Arbeitnehmerhaftung:
Keine Haftungsmilderung bei grober Fahrlässigkeit, sofern kein unverhältnismäßig
großer Schaden
BAG, Urt. v. 12. 11. 1998 - 8 AZR 221/97
Fundstelle:
NJW 1999, 966 f
s. auch BAG NJW 2002, 2900 sowie
BAG NJW 2004, 2469
Amtl. Leitsätze:
1. Wer als Berufskraftfahrer wegen Nichtbeachtung
einer auf ,,Rot" geschalteten Lichtzeichenanlage einen Verkehrsunfall verursacht,
haftet in aller Regel dem Arbeitgeber wegen grob fahrlässig begangener
positiver Vertragsverletzung für den dadurch verursachten Schaden.
2. Auch bei grober Fahrlässigkeit sind
Haftungserleichterungen zugunsten des Arbeitnehmers nicht ausgeschlossen,
wenn der Verdienst des Arbeitnehmers in einem deutlichen Mißverhältnis
zum verwirklichten Schadensrisiko der Tätigkeit steht (Fortführung
von BAGE 63, 127 = NJW 1990, 468 = NZA 1990, 97 = AP Nr. 97 zu § 611
BGB Haftung des Arbeitnehmers). Liegt der zu ersetzende Schaden nicht erheblich
über einem Bruttomonatseinkommen des Arbeitnehmers, besteht zu einer
Haftungsbegrenzung keine Veranlassung.
Zum Sachverhalt:
Die Kl. fordert als Kaskoversicherung Ersatz des
vom Bekl. am Lkw seiner Arbeitgeberin verursachten Sachschadens. Der Bekl.
ist seit 1965 als Auslieferungsfahrer bei der B-KG (Arbeitgeberin) tätig.
Sein Bruttoeinkommen betrug zuletzt ca. 5370 DM monatlich. Als der Bekl.
am 5. 9. 1995 mit dem Lkw seiner Arbeitgeberin eine innerstädtische
Straße befuhr, wurde er von einem Angestellten der Arbeitgeberin
über das in diesem Kraftfahrzeug installierte Mobilfunktelefon angerufen.
Der Bekl. nahm das Gespräch an und blätterte in Unterlagen, die
auf dem Beifahrersitz lagen. Deshalb übersah er den Wechsel einer
Lichtzeichenanlage von ,,Grün" auf "Rot". Der Lkw stieß im Kreuzungsbereich
mit einem anderen Kraftfahrzeug zusammen. Die Kl., bei der das Fahrzeug
kaskoversichert war, ersetzte der Arbeitgeberin nach Abzug einer Selbstbeteiligung
von 1000 DM die Reparaturkosten in Höhe von 6705,50 DM. Sie fordert
vom Bekl. aus übergegangenem Recht der Arbeitgeberin Erstattung dieses
Betrags. Sie bat geltend gemacht, der Bekl. habe grob fahrlässig i.
5. von § 15 II AKB gehandelt. Die Kl. hat beantragt, den Bekl. zu
verurteilen, an die Kl. 6705,50 DM nebst Zinsen zu zahlen. Das ArbG hat
der Klage stattgegeben. Das LAG hat das Urteil des ArbG abgeändert
und die Klage abgewiesen. Mit der durch das LAG zugelassenen Revision begehrt
die Kl. die Wiederherstellun des erstinstanzlichen Urteils. Die Revision
hatte Erfolg.
Aus den Gründen:
Das LAG hat das der Klage stattgebende Urteil des
ArbG zu Unrecht abgeändert. Der Bekl. schuldet der Kl. 6705,50 DM
nebst 4% Verzugszinsen wegen des von ihm grob fahrlässig verursachten
Schadens am Lkw seiner Arbeitgeberin. Dieser aus einer positiven Vertragsverletzung
des Bekl. folgende Anspruch ist gem. § 67 II VVG, § 15 II AKB
auf die Kl. übergegangen.
I. Der Bekl. hat den Versicherungsfall grob fahrlässig
herbeigeführt.
1. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr
erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich
hohem Maße verletzt und unbeachtet läßt, was im gegebenen
Fall jedem hätte einleuchten müssen (BGH, NJW 1997, 1012 [1013
zu II 2c]). Im Gegensatz zum rein objektiven Maßstab bei einfacher
Fahrlässigkeit sind bei grober Fahrlässigkeit auch subjektive
Umstände zu berücksichtigen. Es kommt also nicht nur darauf an,
was von einem durchschnittlichen Anforderungen entsprechenden Angehörigen
des jeweiligen Verkehrskreises in der jeweiligen Situation erwartet werden
konnte, wozu auch gehört, ob die Gefahr erkennbar und der Erfolg vorhersehbar
und vermeidbar war, sondern auch darauf, ob der Schädigende nach seinen
individuellen Fähigkeiten die objektiv gebotene Sorgfalt erkennen
und erbringen konnte.
2. Der Bekl. hat den Schaden durch einen objektiv
wie subjektiv schwerwiegenden Pflichtenverstoß verursacht.
a) Das Mißachten der auf "Rot" geschalteten
Lichtzeichen-anlage ist in aller Regel als objektiv grob fahrlässig
zu werten. Es ist regelmäßig mit hohen Gefahren verbunden. Deshalb
sind bei dem Heranfahren an eine Kreuzung besonders hohe Anforderungen
an den Verkehrsteilnehmer zu stellen. Von einem durchschnittlich sorgfältigen
Kraftfahrer kann und muß verlangt werden, daß er an die Kreuzung
jedenfalls mit einem Mindestmaß an Konzentration heranfährt,
das es ihm ermöglicht, die Verkehrssignalanlage wahrzunehmen und zu
beachten. Er darf sich nicht von weniger wichtigen Vorgängen und Eindrücken
ablenken lassen (BGHZ 119, 147 [151 zu 3a] = NJW 1992, 2418 = LM H. 2/1993
§ 61 VVG Nr. 39).
b) Selbst wenn der Sorgfaltsmaßstab, den
der Bekl. zu beachten hatte, an den Risiken gemessen wird, die die Arbeitgeberin
durch den Einbau des Mobilfunktelefons in Kauf genommen hat, kann damit
eine grobe Fahrlässigkeit des Bekl. nicht ausgeschlossen werden. Der
Einbau des Telefons in den Lkw konnte sich auf die durch den Bekl. anzulegende
Sorgfaltspflicht allenfalls dahin auswirken, daß in der Annahme eines
Telefonanrufs allein kein grober Pflichtenverstoß hätte gesehen
werden können. Die für den Eintritt des Schadens ursächliche
Pflichtverletzung lag aber gerade nicht in der Nutzung des Mobilfunktelefons,
sondern darin, daß der Bekl. bei ,,Rot" in den Kreuzungsbereich einfuhr,
weil er auf dem Beifahrersitz liegende Unterlagen studierte, anstatt sich
auf den Straßenverkehr zu konzentrieren.
c) Richtig ist, daß für den Begriff
der groben Fahrlässigkeit nicht ein ausschließlich objektiver,
nur auf die Verhaltensanforderungen im Verkehr abstellender Maßstab
gilt. Vielmehr sind auch Umstände zu berücksichtigen, die die
subjektive, personale Seite der Verantwortlichkeit betreffen. Jedoch kann
von dem äußeren Geschehensablauf und vom Ausmaß des objektiven
Pflichtenverstoßes auf innere Vorgänge und deren gesteigerte
Vorwerfbarkeit geschlossen werden. Subjektive Besonderheiten können
im Einzelfall im Sinne einer Entlastung von dem schweren Vorwurf der groben
Fahrlässigkeit ins Gewicht fallen (BGHZ 119, 147 = NJW 1992, 2418
= LM H. 2/1 993 § 61 VVG Nr. 39 [zu 3 a, b]). Grobe Fahrlässigkeit
kann aber gerade nicht deshalb verneint werden, weil der Handelnde nur
für einen Augenblick versagte, wenn die objektiven Merkmale der groben
Fahrlässigkeit gegeben sind. Vielmehr müssen weitere, in der
Person des Handelnden liegende besondere Umstände hinzukommen, die
den Grund des momentanen Versagens erkennen und in einem milderen Licht
erscheinen lassen (BGHZ 119, 147 = NJW 1992, 2418 =LMH. 2/1993 § 61
VVG Nr. 39 [zu 3a]).
d) In der Person des Bekl. sind Gründe, die
angesichts der besonderen Gefährlichkeit seiner Handlung geeignet
wären, den Schuldvorwurf unter den Verschuldensgrad der groben Fahrlässigkeit
zu mindern, nicht ersichtlich. Insbesondere ist der Anruf eines Kollegen
insoweit nicht ausreichend. Der Anrufer konnte nicht wissen, ob der Bekl.
im Moment des Anrufs den Lkw führte. Es wäre deshalb Angelegenheit
des Bekl. gewesen, den Anrufer hierauf hinzuweisen und in den Unterlagen‘
erst zu blättern, nachdem er den Lkw angehalten hatte. Für die
Einhaltung seiner Pflichten als Verkehrsteilnehmer war der Bekl. allein
verantwortlich.
II. Der Bekl. haftet für den entstandenen
Schaden voll. Weder eine unmittelbare noch eine entsprechende Anwendung
des § 254 BGB führen zu einer Haftungserleichterung. Gemäß
§ 254 1 BGB sind die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang
des Ersatzes insbesondere davon abhängig, inwieweit der Schaden vorwiegend
vom Schädiger oder vom Geschädigten verursacht worden ist. Die
Frage des mitwirkenden Verschuldens muß von Amts wegen auch noch
in der Revisionsinstanz geprüft werden (BAG, NJW 1998, 2923 = NZA
1998, 1051 =AP Nr. 8 zu § 254 BGB [zull 1]).
1. Der Arbeitgeberin fällt kein Mitverschulden
zur Last. Weder die Installation des Mobilfunktelefons noch der Anruf des
Kollegen des Bekl. haben den Unfall im Sinne der Adäquanz mitverursacht.
Ursächlich war vielmehr der allein vom Bekl. zu vertretende Umstand,
daß er zur Seite und nicht nach vorn blickte.
2. Ein Organisationsverschulden der Arbeitgeberin,
das grundsätzlich auch in einer fehlenden Anweisung zum Um- -gang
mit eingehenden Telefonanrufen liegen könnte, hat jedenfalls nicht
zu einem der Arbeitgeberin zuzurechnenden Schadensverlauf geführt.
Die Arbeitgeberin bzw. der Arbeitskollege des Bekl. mußten nicht
damit rechnen, daß der Bekl. beim Heranfahren an eine durch Lichtzeichenanlage
geregelte Kreuzung den Verkehr nicht beobachtet, sondern in die auf dem
Beifahrersitz liegenden Unterlagen schaut.
3. Die Haftung ist nicht nach den Grundsätzen
der eingeschränkten Haftung der Arbeitnehmer gemindert.
a) Nach der Entscheidung des Großen Senats
des BAG vom 27.9.1994 (BAGE 78, 56 = NJW 1995, 210 = NZA 1994, 1083 = AP
Nr. 103 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers) finden die Grundsätze
über die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung auf alle Arbeiten
Anwendung, die durch den Betrieb veranlaßt sind und aufgrund eines
Arbeitsverhältnisses geleistet werden. Nach der ständigen Rechtsprechung
des Senats hat der Arbeitnehmer einen grob fahrlässig verursachen
Schaden des Arbeitgebers in aller Regel voll zu tragen (BAG, NJW 1998,
1810 = NZA 1998, 310 = AP Nr. 111 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers
[zu 1 4 c]). Doch sind Haftungserleichterungen auch bei grober Fahrlässigkeit
, nicht ausgeschlossen, wenn der Verdienst des Arbeitnehmers in einem deutlichen
Mißverhältnis zum verwirklichten Schadensrisiko der Tätigkeit
steht (vgl. BAGE 63, 127 = NJW 1990, 408 = NZA 1990,97 = AP Nr. 97 zu §
611 BGB Haftung des Arbeitnehmers).
b) Ein solches Mißverhältnis zwischen
Schaden und Verdienst des Bekl. besteht hier nicht. Der zu ersetzende Schaden
liegt nicht erheblich über einem Bruttomonatseinkommen des Bekl. und
damit deutlich unterhalb der Haftungsobergrenze von drei Bruttoeinkommen,
die in der Rechtsformdiskussion zur Begrenzung der Arbeitnehmerhaftung
als Höchstbetrag vorgeschlagen wird (vgl. dazu Pfeifer, Haftung des
Arbeitnehmers, AR-Blattei SD 870 Rdnrn. 24ff., 124ff.).
III. Der vom Bekl. zu ersetzende Schaden entspricht
der Höhe nach dem geltend gemachten Betrag. Der Bekl. hat seine Einwendung
zur Schadenshöhe in der Berufungsinstanz nicht weiterverfolgt. Die
Feststellungen des ArbG zu etwaigen Vorschäden hat er weder in der
Berufungsbegründung noch im weiteren Verfahren angegriffen.
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