RGZ 57, 116 ff: Grenzen der Einstandspflicht bei Gattungsschulden (Problem der "wirtschaftlichen Unmöglichkeit")


Leitsatz:

»Erfordert § 279 BGB schlechthin den Untergang der ganzen Gattung, oder reicht es nach Lage des Falles zu dessen Anwendung zu, wenn die Beschaffung von Gegenständen der fraglichen Gattung eine so schwierige geworden ist, daß sie billigerweise niemandem zugemutet werden kann?«



Urteil des II. Zivilsenats v. 23.2.1904  

Zentralproblem des Falles:

Siehe Anm. zu BGH NJW 1994, 515
Vgl. auch die Anm. zu RGZ 84, 125


Klägerin kaufte von der Beklagten am 6. Dezember 1901 6000 Zentner deutsches doppelgesiebtes entfasertes Baumwollensaatmehl, Marke "Eichenlaub", Lieferung Dezember bis Mai monatlich ca. 1000 Zentner. Sie mahnte am 31. Januar 1902 wegen der Januarlieferung und setzte Nachlieferungsfrist bis zum 12. Februar. die Beklagte machte geltend, sie sei durch eine von ihr nicht zu vertretende (kasuelle) nachfolgende Unmöglichkeit von der Lieferung befreit; die Marke "Eichenlaub" sei eine besondere Markensorte, die von der Firma B.&H. nach besonderem, ihr Geheimnis bildendem technischem Verfahren mit eigens dazu konstruierten Maschinen in der Mühle von R. zu Hamburg hergestellt und mit der ihr geschützten Marke "Eichenlaub" bezeichnet werde; sie sei nur verpflichtet und berechtigt, diese Marke zu liefern; dazu sei sie nicht imstande, weil die genannte Mühle am 30. Januar 1902 mit allen Vorräten an hergestellter Ware abgebrannt sei. Sie habe unter den gleichen Lieferungsbedingungen von M., dieser von B.& H. gekauft.
Klägerin bestritt die Unmöglichkeit der Lieferung; vertragsgemäße Ware hätte auch in einer anderen Mühle hergestellt werden und im offenen Markte bezogen werden können. Die Marke "Eichenlaub" sei nur Herkunftsbezeichnung für Ware der Firma H.& B., nicht aber Qualitätsbezeichnung für Ware einer bestimmten Produktionsstätte. Sie verlangte mit der Klage Schadensersatz wegen Nichterfüllung des Januarquantums in Höhe von 380 M.
Die Beklagte verlangte Abweisung der Klage und erhob Widerklage mit dem Antrage, festzustellen, daß sie nicht verpflichtet sei, wegen Nichtlieferung der von Februar bis Mai 1902 fällig gewesenen Raten Schadensersatz zu leisten.
Der erste Richter wies die Klage ab und erkannte nach dem Antrage der Widerklage. Das Berufungsgericht wies die Berufung der Klägerin zurück. Ihre Revision wurde zurückgewiesen aus folgenden

Gründen:

..."Der Lieferungsvertrag war ein Gattungskauf; an und für sich ist daher von § 279 BGB der Ausgang zu nehmen, wonach der Schuldner, solange die Leistung aus der Gattung möglich ist, sein Unvermögen zur Leistung auch dann zu vertreten hat, wenn ihm ein Verschulden nicht zur  Last fällt. Nach dem Vorbringen der Beklagten und Widerklägerin war indessen die Warengattung des Baumwollensaatmehls in dem Vertrage dahin beschränkt, daß nur Baumwollensaatmehl, nach besonderem - Geheimnis der Firma B.&H. bildendem - technischen Verfahren hergestellt und in dieser Herstellung mit der Marke "Eichenlaub" bezeichnet, gehandelt war. Das haben die Instanzgerichte als beweisen angenommen. Danach war die Beklagte nur berechtigt, aber auch nur verpflichtet, die danach spezialisierte Sorte Baumwollensaatmehl zu liefern. Sie war nicht verpflichtet, gleich gutes Baumwollensaatmehl anderer Herstellungsart als "Ersatzware" zu leisten.
Die Firma B.&H. hatte die gehandelte - nur von ihr hergestellte - Warensorte in der Mühle von R. zu Hamburg herstellen lassen, die, wie im Laufe des Rechtstreits klargelegt wurde, ihr gehörte. Diese Mühle brannte am 30. Januar 1902 ab. Der Berufungsrichter nahm eine von der Beklagten und Widerklägerin nicht zu vertretende Unmöglichkeit für das auf 31. Januar 1902 frühestens, am 30. Januar oder früher noch nicht abgerufene Januaraquantum und für die späteren Monatslieferungen bis einschließlich Mai 1902 und gelangte so zur Abweisung der Klage und zur Zuerkennung der Widerklage. Er erwog: durch den Brand, der an sich jedenfalls ein von der Beklagten nicht zu vertretendes kasuelles Ereignis gewesen, sei die Produktion der gehandelten Ware in der Mühle von R. bis über den Juli 1902 hinaus unmöglich geworden. B&H. seien ferner während der hier in Betracht kommenden Vertragszeit nicht in der Lage gewesen, auf einer anderen ihnen zugänglichen Mühle die gleiche Qualität, das ist Ware der gehandelten Sorte, auf Grund ihres Geheimverfahrens herstellen zu lassen.
Danach ist mit dem Berufungsrichter davon auszugehen, daß nach dem Brande vom 30. Januar 1902 die gehandelte Ware in absehbarer Weise nicht weiter hergestellt werden konnte. Dadurch allein ist indessen, da es sich nicht um einen Vertrag zwischen dem Fabrikanten und dessen Abnehmer handelt, noch nicht die Unmöglichkeit der Leistung der Gattungssache begründet. Unstreitig waren in der Nacht vor dem Brande noch 2000 Zentner Baumwollensaatmehl der hier gehandelten Sorte elbaufwärts verladen worden; diese waren nach dem Brande jedenfalls noch vorhanden. Die Mühle von R. war ferner ein Unternehmen mit derart großer Produktion, daß, wenn auch bei der Art der gehandelten Ware ein baldiger Verbrauch in dritter Hand naheliegt, auch im übrigen ein Untergang der ganzen Gattung für die Zeit nach dem Brande nicht angenommen werden kann. Aber auch § 279 BGB darf nicht dahin ausgelegt werden, daß nur der Untergang der ganzen Gattung den Schuldner befreie, im übrigen aber dieser schlechthin und allein die Gefahr eines solchen zufälligen Ereignisses zu vertreten habe. Vielmehr ist im Sinne des § 279 a.a.O. die Leistung aus der Gattung nicht bloß dann unmöglich, wenn die ganze Gattung untergegangen, sondern auch dann, wenn die Beschaffung von Gegenständen der fraglichen Gattung eine so schwierige geworden ist, daß sie billigerweise niemandem zugemutet werden kann. Die letztbezeichnete Einschränkung steht zwar nicht in § 279, ergibt sich aber wenigstens für einen Gattungskauf der spezialisierten Art, wie er hier vorliegt, aus § 242 BGB.
Allerdings darf dieser Einschränkung nicht eine Anwendung oder vielleicht richtiger eine Ausdehnung gegeben werden, die entgegen der Absicht des § 279 und dessen Wortlaute im Ergebnisse darauf hinausläuft, daß der Gläubiger die Gefahr solcher zufälligen Ereignisse auch beim Gattungskauf in der Regel zu tragen hätte. Die Beschaffung des Leistungsgegenstandes darf infolge eines zufälligen Ereignisses nicht bloß etwa mehr Schwierigkeiten bieten, - diese mögen in der Notwendigkeit umfassenderer Nachfrage, oder erheblich höherer Anschaffungskosten bestehen, - sondern muß mit so außergewöhnlichen Schwierigkeiten verbunden sein, daß diese Schwierigkeiten nach der Auffassung des Verkehrs der Unmöglichkeit gleichgeachtet werden. Danach wird sich in einem Falle, wie er hier vorliegt, der Verkäufer nicht darauf beschränken dürfen, auf seinem Markte nach der Ware zu fragen; er hat wohl umfassender Nachfragen auch auf anderen Märkten anzustellen und sich auch zur Zahlung höherer Preise bereit zu erklären, um die Ware etwa noch aus dritter Hand zu erhalten. Das verkennt der Berufungsrichter indessen nicht. Unter Hinweis auf die Aussagen der sachverständigen Zeugen G. und W., deren Erklärung ganz allgemein dahin ging, daß "nach ihrem besten Wissen nach dem Brande der R.'schen Mühle tatsächlich keine effektive Ware in den erforderlichen Mengen zu haben gewesen", nimmt er als bewiesen an: die Warensorte mit der Marke "Eichenlaub" war in der hier in Betracht kommenden Zeit am Markte nicht zu haben. Das Vorbringen, daß in der Nacht vor dem Brande noch 2000 Zentner nach Magdeburg verladen waren, beseitigt er mit der Erwägung, es sei wahrscheinlich, daß die Ware dorthin auf Bestellung geliefert sei und zwar zur Erfüllung bestehender Verpflichtungen gedient habe. Daran knüpft er die Erörterung, schließlich müsse die Verpflichtung der Beklagten, sich um Anschaffung der Ware zu bemühen, eine Grenze haben; es könne nicht verlangt werden, daß sie an allen deutschen und außerdeutschen Märkten Nachfrage halte.
Diese Ausführungen mögen im Ausdrucke zum Teil die erwünschte Bestimmtheit und Schärfe vermissen lassen: in der Sache sagt damit der Berufungsrichter: auf dem Markte war die Ware mit allen Anstrengungen und Opfern nicht mehr zu haben; die mehrfach erwähnten 2000 Zentner waren nach seiner Kenntnis des Handels mit dieser Ware gleichfalls schon in festen Händen; weiterhin hätten die Bemühungen, die der Schuldner für Beschaffung der Ware machen müsse, doch auch ihre Grenze; eine Nachfrage auf allen Märkten des Inlandes und Auslandes könne von ihm nicht verlangt werden. So aufgefaßt sind sie bei einer derart spezialisierten Gattung wie hier, mit der oben dargelegten rechtsgrundsätzlichen Auffassung von der Tragweite des § 279 BGB vereinbar"... 



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