungsrechtlichen
Gründen ändernde Gesetzesinterpretation in ihrer Wirkung der - teilweisen
- Nichtigerklärung einer Norm wesentlich näher steht als einer bloßen
Änderung der Rechtsprechung (ebenso BGH, Urt. v. 12. Juli 1990 - XII ZR
85/89, NJW 1990, 3020, 3022). Eine solche Entscheidung ist in gleicher
Weise wie die Nichtigerklärung einer Norm gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG von
allen Gerichten zu beachten (BVerfGE 40, 88, 94; 72, 119, 121).
c) Selbst wenn man die Vorschrift des § 79 Abs. 2 BVerfGG in diesem
weiteren Sinne versteht, erfaßt die Regelung nicht die Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichtes, die Urteile oder Beschlüsse lediglich wegen
verfassungswidriger Anwendung einer Rechtsnorm aufheben. § 79 Abs. 2
BVerfGG bezieht sich in jedem Falle nur auf Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichtes, die Rechtsnormen für nichtig erklären, deren
Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz feststellen oder den Geltungsbereich
einer Vorschrift dadurch einschränken, daß sie eine bestimmte Auslegung -
die nach Wortlaut, Inhalt und Zweck an sich möglich wäre, - als
verfassungswidrig ausschließen. Der Richter hat bei Auslegung und
Anwendung aller gesetzlichen Vorschriften das verfassungsrechtliche
Wertsystem als interpretationsleitend zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 7,
198, 205 ff; 99, 185, 196). Weist die gerichtliche Entscheidung in dieser
Hinsicht erhebliche Mängel auf, handelt es sich jedoch nur um
verfassungsrechtlich bedeutsame Subsumtionsfehler, die vom
Bundesverfassungsgericht im Einzelfall korrigiert werden können. Solche
Entscheidungen lassen in der Regel den inhaltlichen Bestand der
einschlägigen Rechtsvorschriften unberührt. § 79 Abs. 2 BVerfGG setzt
demgegenüber normbezogene Erkenntnisse des Verfassungsgerichts voraus und
verbietet daher die Vollstreckung nur aus solchen Entscheidungen, die auf
einem Inhalt der Rechtsnorm beruhen, den das Bundesverfassungsgericht im
Wege der verfassungskonformen Auslegung ausgeschlossen hat
(generell-abstraktes Verständnis; zutreffend Wesser NJW 2001, 475, 477 ff;
im Ergebnis ebenso Eckardt MDR 1997, 621, 623; vgl. auch M. Graßhof NJW
1995, 3085, 3088).
d) Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes vom 19. Oktober 1993 (BVerfGE
89, 214 ff) enthält keine einschränkende verfassungskonforme Auslegung von
Rechtsnormen, die die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum
Bürgschaftsrecht zuvor angewandt hatte. Vielmehr betont die Entscheidung, daß dem Richter für die verfassungsrechtlich gebotene Inhaltskontrolle
solcher Verträge mit den zivilrechtlichen Generalklauseln in der durch die
höchstrichterliche Rechtsprechung vorgenommenen Ausgestaltung,
insbesondere den §§ 138, 242 BGB, ein Regelwerk zur Verfügung stehe, das
es ermögliche, auf strukturelle Störungen der Vertragsparität, die
geeignet sind, die verfassungsrechtlich geschützte Privatautonomie (Art. 2
Abs. 1 GG) zu verletzen, angemessen zu reagieren. Die Entscheidung liefert
demzufolge keine Vorgaben dazu, wie die Bestimmung des § 765 BGB zu
verstehen oder in welchem Sinne §§ 138, 242 BGB auszulegen sind, sondern
beanstandet, daß sich das Urteil des BGH vom 19. März 1989 (aaO) mit der
ausgeprägten Unterlegenheit der Bürgin im konkreten Fall sowie der von ihr
geltend gemachten Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfreiheit nicht bzw.
in untauglicher Weise auseinandergesetzt habe (aaO, 234 f). Die
Entscheidungsgründe des aufgehobenen Urteils hatten die Bestimmungen der
§§ 138, 242 BGB nicht einmal erwähnt und schon damit den Eindruck
hervorgerufen, die Bedeutung der Privatautonomie als Grundrecht sowie die
Notwendigkeit, die Vertragsfreiheit verfassungskonform zu praktizieren,
nicht berücksichtigt zu haben (vgl. auch Dieterich WM 2000, 11, 13). Das
Bundesverfassungsgericht hat damit ausschließlich einen
verfassungsrechtlichen Fehler allgemeiner Art bei der dem BGH im konkreten
Fall obliegenden rechtlichen Subsumtion beanstandet und darauf
hingewiesen, die Gerichte müßten in solchen Fällen klären, ob die
vertragliche Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke
sei, "und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden
Zivilrechts korrigierend eingreifen. Wie sie dabei zu verfahren haben und
zu welchem Ergebnis sie gelangen müssen, ist in erster Linie eine Frage
des einfachen Rechts, dem die Verfassung einen weiten Spielraum läßt" (BVerfGE
89, 214, 234).
Der Beschluß vom 19. Oktober 1993 (aaO) besagt mithin nichts darüber, ob
und unter welchen Voraussetzungen Bürgschaften wegen finanzieller
Überforderung des Verpflichteten als nichtig anzusehen ist. Die
entsprechenden Kriterien herauszuarbeiten, war allein Aufgabe der
Zivilgerichte. Die erforderlichen Maßstäbe wurden erst in der nach
Zurückverweisung ergangenen zweiten Revisionsentscheidung (BGH, Urt. v.
24. Februar 1994 - IX ZR 227/93, WM 1994, 680), einem am selben Tage
ergangenen weiteren Urteil (BGHZ 125, 206) sowie der nachfolgenden
Rechtsprechung erarbeitet. Dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes vom
19. Oktober 1993 fehlt damit eine normbezogene Aussage im Sinne des § 79
Abs. 2 BVerfGG.
Diese Wertung wird durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
über die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 18. Januar 1996 (IX ZR 171/95, WM 1996, 519) bestätigt. Der
Bundesgerichtshof hatte in jener Entscheidung einen Bürgschaftsvertrag als
wirksam angesehen, obwohl die Bürgin im Sinne der heute geltenden
Rechtsprechung des IX. und XI. Zivilsenats finanziell kraß überfordert war
und lediglich mittelbare Vorteile aus dem Kredit an den Ehemann erwarten
konnte. Das Bundesverfassungsgericht hat die Annahme der dagegen erhobenen
Verfassungsbeschwerde mit der Begründung abgelehnt, die angegriffene
Entscheidung habe das Problem gestörter Vertragsparität umfassend
behandelt. Da der gesicherte Kredit dem Handwerksbetrieb des Ehemannes der
Bürgen gedient habe, sei es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß
der Bundesgerichtshof sie selbst als unmittelbar interessiert an der
Verlängerung des Darlehens angesehen habe. Schließlich sei auch ein
schützenswertes Eigeninteresse des Darlehensgebers zu bejahen, weil beide
Eheleute gemeinsam in der Lage seien, nicht unerhebliche
Tilgungsleistungen zu erbringen (BVerfG, Beschl. v. 2. Mai 1996 - 1 BvR
696/96, WM 1996, 948). Diese Begründung macht besonders deutlich, daß die
heutige höchstrichterliche Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von
Bürgschaften finanziell überforderter, dem Hauptschuldner emotional eng
verbundener Personen nicht auf verfassungsgerichtlichen Vorgaben zur
Auslegung bestimmter Rechtsnormen beruht.
III.
Die Vollstreckungsabwehrklage hat auch nicht aus anderen Gründen Erfolg;
denn der Klägerin steht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt eine nach §
767 ZPO zulässige Einwendung zu.
1. Es braucht nicht erörtert zu werden, unter welchen Voraussetzungen bei
Bürgschaften finanziell überforderter Ehefrauen für Kreditschulden des
Ehemannes die Scheidung der Ehe zum Erlöschen der Haftungsverpflichtung
führen kann (vgl. dazu BGHZ 128, 230; 132, 328; 134, 325). Wie das
Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, kann dieser Einwand hier schon
deshalb nicht erhoben werden, weil sich die Klage gegen ein
rechtskräftiges Versäumnisurteil richtet und dieser Umstand vor Ablauf der
Einspruchsfrist eingetreten ist (vgl. BGH, Urt. v. 21. April 1982 - IVb ZR
696/80, NJW 1982, 1812). Als das Scheidungsurteil am 26. Oktober 1992
rechtskräftig wurde, war das Versäumnisurteil dem Prozeßbevollmächtigten
der Klägerin erst fünf Tage zuvor zugestellt worden.
2. Ein Wandel der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann zwar zu
Störungen der Vertragsgrundlage führen, die nach den Regeln des Wegfalls
der Geschäftsgrundlage zu behandeln sind (vgl. BGHZ 25, 390, 392 ff; 58,
355, 362 f; BGH, Urt. v. 26. Januar 1983 - IVb ZR 344/81, NJW 1983, 1548,
1552). Er begründet jedoch keine Einwendung im Sinne des § 767 ZPO gegen
den titulierten Anspruch (MünchKomm-ZPO/K. Schmidt, 2. Aufl. § 767 Rn. 70
m.w.N.). Eine Einschränkung der Vollstreckung kommt lediglich noch unter
den Voraussetzungen des § 826 BGB in Frage.
IV.
Die Klägerin verlangt hilfsweise Unterlassung der Vollstreckung und
Herausgabe des Titels mit der Begründung, dessen weitere Ausnutzung stelle
eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung (§ 826 BGB) dar.
1. Das Berufungsgericht hat auch diesem Begehren den Erfolg versagt. Die
Beklagte habe den Titel in einem gerichtlichen Verfahren erlangt, in dem
die anwaltlich vertretene Klägerin ihren Standpunkt umfassend habe
darlegen können. Ein Versäumnisurteil sei nur deshalb ergangen, weil die
jetzige Klägerin die ihren Prozeßkostenhilfeantrag mit ausführlicher
Begründung zurückweisende Entscheidung des Landgerichts hingenommen habe.
Die Benutzung eines in solcher Weise erlangten Urteils, dessen
Unrichtigkeit erst später erkannt worden sei, verdiene das Unwerturteil
der Sittenwidrigkeit nur in eng begrenzten Ausnahmefällen. Solche
besonderen Umstände habe die Klägerin nicht dargelegt. Der Beklagten sei
insbesondere nicht schon ein so hoher Betrag zugeflossen, daß deshalb jede
weitere Vollstreckung das Rechtsgefühl in unerträglicher Weise verletze.
2. Diese Erwägungen halten der rechtlichen Nachprüfung stand.
a) Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung hat die Rechtskraft
eines gerichtlichen Titels zurückzutreten, wenn dessen Ausnutzung unter Mißachtung der materiellen Rechtslage nach den Umständen des Falles als
vorsätzliche sittenwidrige Schädigung i.S.d. § 826 BGB anzusehen ist. Eine
solche Durchbrechung der Rechtskraft beschränkt sich jedoch auf besonders
schwerwiegende, eng begrenzte Ausnahmefälle, in denen es mit dem
Gerechtigkeitsgedanken schlechterdings unvereinbar wäre, dem
Titelgläubiger seine formelle Rechtsstellung zu belassen. Jede Erweiterung
dieses Rechtsinstituts würde die Rechtskraft aushöhlen und die
Rechtssicherheit beeinträchtigen (BGHZ 101, 380, 383; 103, 44, 46; 112,
54, 58; BGH, Urt. v. 9. Februar 1999 - VI ZR 9/98, WM 1999, 919, 920).
Deshalb müssen außer der Kenntnis des Gläubigers von der materiellen
Unrichtigkeit des Titels noch weitere Umstände hinzukommen, die die Art
der Erlangung des Titels oder die Ausnutzung der Vollstreckung betreffen
und es geboten erscheinen lassen, daß der Gläubiger die ihm nach
materiellem Recht unverdient zugefallene Rechtsposition aufgibt (BGHZ 101,
380, 385; BGH, Urt. v. 9. Februar 1999, aaO).
b) Solche besonderen Umstände hat die höchstrichterliche Rechtsprechung
bejaht, wenn der Gläubiger für die Ansprüche aus einem sittenwidrigen
Ratenkreditvertrag einen Vollstreckungsbescheid erwirkt hatte, obwohl er
hätte erkennen können, daß er bei Wahl des Klageverfahrens mit seinem
Anspruch schon deshalb gescheitert wäre, weil die gerichtliche
Schlüssigkeitsprüfung die Sittenwidrigkeit des Vertrages offenbart hätte
(vgl. BGHZ 101, 380, 387), und darüber hinaus der Schuldner damals aus
Unerfahrenheit oder Ungewandtheit den Vollstreckungsbescheid hatte
rechtskräftig werden lassen, sich also gegen den Anspruch nicht verteidigt
hatte. Hat der jetzige Kläger sich bereits rechtzeitig vor Erlaß des
Titels anwaltlich beraten und vertreten lassen, so ist in der
Vollstreckung aus dem materiell unrichtigen Titel grundsätzlich kein den
Anspruch aus § 826 BGB begründendes Verhalten zu sehen (BGH, Urt. v. 24.
September 1987 - III ZR 264/86, ZIP 1987, 1309, 1310).
Im Streitfall stand das Versäumnisurteil des LG Köln in Einklang mit der
damaligen Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes zu
Bürgschaften finanziell überforderter Personen. Die Bürgin hatte zuvor
durch einen Rechtsanwalt aus ihrer Sicht zur Sach- und Rechtslage
eingehend Stellung genommen. Ob es dem Gläubiger als besonders belastender
Umstand zuzurechnen wäre, wenn die Bürgin den Erstprozeß nur infolge der
Verweigerung von Prozeßkostenhilfe verloren hätte, kann dahingestellt
bleiben; denn entsprechende Voraussetzungen sind im Streitfall nicht
gegeben. Die Klägerin hat auch nicht behauptet, die Beklagte habe bei
Abschluß des Bürgschaftsvertrages ihre Entscheidungsfreiheit in
verwerflicher Weise beeinträchtigt oder entsprechendes Handeln eines
Dritten ausgenutzt. Solche für die Senatsurteile vom 24. Februar 1994 (BGHZ
125, 206; IX ZR 227/93, WM 1994, 680) maßgeblichen Umstände fehlen hier.
Vielmehr handelt es sich um einen Fall sogenannter einfacher krasser
Überforderung, der dem Sachverhalt vergleichbar ist, über den der Senat im
Urteil vom 18. Januar 1996 (aaO) zu Ungunsten des Bürgen entschieden hat.
Damit liegen hier unter keinem Gesichtspunkt Gründe vor, die den
Bundesgerichtshof in der Vergangenheit veranlaßt haben, der Klage gegen
einen Vollstreckungsbescheid, der Ansprüche aus einem sittenwidrigen
Rechtsgeschäft titulierte, stattzugeben.
c) Der Bundesgerichtshof hat bisher nicht abschließend entschieden, ob von
dem Erfordernis zusätzlicher besonderer Umstände in Extremfällen abgesehen
werden kann. Dies kommt allenfalls dann in Betracht, wenn die materielle
Unrichtigkeit des Titels aufgrund der Sittenwidrigkeit des Vertrages der
Parteien so eindeutig und schwerwiegend ist, daß allein schon deswegen
jede Vollstreckung das Rechtsgefühl in schlechthin unerträglicher Weise
verletzen würde (BGHZ 101, 380, 386). Daran fehlt es jedenfalls deshalb,
weil das beklagte Kreditinstitut nicht in rechtlich zu mißbilligender
Weise an einer Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit der klagenden
Bürgin mitgewirkt hat.
d) Schließlich hat die Beklagte von der Klägerin bisher auch nicht in
einem Umfang Leistungen erhalten, die es geboten erscheinen lassen, die
Vollstreckung im Hinblick auf die kontinuierlich weiterlaufenden Zinsen
einzuschränken. Die Klägerin behauptet selbst nicht, nach der letzten
Vollstreckungsmaßnahme der Beklagten aus dem Jahre 1993 Zahlungen an diese
geleistet zu haben. Daher braucht nicht erörtert zu werden, ob die
Möglichkeit der Restschuldbefreiung nach §§ 286 ff InsO zu einer
Einschränkung des Anwendungsbereichs der Klage aus § 826 BGB führen kann.
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